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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Berliner Sommertheater – live

Von Simone Hamm

Endlich wieder Theater! In Berlin gab es in den letzten Wochen vor der stark verkürzten Sommerpause (die Schaubühne spielt sogar in den Sommerferien durch) beeindruckende Premieren. 

Virginie Despentes 

bei Kiepenheuer & Witsch

erschienener Roman

„Vernon Subutex 1“   

wird an der Berliner Schaubühne

gespielt

 

 

 

„Das Leben des “Vernon Subutex 1 

Virginie Despentes hat mit „Das Leben des Vernon Subutex 1“ einen Weltbestseller geschrieben. Es ist Geschichte des Schallplattenhändlers Vernon Subutex, der erst sein Geschäft, dann seine Wohnung verliert, der sich eine Weile noch über Wasser halten kann, dann bei diversen Freunden Unterschlupf findet, bevor er auf der Straße landet. Hier ist der Obdachlose keiner, der ein prekäres Leben gelebt hat, sondern ein gebildeter Mann aus dem Künstlermilieu.

An der Berliner Schaubühne ist Joachim Meyerhoff Vernon Subutex, mit schulterlangem, fettigem Haar, einer Brille mit großen Gläsern, schlaksig im schmuddeligen Parka. Ein unauffälliger Mann, ein leiser Verlierer mit Bierdose in der Hand.

Schon im Oktober vergangenes Jahres sollte „Subutex“ aufgeführt werden. Und jetzt, da die Theater wieder geöffnet haben, wird es zweifellos glückliche Schauspieler, aber auch unendlich viele Pandemie-Verlierer geben. Regisseur Thomas Ostereier verzichtet klug auf irgendwelche Anspielungen auf die gegenwärtige Zeit.

Auf der Suche nach einem Platz zum Schlafen, trifft Vernon Subutex andere aus seiner Blase, einstige Freunde. Aber was ist aus ihnen, was ist aus der linksliberalen Bohème geworden?: Der zugekokste Superkapitalist (Bastian Reiber) würde im Supermarkt am liebsten zum Maschinengewehr greifen. Sein Hass auf die Armen an den Tischen mit den Sonderangeboten ist grenzenlos. Der Drehbuchautor (Holger Bülow) ist erfolglos wie Subutex, ein Zyniker, der vom Geld seiner Frau lebt, Subutex putzige Ex-Geliebte weiß, dass sie von ihm ausgenutzt wird und lässt es dennoch geschehen. Die ehemalige Punkerin, Bassistin in einer Band, heute festangestellt im Staatsdienst (Julia Schubert), klagt, dass sie immer nur Geliebte war, nie Ehefrau, nie Mutter. Nur der früher so unglücklichen Musikerin (Henri Maximilian Jakobs) scheint es etwas besser zu gehen, sie ist jetzt ein Transmann. Die einstige Pornoqueen Pamela Kant (Ruth Rosenfeld) will zwecks Aufklärung einen Porno für Kinder drehen. Ihre Tochter Aicha (Helvin Tikes) verachtet all diese kaputten Gestalten und wird aus Wut über ihre Mutter zur gläubigen Islamistin.

Im Roman sind all diese Geschichten kunstvoll miteinander verwoben, auf der Bühne lässt der Regisseur einen nach dem anderen auftreten und seine Geschichte erzählen. Dass all diese Mongole nicht ermüden, ist zum einen dem großartigen, zurückhaltend spielenden Joachim Meyerhoff zu verdanken. Aus seinem sanften Blickwinkel, seiner ruhigen, ziemlich wertfreien Bobachtung betrachtet der Zuschauer das Geschehen auf der Bühne.

Joachim Meyerhoff hat in seinen autobiografischen Romanen Verluste wie den Tod des Bruders verarbeitet. Vor zwei Jahren, mit 51 Jahren, hat er einen Schlaganfall erlitten. In einem Interview sagte er einmal, er wisse, was es heißt, in so einer Gesellschaft in eine schwache Position zu geraten. Über seine Krankheit hat er in dem Roman „Hamster hintrem Stromgebiet“ (KiWi) geschrieben. Und so wenig larmoyant er als Autor ist, so selbstkritisch und selbstironisch, so wenig selbstmitleidig spielt er auch den Vernon Subutex. Manchmal scheint Subutex sich selbst über seinen Absturz zu wundern. Am Ende kniet er auf einem Stück Pappe und hält die Hand auf.

