Deutscher Sachbuchpreis 2021. Erster Auftritt der Nominierten im Frankfurter Literaturhaus
Was die Welt bewegt und Impulse für eine Debattenkultur
von Petra Kammann
Was verbirgt sich hinter dem Sammelbegriff Sachbuch? Auch das hat uns die Pandemie gelehrt: Sachbücher können uns Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung geben, einen Beitrag zu aktuellen Debatten leisten oder neue anstoßen. Autoren solcher Bücher standen am 1. Juni im Zentrum des Deutschen Sachbuchpreises, der erstmals am 14. Juni 2021 in Berlin verliehen wird. Fünf der acht Nominierten von 220 Einreichungen präsentierte das Literaturhaus Frankfurt mit seinen Partnern und Förderern exklusiv aus dem Lesesaal. Die Gäste auf der Literaturhausbühne waren: Asal Dardan, Jürgen Kaube, Andreas Kossert, Daniel Leese und Michael Maar, die von Journalisten und Co-Moderatoren zu ihrem ausgewählten Buch befragt wurden.
Interessante Aussichten – Exklusive Livesendung mit Debatten um die besten Sachbücher aus dem Frankfurter Literaturhaus an der Schönen Aussicht; Foto: Petra Kammann
Die Wahl dürfte nicht leicht fallen. Zum ersten Mal würdigt die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels das Sachbuch des Jahres. Bewertungskriterien für die sieben Jurorinnen und Juroren des Ersten Deutschen Sachbuchpreises waren die „Relevanz des Themas, die erzählerische Kraft des Textes, die Art der Darstellung in allgemein verständlicher Sprache sowie die Qualität der Recherche“. Das musste am ersten öffentlichen Abend auf den Prüfstand.
Nominierte und ihre Moderatoren – v.l.n.r.: Andreas Kossert, Fridtjof Küchemann (F.A.Z.), Michael Maar, Cécile Schortmann (3sat), Jürgen Kaube, Gert Scobel (3sat), Daniel Leese, David Ahlf, Alf Mentzer (beide HR), Asal Dardan; Foto: Petra Kammann
Um sich dem Schwergewicht der einzelnen und sehr unterschiedlichen Themen zu nähern, wurden die Autorin und die Autoren von Alf Mentzer und David Ahlf (beide Hessischer Rundfunk), Cécile Schortmann und Gert Scobel (beide 3sat), ebenso wie von Fridtjof Küchemann (F.A.Z.) befragt. Schade, dass die Nominierten Christoph Möllers, Mai Thi Nguyen-Kim und Heike Behrend nicht anreisen und daher leider an der Live-Veranstaltung auch nicht teilnehmen konnten! Aber wie auch immer die künftige Entscheidung ausgehen mag, allein den Antworten der sich bestens artikulierenden, differenzierenden und von den Themen durchtränkten Autoren zuzuhören, war eine reine Freude. Die sachliche Art der Auseinandersetzung setzte neue Standards für ruhiges Argumentieren.
Andreas Kossert, Autor von „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“; Foto: Petra Kammann
Nach den Monaten der „Willkommenskultur“ im Jahre 2015 wurde der gesellschaftliche Diskurs über die Flüchtlingsproblematik in Deutschland skeptischer und in der Beurteilung vielfach auch härter. Was Emigration bedeutet, was damit verbunden ist, wenn man in der Fremde ankommt und neue Wurzeln schlagen muss, davon handelt das Buch „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ (Siedler) des in München geborenen Slawisten und Osteuropa-Historikers Andreas Kossert, der am Deutschen Historischen Institut in Warschau gearbeitet hat und seit 2010 als Historiker und Autor in Berlin lebt.
Kossert betrachtet das Thema Flucht als umfassendes Thema der Menschheitsgeschichte und beginnt sein Buch mit Fallgeschichten aus der Antike und verfolgt entsprechende Geschichten bis heute. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob jemand aus Ostpreußen, Syrien oder Indien kommt. Bewusst benutzt er in seinem Buch den Begriff „Flüchtlinge“ statt „Geflüchtete“, weil in dieser Bezeichnung auch für ihn die Prise Gewalt steckt, die das immer unfreiwillige Verlassen der Heimat und des Vertrauten mit sich bringt. Auch wenn Kossert selbst keine Flucht erlebt hat, – seine Eltern waren aus Ostpreußen geflüchtet – , so wurde das Thema in der Geschichte seiner Kindheit zu seinem „persönlichen Resonanzraum“.
