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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Der Zeichner Helmut Werres, seine Klang- und Farbfeldzeichnungen

Geschichtete Stricheleien, glänzendes Schwarz und die atmende Leere

Von Petra Kammann

Helmut Werres ist vielseitig. Als Künstler ist er vor allem Maler und Zeichner. In den 2010er Jahren entwickelte er aus winzigen Gegenständen wie Wiking-Autos große flächige und farbige Gemälde. Da machte er das Kleine groß und das Große klein. Heute vermittelt er Studierenden und Gameentwicklern das genaue Hinschauen. Sein Job im Aufsichtsteam des Sinclair-Hauses in Bad Homburg garantiert ihm ein regelmäßiges Einkommen und damit auch ein Stück Freiheit in der Ausübung seiner Kunst. Wenn Helmut Werres zeichnet, ist er ganz in seinem Element und dringt mit seinen teils ambulant entstandenen Wochenbildern, Reisebildern Gelegenheitsbildern und Farbfeldzeichnungen in neue Erfahrungsräume vor.

Diese Reisezeichnung entstand während einer 14-stündigen Zugfahrt von Frankfurt nach Stockholm; Foto: Petra Kammann

Während einer 14-stündigen Zugfahrt nach Stockholm auf die Kunstmesse entstand im Rhythmus des Zuges die oben abgebildete Reisezeichung, für Werres  eine Fortsetzung von Landschaftszeichnungen, angelegt durch die sich fortschreibende Horizontale. Angefangen hat diese Art zu zeichnen um 2010 herum, als er aus familiären Gründen häufig zwischen dem Niederrhein und Frankfurt hin- und herpendeln musste. Zunächst strichelte er auf DIN A 3-Bögen, die bald aber schon zu klein wurden. Er kam auf die Idee, ein größeres Blatt (96x64cm) anzulegen, um es dann in 9 gleichgroße Teile zu falten.

Zeichnet er dabei die vorbeifliegenden Landschaften? Nein. Es geht ihm um etwas anderes. Oft hört er beim täglichen Ritus des Zeichnens Musik oder reagiert auf den Rhythmus des Zugratterns. Manchmal Jazz, manchmal Klassik oder auch den Rapper und Singersongwriter Dan mit seinen „Reflexionen aus dem beschönigten Leben“. Das variiert: „je nachdem wie ich zuwege bin“, sagt der Künstler. Das beeinflusst die Bewegung der Striche. Doch ein Prinzip steht fest: Die Auf-Zeichnung der Hinreise befindet sich jeweils auf der Vorderseite des Blattes, die Rückreise auf der Rückseite.

Zeichnen hat für Helmut Werres auch etwas Meditatives. Beim Zeichnen erlebt er die vergehende Zeit wie wenn er von Frankfurt in sein Museum nach Bad Homburg fährt, wo er sein kleines Skizzenbuch immer dabei hat und es so lange bezeichnet, bis er aussteigen muss.

Die fortschreitende Reduktion: von der gemalten zur schraffierten Landschaft, Foto:Petra Kammann

Zeichnen hat für Helmut Werres auch etwas mit Verdichtung zu tun. Wie sich Linien zu etwas zusammenballen, wie man auf Reisen zeichnen und Zeichen setzen kann, wo und wie Dichte entsteht, welche Räume es aufschließt, was Zeichnen für die Wahrnehmung, fürs Übersetzen von Gedanken in eine andere Form bedeutet, was das Zeichnen mit der Hand überhaupt, am Ende gar Unbewusstes transportiert?

Das alles beschäftigte den Künstler schon sehr früh, wenn auch nicht alles so bewusst wie heute. Porträts zu zeichnen gehört zu seinen Spezialitäten. Werres zeigt auf dem Bildschirm die ihn damals beherrschenden Vaterfiguren in ähnlicher Haltung: Bundeskanzler Konrad Adenauer, US-Präsident Dwight D. Eisenhower und der Künstler-Großvater Karl Köster.  