Er ist irre geworden. Er ist Wolke und Krankenschwester, Baum und junge Geigenvirtuosin, ein Flüchtling, der den Stacheldraht eines Lagers überwunden hat. Er ist ein Kälbchen, das zur Schlachtbank geführt wird, eine alte Hure, ein junger Crackraucher. Und alles nimmt man ihm ab.

Verve und Spitzigkeit gibt dem Abend zum anderen auch die Indie-Post-Punk-Band mit den Musikern Thomas Witte, Taylor Savvy und Henri Maximilian Jakobs, die auf der Bühne Songs von den Dead Kennedy, Sonic Youth, den Dixies und anderen spielen. Ruth Rosenfeld, die in der Rolle der Pornodarstellerin eine blonde Perücke trägt, wird hier zur coolen Sängerin, der sanfte Transmann Daniel zupft die Saiten.

Ein Konzert, eine Theaterstück – was der Abend nun letztendlich war, das bleibt jedem einzelnen Zuschauer überlassen. Aber Spaß hat es gemacht, dem einfach großartigen Ensemble der Schaubühne wieder zuschauen zu können.


Regie: Stephan Herheim, Musikalische Leitung: Donald Runnicles, Foto: Bernd Uhlig@Deutsche Oper Berlin

„Rheingold“ an der Deutschen Oper Berlin

Graubraungekleidete Menschen schlurfen über die Bühne, auf der nichts als ein Konzertflügel steht. Angeführt werden sie von Wotan. Sie tragen alte, schwere Koffer. Wotan drückt eine Taste nieder und das berühmte tiefe Es aus „Rheingold“ erklingt an der Deutschen Oper Berlin. Mit diesem Elendsbild der Geflüchteten bebildert der norwegische Regisseur Stefan Hernheim Richard Wagners Vorspiel zu „Rheingold“, fein und romantisch intoniert von Sir Donald Runnicles, Generalmusikdirektor der Deutschen Oper. Der Gegensatz zwischen dem, was auf der Bühne zu sehen und dem, was zu hören ist, könnte nicht größer sein und setzt somit hohe Erwartungen.

Die Statisten, die die Flüchtlinge geben, werfen die Kleider ab, feiern in weißen Unterhosen aus Feinripp oder Seide eine Orgie. Dazu angeregt haben sie die lüsternen Rheintöchter, die einen sagenhaften Schatz am Flussgrund hüten: das Rheingold. Nur der Zwerg Alberich, geschminkt wie eine Mischung aus Clown und Joker, bleibt außen vor.  Alle anderen räkeln sich vor einem langen, wehenden, riesigen Tuch. Der verletzte und zurückgewiesene Alberich schwört der Liebe ab. Nur wenn er auf die Liebe verzichtet, kann er einen Ring aus dem Rheingold schmieden, der ihm unendliche Macht verleiht.

Er raubt das Rheingold, lässt den Ring schmieden, unterjocht das Volk der Nibelungen und seinen Bruder, den Schmied Mime. Aus den Flüchtlingen ist ein Heer in dunkelblauen Uniformen geworden, die  marschieren und den Arm zum Hitlergruß heben. In ihren Koffern befinden sich nämlich keine geretteten Habseligkeiten, sondern das Rheingold.

Regisseur Hernheim schafft eine Mischung aus Jahrmarktsspektakel und Kritik am Nationalsozialismus und der Beutekunst, aus Puppenspiel und Angst vor den neuen  Rechten. Hernheim lässt sogar Richard Wagner auftreten. Alberichs Bruder Mime ist der bärtige Mann mit der Feder am Barrett. Er trägt einen blauweiß gestreiften Anzug, erinnert an einen KZ-Insassen. Wagner als Opfer seiner Rezeptionsgeschichte – das ist dann doch ein bisschen dick aufgetragen. Die Götter kommen aus dem Rauch, der den Flügel umgibt, auf die Bühne und verschwinden da auch wieder.

Markus Brück singt den Alberich in allen Facetten, verliebt, verzweifelt, bösartig, ängstlich. Er zeigt die ganze Komplexität, die in dieser Figur angelegt ist. Annika Schlicht gibt eine – selbst in ihrer Eifersucht – sehr selbstbewusste Fricka. Thomas Blondelle als Feuergott Loge ist einfach großartig, sicher, überragend. Klar und rein und unverbraucht klingen die drei Rheintöchter Valeriia Savinskaia, Irene Roberts, Karis Tucker. Andrew Harris ist ein herausragender Fasolt. Musikalisch überzeugte der Abend auf ganzer Ebene.

