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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Frankfurt liest Eva Demskis autobiographischen Roman „Scheintod“ und einen Teil der eigenen Geschichte

„Scheintod“ und ganz lebendig

Von Petra Kammann

Mehrfach verschoben und nun endlich vom 4. -18. Juli 2021 live: „Frankfurt liest ein Buch“ mit vielen Facetten und spannenden Orten. Das Lese-Festival feiert die Autorin Eva Demski, die in der Geschichte um ihren verstorbenen Mann, der als Anwalt das Milieu der Frankfurter Halbwelt und die Terroristenszene vertreten hat, auch der Frage von Liebe, Verrat und Verlust nachgeht. Als er mit 30 starb, lebten sie bereits getrennt. Sie denkt und schreibt sich in seine Welt ein.

Eva Demski – Die Autorin aus dem „Zweistromland“, zwischen Rhein und Donau, wurde ganz Frankfurterin, Foto: Petra Kammann

Wolfgang Schopf, der Leiter des Literaturarchivs der Frankfurter Goethe-Universität, entrollt ein riesiges Leporello mit einer Exceltabelle. Festgehalten sind darauf die insgesamt 72 Veranstaltungen des inzwischen gesettelten Festivals in 12ter Auflage in und um Frankfurt herum, darunter 30 Lesungen, 17 Vorträge und Gesprächsrunden, 4 Theater-Aufführungen, 9 Stadtrundgänge, 5 Filmvorführungen, 2 Ausstellungen und 5 musikalische Veranstaltungen – und zu guter Letzt 15 Veranstaltungen mit der Frankfurter Autorin selbst, an unterschiedlichsten Orten zwischen Bahnhofsviertel und dem Friedhof. Die Vielfalt des Programms zeigt die Anstrengung wie auch die Lesebegeisterung der Frankfurter, welche sich schon jetzt die kommende Buchmesse wieder sehnlichst herbeiwünschen, und zwar live.

Wolfgang Schopf, der Leiter des Literaturarchivs der Frankfurter Goethe-Universität, Foto: Petra Kammann

Eine gemeinsame Mammut-Anstrengung liegt hinter den Veranstaltern Lothar Ruske und der ersten Vorsitzenden Dr. Sabine Baumann von „Frankfurt liest ein Buch“. Sie mussten von den terminlichen Umorganisationen einmal abgesehen auch die Sponsoren bei Laune halten, zunächst für den verschobenen virtuellen Auftritt und nun plötzlich doch wieder für den realen an ganz unterschiedlichen Orten.

Die Vorsitzende des Kulturfonds RheinMain Karin Wolff ist begeistert, dass es nun trotz aller Schwierigkeiten im Vorfeld Juli statt April geworden ist mit freundlicheren Wetteraussichten, wo man sich noch besser auf ein Buch und auf die jeweiligen Orte in Gemeinschaft mit anderen Lesenden konzentrieren könne. In den Veranstaltungen von „Frankfurt liest ein Buch“ werde nicht nur gesellig gelesen, im erwünschten Idealfall verändere das auch alle Beteiligten, weil heftige Diskussionen auch Reibung und somit Wärme erzeugten. Da wachse man zusammen – die Leser, das eine Buch, die Stadt.

Sabine Baumann, Erste Vorsitzende von „Frankfurt liest ein Buch“ und Karin Wolff, Geschäftsführerin des Kulturfonds RheinMain

Zum Roman, der Auslöser für neue Leseorte ist: während der 12 Tage, zwischen Feststellung des Todes von Reiner Demski am Karsamstag und der Beerdigung befragt die Frau verschiedene Personen aus seinem Umfeld und denkt über ihren Mann nach. Dabei überlegt sie, inwieweit er in einen, wohl geheimen Untergrundapparat als Drahtzieher oder Mitläufer involviert sein könnte und sie erfährt neue Aspekte über seine Homo- bzw. Bisexualität. Bei der Beerdigung am 12. Tag dann präsentieren sich am Grab die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen.

Wenn Peter Ochs in seinem Feature „Die Geschichte der Roten Armee Fraktion“ aus dem Jahre 2008 mit viel Originaltonaufnahmen, in Interviews mit Zeitzeugen und in Tondokumenten aus dem Rundfunk rekapituliert, werden die „bleiernen Jahre“ des sogenannten deutschen Herbstes, der eine Folie des Romans bildet, wieder wach. Zur Klientel des Anwalts Demski nämlich zählten damals u.a. auch RAF-Mitglieder. Damit wird deutlich, dass die Detonationen von Bomben in zwei Frankfurter Kaufhäusern seinerzeit der Beginn für Terrorakte, Mord und Entführungen wurden, welche die Republik 28 Jahre lang in Atem halten sollten.

