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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Abschiedskonzert von Andrés Orozco-Estrada in der Alten Oper

Temperamentvoll, dem Publikum nah – ein  außergewöhnlicher Konzertabend

von Renate Feyerbacher

Ich hatte Glück und ergatterte für das zweigeteilte Konzert jeweils eine Karte. Im Großen Saal der Alten Oper, der sonst fast 2500 Besucher faßt, aber derzeit nur etwa 600 aufnehmen darf – saß das Publikum verstreut, ihre Gesichter mit Masken verdeckt.

Orozco-Estrada m Sendesaal des hr; Foto: Renate Feyerbacher

Wie immer kommt Andrés Orozco-Estrada, Lebensfreude ausstrahlend, zum Pult und begrüßt begeistert das Publikum, auf das er und das Sinfonie-Orchester des Hessischen Rundfunks so lange hatte verzichten müssen.

Sieben Jahre lang war der gebürtige Kolumbianer, der in Wien zuhause ist, Chefdirigent des hr Sinfonieorchesters, dessen internationales Renommee er entscheidend gestärkt hat. Er hat publikumswirksame Formate mit entwickelt wie das Europa Open Air Konzert an der Weseler Werft, das 2019 sein Nachfolger ab 2021/ 22, der französische Dirigent Alain Altinoglu, präsentierte.

Beliebt waren die Spotlights, die Gesprächskonzerte von Orozco-Estrada in der Alten Oper. Beim letzten im März ohne Publikum, dafür aber online, widmete er sich den Ouvertüren von Felix Mendelssohn Bartholdy.

Mir war es vergönnt, den Chefdirigenten Orozco-Estrada in Pressekonferenzen, aber vor allem als Mitglied der Freunde des hr Sinfonieorchesters, zu erleben. Den Mitgliedern ist es nämlich erlaubt und hoffentlich demnächst auch wieder, zu den Proben zu kommen. Eine großartige Möglichkeit mitzubekommen, wie das Werk geformt wird. Bei Orozco-Estrada war das immer, ja immer, sehr intensiv.

Soloflötistin Clara Andrada de la Calle bedankt sich mit folgenden Worten: „Von Anfang an hat Andrés ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit geschaffen. Sein Charisma und seine positive Energie haben immer motiviert.“ Und Konzertmeister Ulrich Edelmann schrieb zum Abschied:„Andrés Orozco-Estrada ist ein Dirigent mit Esprit, der hohe Anforderungen an sich selbst und an sein Orchester stellt. Doch was ihn besonders auszeichnet, ist die unglaubliche Freude an der Musik, die er in jeder Probe und allen Konzerten zu versprühen vermag.“

Und diese Freude war auch bei seinem Abschiedskonzert, das im 1. Teil ein außergewöhnliches Programm bot, zu spüren.

Da sitzen nur Bläser, unterstützt vom Schlagzeug, auf dem Podium. Ungewöhnlich, aber die Ouvertüre für Harmoniemusik, die Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1857) mit 30 Jahren für ein großes Bläserensemble und Schlagzeug neu arrangierte, komponierte, überraschte und fesselte –  noch nie so gehört. Das Können des hr-Bläserensembles kommt voll zur Entfaltung – einmalig. Es sind 22 Musikerinnen und Musiker, die enthusiastisch musizieren. Zwei Trompeten-Stellen sind vakant, wie mir ein Trompeter – ausgeliehen vom WDR-Sinfonieorchester in Köln – später in der Straßenbahn erzählt.

Eng verbunden mit dem hr – Hilary Hahn hier bei der Probe im Sendesaal am 7.12.2016: Foto: Renate Feyerbacher

Dann kam in schöner Robe mit schwarzem Mundschutz Hilary Hahn auf die Bühne, die schon lange mit dem Orchester des Hessischen Rundfunks und auch mit Andrés Orozco-Estrada eng verbunden ist. Die derzeitige „Principal Guest” konzertierte bereits im April mit dem scheidenden Chefdirigenten in Frankfurt – aber diesmal war Publikum dabei, das sie stürmisch begrüßte. Eine geplante gemeinsame Deutschland-Tournee konnte pandemiebedingt nicht realisiert werden.

Wenig Bekanntes stand weiter auf dem Programm: das Violinkonzert op. 30 von 1963 vom argentinischen Komponisten Alberto Evaristo Ginastera (1916-1983). Er gehört zu den wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Zunächst studierte er in seiner Geburtsstadt Buenos Aires, dann zeitweise in den USA, aber seine musikalische Leidenschaft galt seiner lateinamerikanischen Heimat, die er dann allerdings verließ.