Gespickt ist dieses Buch mit berührenden Lebensgeschichten, mit Tagebüchern, Erinnerungen, Gedichten, Briefen, anhand derer er die Betroffenen selbst sprechen lässt, um ein anteilnehmendes Verständnis für Menschen auf der Flucht beim Leser zu erwecken und den Menschen, die schon da sind, die Angst vor dem Fremden und Unbekannten zu nehmen. Sein weit gespannter Blick auf die Geschichte stellt auf jeden Fall ein Schwergewicht für die Beurteilung eines gelungenen Sachbuchs dar, das den Rahmen der meisten Bücher, die bislang zum Thema erschienen sind, sprengt. So werden etwa die damit verbundenen Fragen und seelischen Verwundungen ebensowenig ausgespart wie die Analyse von neuen Fluchtursachen, die durch Naturkatastrophen ausgelöst werden. Aktuell und variationsreich wird ein Stück Menschheitsgeschichte beschreiben!
Asal Dardan, Autorin von „Betrachtungen einer Barbarin“; Foto: Petra Kammann
Asal Dardan nähert sich in ihren „Betrachtungen einer Barbarin“ (Hoffmann und Campe) dem Thema dieser Never Ending Story von Flucht und Emigration auf andere, auf subjektiv-objektive Weise, in Form von Essays und vor allem mit Hilfe von Fragen, die sie stellt, die sich aus dem minutiösen Beobachten des Alltagslebens und den darin erlebten Friktionen ergeben. Als Kind iranischer Eltern ist sie zwar in Deutschland aufgewachsen, dennoch von den Erfahrungen des Exils geprägt. Ihr Vater hatte unter dem Schah für den iranischen Geheimdienst gearbeitet, und die Familie war nach der Revolution nach Deutschland geflüchtet, als Asal Dardan ein Jahr alt war.
Ihre Exilerfahrung erlebt sie schon als sehr speziell: „Ich selbst habe kein Zuhause verloren, dennoch fällt es mir schwer, mich zugehörig zu fühlen.“ Aufgewachsen in einer Kölner Hochaussiedlung, träumt sie zunächst fast spießig von einem „Einfamilienhaus mit Garten und Garage“. Nach ihrem Umzug nach Bonn erzieht die Mutter die Tochter dann allein. Später geht Aslan aufs Internat, lebt eine Weile in Sardinien, macht nach dem Abitur ein Volontariat bei CNN in Atlanta. Dann sieht sie sich als Frau und Mutter. In dieser Phase wohnt sie mit ihrer eigenen Familie und zwei Kindern auf der schwedischen Insel Öland, beschreibt die Landschaft und das Haus, in dem ihre Schwiegereltern leben. Auch dort fühlt sie sich als Fremde und stellt Fragen nach den Bedingungen von Fremd- und Zuhausesein.
Immer wieder taucht sie in Erinnerungen ein, vergleicht diese mit Erfahrungen von Hannah Arendt oder Edward Said, erlebt Heimat als Vexierbild zwischen Morgenland und Abendland, wenn sie der Stimme ihrer früheren Lehrerin nachhorcht, die einer Horde lärmender Schüler mit der Frage entgegentritt, ob sie sich nicht wie gesittete Mitteleuropäer benehmen könnten. Was heißt das? Ist sie Mitteleuropäerin? „Wir sind uns gegenseitig ein Rätsel“. Dardans Deutsch ist exzellent, es scheint, als wäre die deutsche Sprache ihre neue Heimat, als sie sich in Schweden danach sehnt.
Sie möchte, dass ihre Kinder in Deutschland aufwachsen und in die Ferien nach Schweden fahren. Und immer schwingen in ihren teils poetischen Beobachtungen auch die iranischen Gedichte mit. Ihre Eltern wiederum sind ihr „entwischt“. Und der NSU-Prozess löst nochmal andere Erfahrungen aus. Gedanken, die sie sich als „Barbarin“ verbieten soll? In ihren Betrachtungen geht es um Annäherungen und Fremdbestimmungen, um Wechselwirkungen zwischen Autobiographie und Weltgeschichte, um Romantisierung und Aufklärung des Alltags in der Fremde.
