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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

HUT AB! KOPF AN! Joseph Beuys zum Hundertsten! (2) Ein Interview mit dem Kunstsammler und Beuys-Verleger Lothar Schirmer

Über die Kunst, Kunst zu ködern und zu bewahren 

FeuilletonFrankfurt-Herausgeberin Petra Kammann befragte den Kunstsammler und Kunstbuch-Verleger Lothar Schirmer zu seinen Begegnungen mit dem Ausnahme-Künstler Joseph Beuys, der „den Hirsch für die Kunstgeschichte gerettet“, seine Augen und Wahrnehmungen für den erweiterten Kunstbegriff geöffnet hat, über seine Bedeutung für ihn beim Sammeln, beim Büchermachen und in Ausstellungssachen und – warum Kunst am Ende ein Rätsel bleibt…

Lothar Schirmer mit einem druckfrischen Exemplar der JOSEPH BEUYS WERKÜBERSICHT in den Verlagsräumen in München, im Mai 2021. Foto: Regine Kaiser, courtesy Schirmer/Mosel


Petra Kammann: Die Kunstleidenschaft hat immer auch eine Vorgeschichte, in Ihrem Fall eine deutsch-deutsche. Sie wuchsen als Kind in Thüringen auf und zogen Anfang der 50er Jahre mit ihren Eltern nach Köln. Was bedeutete für Sie die Übersiedlung von Ost nach West (von der DDR  in die BRD), das Ankommen im Rheinland „zwischen Stalins Tod“ (am 5.3). „Queen Elizabeths Königskrönung“ (am 2.6. 1953) und dem „Volksaufstand“ in der DDR (am 17. Juni ‘53)?  In Köln tobte damals die Rheinische Kunstszene. Wie hat das auf Sie gewirkt?

Lothar Schirmer: Das waren bewegte Zeiten. Köln lag in der britischen Zone, und das Rheinland war ohnehin schon lustvoller als die sowjetisch besetzte Zone, die sich damals DDR nannte, aber immer noch als SBZ durchging. Die Stalin-Trauer war völlig grotesk. Wenn Trauermusik drei Wochen lang aus allen Lautsprechern gespielt wurde, wirkte das übertrieben. In Thüringen trauerte man gar nicht so sehr.

Kam Ihnen die rheinische Szene nicht sehr komisch vor? 

Köln war natürlich eine Großstadt, die ziemlich ruiniert war. Das war ein sehr lebendiges industrielles Zentrum. Die Stadt wurde in einer affenartigen Geschwindigkeit wiederaufgebaut. Ständig wurde etwas neu eröffnet und angekündigt. Gegenüber der fachwerkbestimmten Kleinstadt Schmalkalden, aus der ich kam, die ohne größere Kriegsverwundungen davongekommen war, war das sehr städtisch. Es gab Straßenbahnen, Kinos, einen riesigen Hauptbahnhof und Rheinbrücken. Und daneben geradezu eine Frömmigkeit der Kunst gegenüber.

Woher kam die Ihrer Meinung nach?

Aus der katholischen Tradition. Und daraus, dass die Stadt selber im Mittelalter eine eigene Malerschule gehabt hatte mit Größen wie Stefan Lochner. Im Wallraf Richartz Museum – eines der ersten Museen, das wieder aufgebaut wurde, – hingen berühmte Kleinodien.

Wie haben Sie das denn erlebt?

Man merkte, dass es eine hohe Wertschätzung der Malerei gab. Das hatte ich in Köln mit den Altären, den Heiligenbildern und Geschichten wahrgenommen. Die waren dort so fest eingebettet wie in Kassel Grimms Märchen. Eine solche Wertschätzung war den Protestanten im Thüringischen abhanden gekommen. Da wurden irgendwann mal alle Bildwerke aus den Kirchen geräumt, alles wurde weiß angestrichen und man hat sich eine Orgel einbauen lassen. Die Predigt, das Wort, die Musik und der Chorgesang waren da üblich. Bilder waren für sie nur Blendwerk.