Auf dem Bildschirm zeigt Werres eine Generation von prägenden Vatergestalten, die er festgehalten hat: Adenauer, Eisenhower und den Künstler-Großvater;  Foto: Petra Kammann

Als er zunächst das Studium der freien Kunst an der Düsseldorfer Akademie aufnahm, dozierte dort u.a. noch Joseph Beuys. Das irritierte den damals introvertierten Studenten. Er hatte im Alter von fünf bereits seine Mutter verloren und bezeichnet sich rückblickend auf diese Lebensphase selbst als „soziophob“. Ihm stand damals nicht der Sinn nach einer großen lärmenden Studentenschar, er hatte vor allem den Wunsch, nach der Natur zu zeichnen und sich darin zu vervollkommnen. Die Schuhe seines Großvaters Karl Köster, dem Landschaftsmaler und Buchgestalter der legendären „Blauen Bücher“, waren halt groß. Da stellte er sich bescheiden erst einmal hinten an.

Werres entschied sich für eine Ausbildung an der Düsseldorfer Akademie für die Klasse von Prof. Fritz Schwegler, der ihm den Satz mit auf den Weg gab: „Sei nicht anekdotisch!“ Doch Werres hatte Geschichten zu erzählen und wechselte schon bald zum fast altmeisterlich arbeitenden Prof. Malte Sartorius an die Hochschule für Bildende Kunst nach Braunschweig, die stärker handwerklich orientiert war und wo er sich erst einmal besser entfalten konnte.

Dieses Leporello zeigt die Szene aus Thomas Manns „Doktor Faustus“ zwischen Adrian Leverkühn und dem teuflischen „Versucher“

Denn Werres ist ein sehr genauer Beobachter der Realität, versucht, ihr auf die Spur zu kommen und setzt doch nicht auf Naturalismus. Wie andere künstlerisch Begabte in seiner Umgebung im niederrheinischen Dorf bei Nettetal, wo er aufwuchs, war deren Idol damals eher der Hamburger Zeichenkünstler Horst Janssen und nicht die damals heißdiskutierte „soziale Plastik“. Außerdem ist Werres‘ Vorliebe fürs Zeichnen eng mit den anderen Künsten, mit der Dichtung und mit der Musik, verbunden. Bei ihm ballen sich schwarze Farbfelder aus subtilen Schraffuren zusammen und geben üppigen Raum an anderer Stelle frei.

Thomas Mann-Porträt in der von Werres illustrierten Sonderausgabe „Der Tod in Venedig“, Foto: Petra Kammann

Werres ist Realist und Romantiker in einem mit seiner Vorliebe für volkstümliche Eulenspiegeleien und Unheimliches, mit seiner Schwäche für Schriftsteller wie E.T.A. Hoffmann oder vor allem Thomas Mann, dessen „Doktor Faustus“ er per Hand abgeschrieben und illustriert hat. Auch kommt in seinen „inneren Monologen“ oder in den „Wochenbildern“ sein Faible für Traumdeutungen zum Ausdruck. Alles, was wir wahrnehmen, ist janusköpfig angelegt. Es gibt eine A-Seite und eine B-Seite. Tiefgründig und leicht zugleich etwas zu gestalten, gehört zu seinen Grundüberzeugungen.

Im Atelier: die Farbfeldzeichnungen mit Komplementärfarben beidseitig gezeichnet; Foto: Petra Kammann

Die Rahmen, die Werres sich für seine Schaffensprozesse steckt, sind jeweils präzise begrenzt, sowohl zeitlich, was die Entstehungszeit betrifft, als auch räumlich. Das kann eine zeitlich begrenzte Bahnfahrt oder eine Woche sein oder das neunmal gefaltete hauchfeine Japanpapier. Wenn er zeichnet, experimentiert er mehr, als wenn er malt.