Daniel Leese, Autor von „Maos langer Schatten. Chinas Umgang mit der Vergangenheit“ (C.H.Beck); Foto: Petra Kammann
In eine ganz andere geographische Region, nämlich nach China, führt uns der Autor Daniel Leese. Momentan sei doch Winter, sagt Daniel Leese, weil in China derzeit ein „Rechtsnihilimus“ regiere. Der Freiburger Sinologe hat sich intensiv mit der chinesischen Umbruchphase zwischen 1976 und 1987 auseinandergesetzt, hatten doch Mao Zedongs Massenkampagnen immense Opfer gefordert und ein heruntergekommenes korrumpiertes Land hinterlassen.
Was nach Maos Tod folgte, war zunächst ein Ringen um eine historische Krisenbewältigung, bei der politisch Verfolgte rehabilitiert werden sollten. Maos Frau Jiang Qing und die „Viererbande“ wurden vor Gericht gestellt. Man wollte einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen, im Gegenzug dafür wirtschaftspolitische Reformen ankurbeln. Doch hätte man nicht die KP komplett in Frage stellen müssen?
Die Auseinandersetzung mit politischem Unrecht nach Maos Tod schien zunächst vielversprechend, sollte jedoch vor allem der Legitimation der Parteiherrschaft und nicht etwa der Wahrheitsfindung dienen. In den 90er und den frühen 2000er Jahren sei zwar die Reformbereitschaft mit Blick auf den Westen groß gewesen. In der neuen Demokratierethorik seien jedoch keine Wahrheitskriterien etwa für die Antikorruptionsgeschichte gesucht worden. An eine Entmaosierung sei nicht gedacht worden.
Stattdessen suche man heute Fakten, welche die Wahrheit belegen sollen. Bleibt die Frage, wer die Interpretationshoheit über die Fakten hat. Denn auch die gegenwärtige Führung schreckt nicht vor neuen Verbrechen zurück, um die Herrschaft zu stabilisieren. Wenn Millionen von Menschen verschwinden, wird dem ein schlichtes Blatt mit Fakten über den technischen Fortschritt entgegengehalten. Ein Thema, das uns in Zukunft zweifellos beschäftigen wird.
Herausgeber der FAZ Jürgen Kaube ist Autor von „Hegels Welt“ (Rowohlt Berlin); Foto: Petra Kammann
Mit der „Welt“, mit der unruhig gewordenen Welt um 1800, beschäftigt sich Jürgen Kaubes Hegel-Buch auf ganz andere Weise. Er zeigt auf, wie die Welt nach der Französischen Revolution aus den Fugen geraten ist und wie sie sich verändert hat. Dadurch ist die Zukunft prinzipiell in Frage gestellt. Die Herrschaft des Adels ist verblasst, die Macht der Kirche ebenso. Wie kann Vernunft die Religion, das Christentum, ersetzen? Wie können Individuen sich finden, ohne dabei unterzugehen? Mit solchen und ähnlichen Fragen beschäftigte sich der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Was folgt, ist eine Art Bildungsrevolution.
Jürgen Kaube erzählt in seiner knapp 600 Seiten starken Hegel-Biographie das Leben des Philosophen, erläutert sein Werk, zeigt den spannenden späten Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ auf und damit, wie die epochalen Umbrüche zu einer Revolution des Denkens führen. Dabei will Kaube wohl auch Mut machen, sich mit dem Denker zu beschäftigen. Auch wenn man Hegels Texte nicht auf Anhieb versteht, weil sie sich nunmal nicht „so weglesen“ ließen, dann sollte man über unverständliche Aussagen einfach hinwegsehen, um sich dem Gesamtzusammenhang zu nähern.
„Ich meine, es ist ein bisschen vermessen, wenn man behaupten würde, man könne die Denkbewegungen von Kant über Fichte zu Hegel mit all den vielen Zwischenstationen nachvollziehen. Das wäre eine Angeberei erster Klasse. Es gibt ganz viel, was man da nicht nachvollziehen kann, zumindest ich nicht unmittelbar nachvollziehen kann. Ich kann nur versuchen, in Umrissen zu verstehen, was die Pointe vielleicht war“, sagt der Autor, der dem Leser den Weg zur philosophischen Betrachtung der Welt weist.