In Stefan Hernheims Inszenierung hingegen geht es unglaublich schnell hin und her, zu schnell. Irgendetwas ist immer los auf der Bühne, es knallt und qualmt. Etliche Assoziationen klingen an, werden aber leider nicht weiter ausgeführt. Wenn das aber einmal geschieht, ist es überzeugend. Loge ist geschminkt wie Gustav Gründgens, als er den Mephisto spielte. Und genauso benimmt er sich auch. Er erschreckt die Götter, setzt ihr Haar, ihr Kleid für einen kurzen Moment in Flammen.

Von solchen Momenten hätten sich mehr gewünscht, gerade im verspielten „Rheingold“. Marschierende mit Nazigruß hingegen sollten mittlerweile bei einer Wagner Inszenierung auf dem Index stehen. Und Orgien satt sind auch viel zu oft zu sehen.

Psycho als Gastspiel am Berliner Ensemble

Mathias Brandt und der Pianist und Sänger Jens Thomas, Foto: Mathias Bothor

Keine Orgie, keine Ambossschläge, kein wildes Marschieren. Einfach zwei Männer auf einer dunklen Bühne. Ein Pianist und ein Rezitator. Noch lange nicht jeder gute Schauspieler ist auch ein guter Rezitator. Mathias Brandt ist es. Zusammen mit dem Pianisten Jens Thomas hat er vor neun Jahren Robert Blochs „Psycho“ auf die Bühne gebracht, die Vorlage für Hitchcocks Meisterwerk. Im Juni, 2021, kurz nachdem die Theater wieder geöffnet haben, führen sie „Psycho“ noch einmal am Berliner Ensemble auf.

Und wieder gelingt den beiden eine intensive szenische Lesung. Man merkt, wie ihnen die Pandemie zugesetzt hat, wie glücklich sie sind, wieder spielen zu können vor „richtigen Menschen“, wie Brandt sagt. Mathias Brandt erzählt diese gruselige Geschichte ganz ruhig („und jetzt will Mary eine schöne, heiße Dusche nehmen“) und obwohl den allermeisten im Publikum „Psycho“ bekannt sein dürfte und man weiß, was unter dieser Dusche geschehen wird, stellt Brandt große Spannung her.

Er ist Erzähler, aber auch der unsichere, schüchterne Norman Mailer, dessen tyrannische, diabolische Mutter und die junge Mary, die sich verfahren hat und in einem Motel im Nirgendwo Zuflucht sucht. Er spricht die Dialoge mit verschiedenen Stimmen. Er liest zurückhaltend, dann wieder wütend. Oder er begleitet Jens Thomas Gesang mit tiefem Bass. Manchmal lächelt er in sich hinein. Es gelingt ihm, ganz tief in die Gedankenwelt des psychisch kranken Norman einzutauchen.

Dazu singt Jens Thomas mit hoher Stimme, miaut wie eine Katze, wimmert wie ein Baby, zupft an den Seiten des Flügels, jammert mitleidig, klopft und kratzt, springt auf, tobt. Als Zugabe singen die beiden „Highway to Hell“ – aber so ist einem schon der ganze, großartige Abend vorgekommen.

Stephan Kimmig inszeniert Ibsens “Wildente“ am

Die Wildente von Henrik Ibsen, Regie: Stephan Kimmig, Dramaturgie: John von Düffel Auf dem Bild: Anja Schneider, Paul Grill; Foto: Arno Declair 

Neonlicht bescheint die klinisch weiße Bühne. Hinter der Schiebetür, aus der die Schauspieler treten, ist nichts als Schwärze. Alles wirkt kühl und aseptisch im Bühnenbild von Katja Haß. Die vierzehnjährige Hedvig tastet sich durch den Raum. Das gleißende Licht kann sie nicht wahrnehmen. Sie sieht kaum noch etwas. Hinter sich zieht sie in einem gläsernen Kasten die verletzte Wildente her.

