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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen im Jahr der Pandemie 2021

Erst ohne Publikum, dann ohne Schauspieler und trotzdem ein großer Erfolg

von Simone Hamm

Wochenlang haben die Ruhrfestspiele digital stattgefunden. Mit Karo Itos und Yoshi Oidas bewegendem No Theater Stück „Die Seidentrommel“ über eine unmögliche Liebe eines alten Mannes (Yoshi Oida ist 87 Jahre alt), eines Bühnenarbeiters zu einer jungen Tänzerin. Oder mit dem Projekt „Arbeiterinnen“, in dem deutsche und polnische Arbeiterinnen, dargestellt von Schauspielerinnen, aus ihrem Leben erzählen. Und weil es eben Schauspielerinnen sind, die die Texte vortragen, hat das nichts Voyeuristsisch – Peinliches, sondern etwas sehr Präsentes.

Kaori Itos und Yoshi Oidas berührendes No Theater Stück „Die Seidentrommel“

Reine, hehre Schönheit und nackte Realität – das ist die große Bandbreite der Ruhrfestspiele. Die ersten fanden 1947 statt. Das Hamburger Thalia Theatere bedankt sich für Kohlelieferungen aus dem Ruhrgebet, die es ihm möglich gemacht hatten, die Räume zu heizen und so spielen zu können: Kunst für Kohle.

2021 mussten viele Aufführungen entfallen, weil die Gruppen von weither gekommen wären und niemand wusste, ob das während der Pandemie überhaupt möglich gewesen wäre.

Eine der ersten Aufführungen vor Publikum ist eine Produktion von Rimini Protokoll im Theater Marl.

Ruhrfestspiele 1949 aus dem Jubiläumsband zum 50. Jahrestag

Das präsentierte (als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen, dem HAU ,Hebbel am Ufer‘ in Berlin und dem Goethe-Institut) eine Konferenz der besonderen Art. Eine Konferenz, für die keine lange Anreise nötig ist und auch kein ZOOM meeting – denn letztere hängen uns allen zu den Ohren heraus – „Die Konferenz der Abwesenden“. Jeder der neun Referenten wird vertreten von jemandem, der vor Ort ist. Der oder die liest dessen Manuskript vor. Oder spricht einen Text, der den Vortragenden mittels Kopfhörer eingesprochen wird.

Und: eine Konferenz, scheinbar ohne Schauspieler. Auch die fehlten.

Konferenz der Anwesenden 2063 von Rimini Protokoll; Foto: Sebastian Hoppe

Zuschauer wurden gebeten, zu sprechen. Zuerst betrat eine Dame mit weißem Haar die Bühne und las die Ansprache der 37-jährigen Tamara, einer Russin aus der Mongolei, die vom Diamantenabbau erzählte. Fehlerlos. Auch die folgenden Darsteller verhaspelten sich nicht.

Das alles erschien mir fast zu perfekt, niemand verlas sich, keiner versprach sich. Die Diktion stimmte und die Betonungen auch. Es könnten (Laien)schauspieler sein, zumindest aber Leute, die die Texte kannten, bevor sie sie lasen.

So meldete ich mich, in der Annahme, ja doch nicht auf die Bühne gebeten zu werden.

Und flugs stand ich genau da und war ein 95-jähriger Jude aus Tel Aviv. Er war in Deutschland aufgewachsen. Nachdem das elterliche Schuhgeschäft in Peine von den Nazis verwüstet worden war, floh die Familie 1935 oder 1936 nach Lodz in Polen. Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen, floh er weiter in den sowjetischen Teil Polens. Und floh weiter nach Russland, als die deutschen Soldaten angriffen.

Seine Eltern hatten ihm zwei Sätze mit auf seinen Lebensweg gegeben: „Du bist Jude“ und „Du sollst leben“. Sehr bald merkte er, dass das nicht zusammenpasste. 
Die Deutschen nahmen ihn gefangen. Er gab sich als Volksdeutscher aus. Aus Salomon, genannt Sally, wurde Joseph, genannt Jupp. Alle anderen Juden, mit denen er geflohen war, wurden ermordet. Er überlebte mit seiner falschen  Identität.