Auf der Suche nach der Schattenseite des Lebens geht es bei dem Lesefest mit dem Stadtführer Christian Setzepfandt dann auf die Spuren des Protagonisten rund um das Bahnhofsviertel „ins Milieu“, auch in schummrige Bahnhofsviertelkaschemmen. Kurzum, man geht an Orte, an denen normalerweise keine Lesungen stattfinden wie etwa in einen Keller voller Gerichtsakten und zu konspirativen Treffen mit Mitgliedern der RAF, auf den Friedhof.

Dort nämlich, vor dem Alten Portal des Hauptfriedhofs, versammeln sich in dem Roman vor der Beerdigung des brillant formulierenden Anarcho-Anwalts verbundene verschiedene Gruppierungen: Rocker, Prostituierte, Linksintellektuelle und die bürgerlichen Verwandten sowie der alte Schulfreund. Sie alle kämpfen gleichsam um den Verstorbenen, den jeder für sich vereinnahmen will. Allein die Witwe steht abseits. Diese „seltsame Veranstaltung“ wird zudem von zwei Zivilen beobachtet. „Wohin gehör ich?“ fragt die Frau und Paul, der Sozius ihres Mannes erwidert; „Zu niemandem […] Du wirst allein laufen können. Geschützt werden ist nicht deine Sache […] Er hat dich von sich befreit“.

v.l.n.r.: Organisator Lothar Ruske, Sabine Baumann, Karin Wolff und Wolfgang Schopf; Foto: Petra Kammann

Es wird bei dem Festival aus „Scheintod“ viel gelesen, verbunden mit dem Versuch, der Autorin auf die Spur zu kommen. Wie Wolfgang Schopf in seiner stilistischen Analyse des Demski’schen Textes zutreffend anmerkte, beherrscht die gestandene Journalistin, Lektorin, einstige Dramaturgieassistentin am Schauspiel Frankfurt, die noch bis 1977 bei ttt (titel, thesen, temperamente) im HR arbeitete, alle Raffinessen der Montagetechniken wie Schleifen, Schnitte, Rückblenden, um in Loops ihr großartig verknüpftes Erinnerungstableau zu erzeugen. Vorbild sei in dieser Kompositionstechnik wohl ihr großer Lehrmeister, nämlich  ihr Vater, der Bühnenbildner Rudolf Küfner, gewesen.

Ihre und die spezielle Zeitgeschichte hallt bis heute nach. Was daran wahr ist und was erfunden, darüber streiten sich die Geister. Frei nach E.A. Poe sagt Wolfgang Schopf, die Wahrheit sei oft seltsamer als alle Erfindungen. Insofern handle es sich nicht um einen Schlüsselroman, sondern um eine Annäherung an das Leben in all seiner Widersprüchlichkeit.

Prominente Frankfurter*innen wie zum Beispiel Birgitta Assheuer, Elsemarie Maletzke, Martin Mosebach, Petra Roth, Michael Quast oder Rupert von Plottnitz werden durch ihr Mitwirken mit zum Gelingen beitragen. Eva Demski selbst wird bei 15 Veranstaltungen anwesend sein.

In der Mediathek des hr ist derzeit noch die großartige Lesung von Constanze Becker nachzuhören. Und hr2-kultur wird einen gekürzten Mitschnitt der Auftaktveranstaltung zu „Frankfurt liest ein Buch“ aus dem Sendesaal des Hessischen Rundfunks vom 4. Juli machen.

Die Anmeldung ist für alle Veranstaltungen zur Teilnahme erforderlich. Termine und Teilnehmerzahl passen sich dem aktuellen Infektionsgeschehen jeweils an.

Aktuelles jeweils unter:

www.frankfurt-liest-ein-buch.de

DAS BUCH

„Scheintod“. Roman von Eva Demski
mit einem Nachwort von Wolfgang Schopf
Neuausgabe im Insel Verlag, ca. € 20,- 

Ein Anwalt wird tot in seiner Kanzlei aufgefunden. Die Umstände seines Todes sind ungeklärt. Die Polizei ermittelt: Er war Anwalt der linken Szene, zu seiner Klientel gehörten RAF-Mitglieder, Rocker, Junkies und Strichjungen. Seine Frau, die seit drei Jahren von ihm getrennt lebt, beginnt, sich noch einmal mit ihm auseinanderzusetzen: mit seiner Arbeit, seinem Leben – und ihrer Liebe. Was weiß sie eigentlich von diesem Mann, den sie einmal geliebt hat, der ihr so vertraut war?
Bald gerät die Witwe selbst ins Visier der polizeilichen Ermittlungen, wird der Mitwisserschaft an politischen Aktivitäten verdächtigt, während sie verschlüsselte Botschaften aus dem politischen Untergrund erhält. Um zu begreifen, sucht sie seine Kollegen auf, Mandanten aus der Halbwelt, Genossen und ehemalige Revolutionäre und kehrt in dunklen Spelunken ein. Immer tiefer wird sie in ein verborgenes Leben des Toten hineingezogen, der ihr gleichzeitig immer fremder wird. Das Tableau einer Liebe zu Zeiten großer politischer Unruhen.

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