Mit einem einige minutenlangen Solo, das Hilary Hahn virtuos, technisch brillant, mühelos spielt, beginnt der 1. Satz, der das kommende musikalische Material des Werkes ausbreitet, dann setzt ohne Pause das Orchester ein. Ein dynamisches, sehr orchestral differenziertes Werk, das auch von den Orchestermusikern und ihrem Dirigenten höchste Konzentration verlangt. Eine interessante Bereicherung, überzeugend präsentiert von einer Solistin, die sich auch für Neue Musik einsetzt.

Fast nahtlos geht es weiter mit der Carmen-Fantasie für Violine und Orchester (1881) von Pablo de Sarasate (1844-1908), welche Brahms bearbeitete. Der spanische Komponist verarbeitete Motive aus der Oper Carmen von Georges Bizet, die gerade dabei war, die Bühnen zu erobern. Die Oper wie auch Sarasates Konzertfantasie, welche  technische Höchstleistung verlangt, gehören auch heute noch zu den Publikumsmagneten.

Hilary Hahn, die dreifache „Grammy“- Preisträgerin und Ehrendoktorin, bot ein musikalisches Feuerwerk.

Der 2. Konzertteil widmete sich der 1. Sinfonie c-moll op. 68, an der Johannes Brahms (1833-1897) vierzehn Jahre lang immer wieder feilte. Es hat sich gelohnt und es hat seinen Ruf als einer der bedeutendsten Sinfoniker der nachklassischen Zeit gefestigt. Vor allem gelang es ihm, aus Beethovens erdrückendem Schatten herauszutreten.

Andrés Orozco-Estrada hat sich sehr mit Brahms beschäftigt, was der Interpretation anzumerken ist, die eine wunderbare musikalische Tiefe ausstrahlte. Schade nur, dass so wenige Musikliebhaber dieses einmalige und außergewöhnliche Abschiedskonzert miterleben konnten. Am Ende standen alle auf und applaudierten und Orozco-Estrada winkte mit den roten Rosen, die ihm Intendant Manfred Krupp überreicht hatte. 

Orozco-Estrada bei seiner Einführung am 9.4.2014, Foto: Renate Feyerbacher

„Auch weil ich in verschiedenen Teilen der Welt zu tun habe, kann ich Ihnen versichern: Dieses Orchester ist einzigartig! Vergessen Sie das nicht!“ gab der scheidende Dirigent dem Publikum mit auf den Weg.

hr-Musikchef und Orchestermanager Michael Traub überreichte ihm noch einen Schirm mit dem hr Orchester Logo. Er hatte mit ihm die Diskussionen über das Orchester, über jede Maßnahme, geführt. Ob es immer einfach war mit dem Energiebündel Andrés Orozco-Estrada? Traub bedankt sich für die „wunderbare Zusammenarbeit mit dem Menschen Andrés“. Er spricht von Freundschaft und ruft ihm zu: „[.] komm bald wieder!“

Das Benefizkonzert beziehungsweise Eröffnungskonzert des Rheingau Musik Festivals in Anwesenheit des Bundespräsidenten und des Hessischen Ministerpräsidenten findet am 26. Juni im Kloster Eberbach statt. Anlass ist die Preisverleihung zugunsten des Felix Mendelssohn Bartholdy Hochschulwettbewerbs, den das Bundespräsidialamt verleiht.

Noch einmal, ein letztes mal als Chefdirigent dirigiert Andrés Orozco-Estrada das Sinfonieorchesters des Hessischen Rundfunks am 27. Juni.

Mit der Spielzeit 2021/22 tritt er sein neues Amt als Chefdirigent der Wiener Symphoniker an.

Das Programm am 26. – 27. Juni 2021:

Felix Mendelssohn Bartholdy | Die Hebriden
Augustin Hadelich | Violine
Jean Sibelius | Violinkonzert
Andrés Orozco-Estrada | Dirigent
Felix Mendelssohn Bartholdy | 5. Sinfonie (»Reformations-Sinfonie«)

 

Sendung in hr2-kultur:

am 26.6. um 20.04 Uhr, Live-Stream:
So, 27.6. auf www.hr-sinfonieorchester.de
,
Sendung in 3SAT: Sa, 3.7. um 20.15 Uhr

 

 

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