Sie haben sich also schon sehr früh für Kunst interessiert?  

Ich hatte dauernd Schwierigkeiten mit der Schule, die auch daher kamen, dass wir immer wieder umgezogen sind.

Also von Köln aus ins Ruhrgebiet, nach Recklinghausen.  

Da war das mit der Kunst auch wieder sehr virulent, allerdings eher, was zeitgenössische Kunst anging. Da gab es die Ruhrfestspiele und jedes Jahr dazu eine große zeitgenössische Kunstausstellung. Auch wenn sie da ein Ikonenmuseum mit russisch- oder griechisch-orthodoxen Kirchenbildwerken hatten. Wichtig waren aber für mich die Kunstausstellungen.

Und das hat Sie dann fasziniert?

Meine Schulleistungen wurden immer tragischer (lacht) und das Museum wurde für mich zum Fluchtort. Da fing ich an, mir die Bilder anzugucken, die Namen zu merken. Einen Karel Apel und einen Tapiès konnte ich schon von Weitem unterscheiden. Doch meine erzieherischen Instanzen meinten, das seien ja schreckliche Bilder, und eins sähe so aus wie das andere, das wäre Unsinn und mein unscharfer Blick. Das war das reine Desinteresse.

Ihre „postpubertäre Marotte“ wurde dann noch verstärkt, als Sie nach Bremen umzogen.

Da hörte tatsächlich die moderne Kunst bei Marck und Beckmann auf. Das waren die letzten Helden vom Leiter der Kunsthalle, Herrn Busch. Ansonsten gab es viel französisches 19. Jahrhundert. Das war halt Diaspora.

 

 

 

Joseph Beuys
Einwandfreie Bilder 1945 – 1986.
Arbeiten aus Papier aus der
Sammlung Lothar Schirmer
Verlag Schirmer & Mosel


Und dann sind Sie 1964 zur documenta III gefahren. Wie kam das? Hatten Sie so einen tollen Kunstlehrer? Sie waren damals 19 und noch Gymnasiast und bezeichnen rückwirkend Ihre Leidenschaft für die Gegenwartskunst als „post-pubertäre Marotte“. Sehen Sie das noch immer so?  

Ich war unter dem Druck der Bremer Ereignisse zum Autodidakt geworden. Ich hatte den Ehrgeiz, den Zugang zu Informationen zu haben. Von Bremen aus konnte ich dann nach Hannover, nach Hamburg und nach Oldenburg fahren, wo es zeitgenössische Kunstausstellungen gab. Und 1964 hatte ich in den Sommerferien nichts Besseres zu tun, als nach Kassel zur documenta zu fahren. Ein Kollege meines Vaters hatte dort eine Tankstelle und daneben eine Schlafgelegenheit für Tankwarte. Da wurde ich einquartiert und blieb drei Wochen da.

Und da haben Sie dann „Kunst getankt“?

Mein dreiwöchiger Aufenthalt war für mich sehr erhellend. Das war sehr international, zeitgenössisch, aber auch alte Sachen waren da zu sehen. Und da bin ich dann auch Joseph Beuys begegnet.

Aber nicht persönlich? Sie waren wohl angezogen von den sensiblen Beuys-Zeichnungen und abgestoßen von den Bienenköniginnen und den Objekten, die für Sie unverständlich und irritierend waren.

Die kamen mir wie Kuhfladen vor. Das hat mich etwas verblüfft, dass mich das Eine so anzog und das Andere mich völlig kaltließ. Dem wollte ich auf den Grund gehen, weil ich bis dahin noch nicht solche Wahrnehmungsemotionen gehabt hatte.

Daraufhin wollten Sie dann Beuys persönlich kennenlernen?

Ja, ich dachte, entweder stimmt etwas bei mir nicht oder bei dem nicht.

Und wie fanden Sie es, als Sie Beuys dann am Drakeplatz in Düsseldorf-Oberkassel besucht hatten?