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Seine Farbfeldzeichnungen bestehen darin, dass er auf jeder Seite jeweils in ein Neuntelfeld zwei Komplementärfarben übereinander strichelt, z.B. Rot und Grün. In der ersten Version wird Rot über Grün auf beiden Seiten des Blattes gezeichnet, bei der zweiten Version ist es auf der einen Seite Rot und auf der anderen Seite Grün. In der dritten Variante treffen sich die beiden Farben dann in der Mitte. Noch weiß Werres nicht, welche Farbigkeit zum Schluss dabei herauskommt. Als Grundlage benutzt er das 9 g feine Washi-Papier, welches die gestaltete Rückseite durchscheinen lässt und am Ende die Überlappung den Farbwert bestimmt.

Die Farbfeldzeichungen: luftig, leicht und transparent hintereinander in der Eulengasse gehängt, Foto: Petra Kammann

Bei der Awagami Factory in Japan hatte er sogar noch feineres 3 g-Papier bestellt, das die Transparenz eines Libellenflügels hat. Dabei wird vor allem das handgeschöpfte, kostbar durchscheinende Japan-Papier hauptsächlich wegen seiner Reißfestigkeit für langlebige Restaurierungen wertvoller Handschriften benutzt, da es wie ein unsichtbares Pflaster wirkt. Auch Werres geht vorsichtig und einfühlsam an die Sache heran, dreht den ebenso feinen Gel-Tinten-Stift immer wieder um und wischt die Rückstände von der Kugel ab, damit sie nicht hängen bleiben oder gar Löcher ins Papier bohren.

Petra Kammann und Helmut Werres beim Gespräch in der Galerie Eulengasse, im Hintergrund ein kleines Öl-Gemälde von Helmut Werres aus den „Wochenbildern“; Bildschirmfoto. Das Gespräch wurde von Vládmir Combre de Sena aufgezeichnet und ist nachzuhören und zu sehen unter:

https://youtu.be/cQnVXiGHIPw

Früher habe er abgelehnt, dass Kunst etwas mit Forschung oder Erforschung zu tun habe. Heute weiß er, dass diese Annahme falsch ist. Nicht zuletzt hat er diese Erfahrung auch mit seinen Studierenden in Darmstadt gemacht. Er lehrt nämlich nicht etwa an einer Kunsthochschule, was man sich durchaus vorstellen könnte, sondern bei Games-Entwicklern, bei Studierenden, die den lieben langen Tag vor dem Computer oder vor ihrem Handy sitzen und virtuelle Welten ausprobieren. Ihnen bringt er das analoge Zeichnen und Abzeichnen bei, eine für sie ungewohnte Erfahrung, die auf räumliche Grenzen und analoges Denken setzt. Dabei lehrt er sie zu sehen und richtig hinzuschauen.

Werres selbst ist inzwischen jedoch selbst fasziniert von den Möglichkeiten der Extended Reality. So hat ihn bei seiner Museumsaufsicht im Sinclair-Haus in Bad Homburg der französische Lichtkünstler Joanie Lemercier begeistert, der mit seiner 3D-Videoprojektion die Formation eines Gebirges hyperreal dargestellt hat. Besonders faszinierend aber fand Werres das Geräusch/die Musik  des Plotters, der pro Tag ein DinA2 – Blatt ausdruckte, Blätter, die an der Rückwand wie ein Puzzle zu einer großen Landschaftszeichnung zusammengefügt wurden.

Das animierte ihn zu eigenen Zeichnungen. Ähnlich wie die in Bad Homburg dort unter dem Titel „Zweiheit“ ausgestellten Arbeiten der niederländischen Künstlerin Juul Kraijer, deren janusköpfige Frauenporträts ihn zu eigenen weiteren Porträts inspirierten.

Jean Paul als Johannes der Täufer, 2019, Tintenstift auf Papier

Das Spiel von Helligkeit und Dunkelheit, das Clair-Obscur bestimmen das Werk von Helmut Werres in vielfacher Hinsicht. Auch „dass ich eins und doppelt bin“, wie es Johann W. Goethe in seinem berühmten „Gingko Biloba“-Gedicht aus dem West-Östlichen Divan so treffend formulierte.