Die beiden Großväter bleiben in Stephan Kimmigs Inszenierung unsichtbar, aber sie sind stets anwesend. Zwei Patriarchen. Konsul Werle, ein skrupelloser Bergwerksbesitzer und Kaufmann und Ekdal, sein Geschäftspartner. Werle wurde immer reicher und mächtiger und verstrickte sich schließlich mit Ekdal in kriminelle Machenschaften. Aber nur Ekdal wanderte ins Gefängnis und verarmte.

Werle hat Hjalmar Ekdal, dessen Sohn, stets großzügig unterstützt. Er lädt ihn zu einem Fest ein. Dort trifft Hjalmar seinen Jugendfreund wieder, den Sohn des reichen Konsuls. Aus Ibsens Gregers ist Gerdis geworden, eine Tochter. Das ist ein kluger Regieeinfall, denn so schwingt viel mehr mit. Eifersucht, weil der alte Konsul seine abgelegte Geliebte Gina mit Hjalmar verheiratet hat. Gerdis ist allein geblieben.

Gerdis ahnt, warum ihr Vater die Familie Erdal unterstützt. Nicht nur aus schlechtem Gewissen, weil sein Kompagnon ins Gefängnis musste und so dessen sozialer Abstieg begann. Ist Hedwig, die langsam erblindet, nicht die Tochter des Konsuls, der an derselben Krankheit leidet? Gerdis will ihr Wissen nicht für sich behalten. Alle sollen die Wahrheit erfahren und sich so eine bessere Zukunft erschaffen. Doch sie quält die Familie ihres alten Freundes. Dr. Rellin, der Arzt, der bei der Familie zur Untermiete wohnt, dringt darauf, die Lebenslüge zu erhalten. Zu schmerzlich wird die Wahrheit sein.

Anja Schneider ist eine hinreißende Gerdis, klar, schnörkellos, heftig, unbeirrbar in ihrem Streben nach der absoluten Wahrheit. Dieser Wahrheit muss alles andere untergeordnet werden. Peter René Lüdicke, der Arzt, ist ihr Gegenüber, mal bissig sarkastisch, dann wieder ganz pragmatisch, gutgelaunt. Er rät zur barmherzigen Lebenslüge. Linn Reusse spielt die zarte, halbblinde Tochter sehr eindrucksvoll, ihre hingebungsvolle Liebe zum Vater, der vergessen hat, ihr das versprochene Geschenk mitzubringen und der sie verstößt, nachdem er die Wahrheit über ihre Herkunft erfahren hat.

Sie zeigt als einzige Gefühle. Ihre Sprache stockt. Judith Hoffmann ist ihre Mutter Gina, die sich nicht gefragt hat, von wem sie nun schwanger war, die bitter geworden ist an der Seite eines Mannes, der hochtrabende Träume hat und nichts davon in die Realität umsetzten kann. Paul Grill in übergroßer, weißer Strickjacke gibt ein jämmerliches Bild ab. Obwohl sich da nicht viel tut auf der Bühne, die Personen so voneinander entfremdet sind, dass sie sich bisweilen nicht einmal anschauen, ist Stephan Kimmigs „Wildente“ ein aufregendes, nachdenklich stimmendes anderthalb Stunden langes Kammerspiel. Zu Recht hat er seinen großartigen Schauspielern vertraut.

Die Berliner können sich auch in den Sommermonaten auf Theateraufführungen freuen. Die Schaubühne macht keine Theaterferien im Sommer. Es wird durchgespielt. Das Deutsche Theater macht nur eine dreiwöchige Pause im Juli und gibt ansonsten Open Air Vorstellungen (z.B. „Tschick“, „Tartuffe“, „Die Pest)“ vor und hinter dem Deutschen Theater auf den eigens dafür errichteten neuen Außenspielstätten. Beim Berliner Ensemble zieht man den Spielbeginn auf den 13. August vor. Dann wird die Renovierung des neuen Hauses abgeschlossen sein.

Hat Tradition im Berliner Ensemble: „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht (Text) und Kurt Weill (Musik) unter Mitarbeit von Elisabeth Hauptmann, Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung Adam Benzwi; Foto: BE

Die Spielzeit beginnt beim Berliner Ensemble mit der Dreigroschenoper (neu inzesniert von Barry Kosky). Das hat durchaus Symbolcharakter. Denn hier wurde die Dreigroschenoper uraufgeführt. Es gibt also Etliches, auf das man sich freuen kann.

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