Na ja, dass ich wohl einen der bedeutendsten Künstler der Gegenwart getroffen hatte (lacht). Als er die Mappe mit den Zeichnungen aufmachte, war es mir völlig klar. Aber mit den Objekten hat das noch zwei/drei Jahre gedauert. Um die habe ich noch immer so einen Bogen gemacht.

Beim Anblick der Zeichnungen war es um Sie geschehen?

Da sah ich, dass der Hirsch wieder für die Kunstgeschichte gerettet war.

Und dann hat er sie zusätzlich noch angefixt. Sie haben drei Blätter von ihm gekauft, und er hat Ihnen sogar noch eins geschenkt.

Ich habe aus den ca. hundert Zeichnungen drei ausgewählt. Bei den Preisvorstellungen wusste ich, es gingen maximal drei. Und das Blatt, das ich zum Schluss weggelegt hatte, hat er mir noch dazu gelegt. Das war ja großzügig. Es waren im Grunde gegenständliche sehr zarte Zeichnungen, vielleicht noch ein bisschen 19. Jahrhundert. Da hat sich die Bremer Zeit dann doch wieder ausgezahlt. (lacht)

Sie schwanken da schon zwischen dem noch traditionellen und dem nonkonformen Beuys?

Das erste Blatt, das einem Brief beigelegt war, in dem er auf meinen Brief geantwortet hatte, hieß zum Beispiel „Der Spaziergang 1951“. Die einzige Assoziation, die ich von der Form hatte, war Goethes „Osterspaziergang“ im „Faust“. Und ich wusste nicht, wo oben und unten war. Das konnte ich nur anhand der Unterschrift auf der Rückseite ahnen. Als ich ihn besuchte, fragte er mich, ob ich denn auch die Frau mit dem Kinderwagen auf dem Blatt gesehen hatte. Als ich wieder zu Hause war, habe ich sofort nachgeguckt. Und dann tauchte sie tatsächlich auf wie auf einem Vexierbild. Das schien seine Antwort auf den Tachismus zu sein, dass er seine Inhalte unsichtbar machte bzw. versteckte. Aber sie waren immer da. Bis zum Schluss konnte er die traditionellen Dinge sehr gut, hat sie aber eben auch aufgegeben oder sagen wir mal kannibalisiert. Er verschnitt das dann und machte eine Collage draus.

Später sind Sie ihm dann nochmal in der Galerie Schmela begegnet, wo Leute wie Yves Klein, Bernd Becher oder der ZERO-Künstler Günther Uecker verkehrten. Das war in Düsseldorf die erste Galerie, die sich mit zeitgenössischer Kunst abgab.

Beuys hatte 1967, also drei Jahre nach der documenta, dort seine erste Einzelausstellung bekommen. Da war er schon 46 Jahre alt, als er das Tänzchen mit der kommerziellen Galerie wagte. Bis dahin hat er alles zusammengehalten, nur an Leute, denen er persönlich verbunden war, verkauft. Die Galerie Schmela war der erste Versuch, in den Kunsthandel einzutreten oder den Kunsthandel zu benutzen. Schmela hatte immer schon mal Einzelstücke von ihm gehabt.

Wie hat denn die Galerie auf Sie gewirkt? Das war ja eigentlich ein winzig kleiner Raum in der Düsseldorfer Altstadt – so um die 10 Quadratmeter.