Die Dichte der schwarzen Striche wiederum erinnert den Künstler an ein anderes Faszinosum, an das „schwarze Loch“ im Weltraum, wo die Materie in sich selbst zusammengefallen ist, verschwindet und gleichzeitig immer mehr Materie ansaugt, ein Punkt, der eine starke Gravitation erzeugt, an dem die Raumzeit nicht mehr definiert ist, dafür aber die größtmögliche Menge an Energie gespeichert wird.

Innensicht: Eine der zarten noch nicht vollendeten Farbfeldzeichnungen weht im Schaufenster der Galerie Eulengasse; Foto: Helmut Werres 

„Sprachlos und kalt, im Winde/Klirren die Fahnen“, heißt es in der „Hälfte des Lebens“ bei Friedrich Hölderlin, der eine Weile in Bad Homburg im Sinclair-Haus zugebracht hat. Bei den doppelseitig be-zeichneten Fahnen von Werres bringt ein leichter Hauch Bewegung in das Arrangement der farblich reizvollen Palimpseste, deren Summe das volle Spektrum der weißen Lichtquelle ergibt.

Im Prozess des Zeichnens erlebt man das Hervortreten  und wieder Verschwinden von Farben und Formen, damit wir uns nur ja nicht mit unseren festen An-Sichten allzu sicher fühlen, wenngleich man die Bodenhaftung des Künstlers erlebt, der die Formate nicht sprengt, aber neue weite Himmel des Raums mit ziehenden Wolken eröffnet, wie man sie bisweilen in dieser flachen Landschaft des Niederrheins erleben kann, über die sich bisweilen geradezu poetisch der Nebel legt und wieder hebt.

Außensicht: Hereinspaziert in die Galerie Eulengasse und dem Künstler über die Schulter geschaut!; Foto: Petra Kammann

Im Ausstellungsraum Eulengasse saß Helmut Werres eine Woche lang während des Kunst Lock-Ins vor dem Schaufenster bei weit geöffneter Galerietür und zeichnete Tag für Tag, für ihn eine Selbstverständlichkeit, die er souverän beherrscht. Wie das Publikum reagierte? Da sei zum Beispiel ein interessiertes Ehepaar hereingekommen und habe von der Gestaltung seines neuen Hauses nach den Prinzipien der Bauhaus-Ästhetik erzählt, bei dem die Komplementärfarben eben auch eine große Rolle spielten. Auch diese Perspektive kann anregend sein. Andere lassen einfach wortlos die Ruhe des meditativen Zeichenvorgangs auf sich wirken. Die Reaktionen auf kreative Prozesse sind eben verschieden, wenn sie etwas taugen.

Der Künstler mit dem Porträt von E.T.A, Hoffmann, Foto: Petra Kammann

Zusatzinfos:

 Helmut Werres 

– 1953 in Nettetal/Ndrh. geboren
– 1974 Studium der freien Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf
– 1976 Wechsel zur Staatl. Hochschule für Bildende Kunst Braunschweig
– 1979 Wilke-Preis der Stadt Braunschweig
– 1980 Meisterschüler bei Prof. Malte Sartorius
– 1991 Preis der Darmstädter Sezession für Zeichnung, Mitglied der Sezession
– 2010 Preis der Galerie Viktoria B., Bonn
– lebt und arbeitet in Frankfurt a.M.

EULENGASSE Live-Kanal | Kunst Lock-In von April bis August,  28.06.2021 – 04.07.2021
Die faltbaren Zeichnungen
Papier wird zum unkonventionellen Träger motivischer Konzentrate

Helmut Werres zeichnete online am Sonntag, 02.07. > 15 h

Ausstellungsraum:

EULENGASSE. Verein zur Förderung zeitgenössischer Kunst und Kultur e.V.
Seckbacher Landstr. 16, 60389 Frankfurt

Öffnungszeiten:

Do 17-21 Uhr · Fr 15-18 Uhr · So 15-19 Uhr

Verkehrsverbindungen: U 4 Seckbacher Landstraße, Bus 38, Bus 43

www.eulengasse.de

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