Salomon Perel ist als „Hitlerjunge Salomon“ längst und die Geschichte eingegangen. Und dessen Geschichte geht  unter die Haut. Sie macht deutlich, worum es Rimini Protokoll geht. Es ist die Frage, wer wir sind, woher wir kommen, wieviele wir in uns vereinen. Es geht um Aneignung fremder Kulturen, Unterschiedlichkeit. Obwohl Sally /Jupp abwesend  ist, ist er sehr präsent.

Um Wahrheit und Lüge geht es auch in dem Beitrag eines Konferenzteilnehmers aus Mogadischu, der in Rom lebt. Er hat in seiner Heimat für den italienischen Geheimdienst gearbeitet. Er wurde verraten, wurde nach Rom gebracht. Gerade als ich dachte, dass dies doch eine sehr glatte, zu glatte Geschichte sei, wandte sich der vorgebliche Spion noch einmal ans Publikum. Ob wir die Geschichte geglaubt hätten? Er sei ausgebildet worden im Lügen.

Um verschiedene Blickwinkel auf die Realität geht es diesem Abend mit einem Physiker mit Locked In Syndrom, einer Astronautin, einer Ärztin für Therapie von Phantomschmerz, einem Aktivisten gegen die Überbevölkerung, einem Anwalt, einer Geflüchteten auf Samoa, vertreten von Theatergästen, vorbereitet oder nicht. So wird eine Menge CO2 gespart.

Zwei Stunden lang wird nur gesprochen auf der kargen Bühne. Eine Sitzecke, ein Bücherregal, Topfpflanzen, ein Rednerpult. Das war’s. Es gibt wenig Bewegung.

Darauf und auch darauf, dass hier lose Texte nebeneinander gestellt werden, muss man sich einlassen. Den Zusammenhang muss jeder selbst herstellen. Und jeder wird das anders erleben.

Interview mit Yoshi Oida; Foto: Maria Koltschin

Dennoch ist das Konzept aufgegangen. Immer wenn es zu kippen drohte, wenn zu befürchten war, dass Rimini Protokoll ins Thesenhafte abgleiten könnte, kamen die Texte vom Abstrakten auf das Konkrete zurück. Und das berührte.

Pures, reines Theater gibt es natürlich auch zu sehen im Recklinghausen Festspielhaus.

Ein opulentes Bühnenbild, ein riesiger bunter Elefant, ein Schauspieler, der einen ganzen Abend lang wie ein Irrwisch über die Bühne springt, der singt und grübelt und prahlt und lügt und dann wieder verletzlich ist, der vom Mann zum kleinen Jungen und vom kleinen Jungen zum Mann wird – das ist Lars Eidinger als Peer Gynt. Dieser Abend macht noch einmal deutlich, was wir so schmerzhaft vermisst haben in den vergangenen Monaten – Schauspiel, das an die Grenzen geht und sie sogar überschreitet, das auch den letzten müden Zuschauer aufweckt.

Lard Eidinger in Peer Gynt; Foto: Benjakon

Ein sich völlig sich verausgabender Lars Eidinger, der glücklich ist, wieder spielen zu dürfen. Und ein Publikum, dass diese Herausforderung dankbar annimmt. Dass sich gern und gut unterhalten läßt. Ich hatte das Stück im letzten Jahr für Feuilleton Frankfurt rezensiert: https://www.feuilletonfrankfurt.de/2020/11/03/kurz-vor-dem-2-lockdown-premieren-an-berliner-theatern/

Es hat nichts, aber auch gar nichts von seinem Reiz verloren. Nach der langen Zeit der Theatervideos wirkt es aufregender, frischer denn je.

 

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