Ja, es war ein winzig kleiner Raum, aber in sehr prononcierter Lage, gleich neben dem Köm(m)ödchen, die Kunsthalle dahinter war noch nicht da. Es war ein Laden mit einem Schaufenster. Und man konnte von vorn bis hinten in den Laden gucken und auch reingehen. Ich weiß noch, wie ich mein erstes Bild von Winfried Gaul, einem Tachisten, gekauft habe. Da fuhr ich vom Gaul’schen Atelier in der Nähe des Bahnhofs mit der Straßenbahn in die Altstadt. Da hatte Schmela eine Wols-Ausstellung. Da hingen seitlich kleine Papierarbeiten und auf der Stirnwand ein großes Bild. Das war so toll, da wusste ich, ich hatte etwas Falsches gekauft (lacht kräftig). Aber die Wols-Sachen waren auch damals schon sehr teuer. Und Schmela verkaufte sie halt, wie er sie hatte, auch an Museen, oder an Privatsammler, an holländische Kunstinteressierte. Zwischen Amsterdam, Rotterdam und Köln fuhr man damals hin und her zu den Ausstellungen. Auch Eindhoven war ganz nah. Das war so ein interessantes Wirtschaftsgebiet. Das Stedeldijk-Museum in Amsterdam war dann natürlich die erste Adresse für zeitgenössische Kunst in Europa damals. Und da hatte ich ein Katalogabonnement. Dafür muss ich den Holländern bis heute noch ewig dankbar sein. Für 18 Gulden im Jahr bekam man alle drei Wochen irgendeinen Katalog zugeschickt, manchmal sogar drei Kataloge auf einmal. Da ging es um holländische, amerikanische, französische Künstler, um Fotografien, um Stoffdesign undundund.

Die hatten also ein ganz innovatives, ein ganz breites Kunstkonzept?

Das hatte damals der Museumsdirektor Willem Sandberg entwickelt, der auch die Kataloge typografisch interessant gestaltete und Texte schrieb, die sich an die Jugend Europas richteten. In dessen Dunstkreis habe ich mich bewegt und gebildet. Das war so ein adeliger Sozialist, der alle duzte. Er war auch Widerstandskämpfer gewesen. Später hat er dann für die Israelis das Israel-Museum aufgebaut.

Und zum 50. Geburtstag von Joseph Beuys 1971 gab es eine Ausstellung mit ihm in Sankt Gallen. Da waren Sie auch beteiligt. Und zwar als Sammler…

Zwischen 1965 und 1971 lagen inzwischen ein paar wichtige Jahre. Da hatte ich schon die ersten Objekte gekauft. Als Beuys eine Ausstellung machen wollte, sagte er: „Gib denen doch Deine Sachen und dann machst Du einen kleinen Katalog. (Jubilierender Zwischenruf: „Frau Kammann: Hier kommt gerade druckfrisch das erste Vorausexemplar „Joseph Beuys. Werkübersicht 1945 – 1985“. Ich bin völlig high“. Schirmer lacht ansteckend)

Der Kunstbuchverleger Lothar Schirmer auf der Frankfurter Buchmesse an seinem Stand; Foto: Petra Kammann

Da Sie so ein gutes Gespür für künstlerische Qualität hatten, warum sind Sie eigentlich nicht Kunsthändler oder Galerist geworden, sondern stattdessen Verleger?

Kunstsammler war ich ja schon. Ich hatte die Wahl zwischen Kunsthändler und Verleger. Da hätte ich natürlich Spezialist für Beuys-Zeichnungen werden können, hätte jedes Jahr eine Ausstellung gemacht und ich hätte von den 30 Sammlern köstlich leben können. Aber ich hatte den Ehrgeiz, die Qualität nicht zu veräußern, sondern selber zu behalten. Ein Kunsthändler, der die besten Sachen für sich selbst behält, ist eigentlich eine Karikatur. Der richtige Kunsthändler muss an Geld interessiert sein. Der muss Geld sammeln für seine Künstler. Wenn man mit dem Kunsthändler durchs Museum ging, sagte er stolz: das hab ich mal verkauft. Das war Schmela. Und ich dachte mir: wär aber doch schön, wenn er es noch hätte! Bei mir ging es nicht so sehr ums Geld, ums Finanzieren, sondern um die Information. Und dann sagte ich mir: Wenn Du dann den schwierigen Weg des Verlegers einschlägst, dann hast Du wenigstens das Privileg der optimalen Information. Wenn ich dann dem Künstler sage: wir wollen ein Buch daraus machen, dann holt er mir das Schönste aus seinem Schlafzimmer. Beim Kunsthändler heißt es dann eher: Häng das weg. 

Nun wurde Ihr erstes Beuys-Buch nicht gerade ein Renner.