Mit der gutgeschriebenen Darstellung können wir dann sehen, wie und wodurch Hegel die Moderne geprägt hat, die uns bis heute verunsichert, und dessen Lehre von Marx „vom Kopf auf die Füße“ gestellt wurde… Dass das nicht die Krise wirklich gelöst hat, macht bewusst, dass wir immer noch im Prozess des Um- und Neudenkens stecken.
Michael Maar, Autor von „Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur“ (Rowohlt); Foto: Petra Kammann
„Le style c’est l’homme même“ – „Der Stil – das ist der Mensch selbst“ heißt es im berühmten Satz des französischen Naturwissenschaftlers Buffon aus seiner Antrittsrede, als er in die Académie française aufgenommen wurde. Dieser Aphorismus könnte auch über Maars Recherche „Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur“ stehen. Pointierte stilmächtige Sätzen lassen uns eben aufhorchen. Nicht allein das Was, sondern auch das Wie interessiert den Autor, Literaturkritiker und Germanist Michael Maar. Er zeigt, wie man den Blick auf Texte und Bilder schärfen kann.
„Den guten Stil kann es so wenig geben wie die eine schöne Handschrift“, schreibt Maar in seinem Buch. Anhand von zahlreichen Textbeispielen aus der Literatur zeigt er uns, was bestimmte Texte so besonders macht. Jemand habe ihm gesagt: „Schreibe doch mal einen Essay über Stil.“ Der Essay sei dann ausgeufert. Wichtig sei es, das Abgegriffene und Unanschauliche zu vermeiden. „40 Jahre geballte Lektüre-Erfahrung“ steckten hinter diesem Buch, kommentiert Hauke Hückstädt, der Leiter des Frankfurter Literaturhauses, diese verdienstvolle Arbeit an diesem Abend.
Natürlich ist Stil nicht alles, vor allem dann nicht, wenn er gekünstelt oder gedrechselt daherkommt. Er muss Ausdruck der Persönlichkeit, der individuellen Handschrift und Authentizität eines Autors sein und dem Thema entsprechen. Dabei fällt jemand wie Thomas Bernhard für Michael Maar mit seiner „Wiederholungsmonotonie“ durchs Raster, ebenso tun es Hölderlins Griechenlandbeschreibungen aus dem „Hyperion“.
Maars Buch ist aber nicht nur Stilkritik und -analyse, sondern auch eine Art Handbuch, das sich etwa mit guten und schlechten Metaphern beschäftigt, mit dem Rhythmus und gutem Satzbau, mit Verben, mit Substantiven, mit Adjektiven, die man nicht willkürlich aneinander reihen soll und die etwas treffend charakterisieren: „Es muss immer eine Spannung haben, muss uns etwas Neues erzählen – sonst kann man es auch weglassen.“
Sicher ist dieses Buch eine Anleitung zu aufmerksamem und bewussteren Lesen. Wenn das gelinge, dann könne er die Autoren „ins Wartehäuschen“ schicken. Und was hat es mit dem Titel auf sich? Ist das schiefe Bild von der „Schlange im Wolfspelz“ ,guter Stil‘? Maar hat es aus Eva Menasses erstem Roman „Vienna“ übernommen, wo es um die Krankenpflegerin der dementen Eltern geht.
Wie man sieht, gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich mit Themen zu beschäftigen. Wichtig erscheint dem Geschäftsführer des Börsenverein des Deutschen Buchhandels Alexander Skipis vor allem, dass durch die Auslobung von guten Sachbüchern hier eine Debattenkultur in Gang gesetzt wird. Die Erwartungen nach dem ersten Aufschlag sind hoch. Dazu trugen auch die kompetent nachfragenden Moderatoren und Co-Moderatoren bei.
Moderation: David Ahlf, Fridtjof Küchemann, Alf Mentzer, Cécile Schortmann und Gert Scobel
Nachzuhören sind die Gespräche in hr2-kultur am 5. Juni um 18.04 Uhr und am 6. Juni 2021 um 12.04 Uhr. Als Livestream fand die Veranstaltung in Kooperation statt mit dem Literaturhaus Rostock, mit dem Literarischen Zentrum Göttingen, mit dem Literaturhaus Köln sowie mit dem Literaturhaus Wiesbaden statt.