Das hatte ich mir schon hochgerechnet. Was mich interessierte, interessiert immer nur sehr wenige. Und als das Beuys-Buch 1972 erschien, da war Beuys fast schon berühmt. Da hatte ich 2000 Bücher gedruckt, aber nur 800 davon verkauft. Das war natürlich ein Reinfall. 

War das eigentlich nicht für den Verleger eine Katastrophe?

Im Moment ist das auch nicht anders. Wenn wir jetzt etwas im Schirmer & Mosel Verlag herausbringen, gehen im Vorverkauf 800 Stück weg… Viel leichter verkauft sich eine Zeichnung für 20.000 Euro als ein Buch für 82 Euro. Meine Hochachtung vor der durchaus nicht von allen Menschen geteilten Kunst-Information ist vielleicht nicht gerechtfertigt. Aber diejenigen, die sie teilen, die gibt es immer noch. Das sind die Bibliotheken, die Museen, die es brauchen. So wie der Verleger und Kunstliebhaber König mit seinen Buchhandlungen gewachsen ist, haben die anderen Buchhandlungen mit ihren Sortimenten zugemacht. Der Niedergang des Kunstbuchmarktes zeigt sich zum Beispiel auch am DuMont Verlag. Die haben diesen Zweig im Zuge der TASCHEN-Krise in Köln aufgegeben. Und der Verlag TASCHEN wiederum funktioniert nur, weil das Geschäft internationalisiert ist. Der deutsche Markt ist da relativ schwach.

Die Beuys-Titel im Verlag Schirmer & Mosel; Foto: Petra Kammann

Trotzdem haben Sie mit Ihren Reihen dann Trends gesetzt. Sie haben viel mit bedeutenden Fotografen gearbeitet, nicht nur mit denen der Becher-Schule. So z. B. mit der Frankfurter Fotografin Abisag Tüllmann, mit Angelika Platen, Caroline Tysdall oder Ute Klophaus.

Das war ein gutes Geschäft für die Fotografen, weil Beuys die Fähigkeiten hatte wie ein richtiger Filmstar, ihnen immer gute Bilder zu liefern. Ich habe mal bemerkt, was einen richtigen Star ausmacht. Wenn 50 Fotografen sich auf eine Person stürzen, wenn er den Raum betritt. Zum Beispiel Catherine Deneuve. Wann immer sie auftauchte, wurden alle anderen Schauspielerinnen zu Non valeurs. Einmal bei einer Modenschau in Paris, saß ich drei Reihen hinter Charlotte Rampling. Zwei Fotografen fotografierten sie. Und dann ging ein Raunen durch die Menge. Aus irgendeiner Ecke des Saals trat Madonna ein. Die zwei Fotografen der Charlotte Rampling waren sofort weg. Dafür gab es dann 400 Fotografen, die alle nur was von Madonna wissen wollten. Und Beuys ist innerhalb unserer Diva-Serie eine echte Diva.

Wissen Sie eigentlich, wie viele Beuys-Fotos in Ihren Büchern allein vorkommen?

Bei den ca. 40 Büchern, die wir über ihn gemacht haben, sind wir eher an den Werken dran. Aber wir haben auch die Aktionen, die nur in der Fotografie funktionieren, dokumentiert.  Da kommt zum Beispiel im Herbst das Buch mit Fotos von Ute Klophaus heraus, die Beuys von 1964 bis zu seinem Tode in action fotografiert hat. Caroline Tysdall hat die Aktion mit dem Koyoten fotografiert. Das haben wir als Buch in einer französischen und in einer englischen und einer amerikanischen Ausgabe gemacht. Das Thema handelte auch von Amerika. Mit dem Tier hatte gerade das eine besondere Dimension.

Wiederum trug „I like America and America likes me“ zur Internationalisierung der Projekte bei.  

Unser Programm bestand darin, das Beste aus der Welt, was Fotografie und zeitgenössische Kunst betrifft, nach Deutschland zu holen und andererseits das Beste aus Deutschland in die Welt zu tragen. Auf diese Art und Weise gab es dann eine internationale Wahrnehmung. So erschienen bei uns in Deutschland Bücher über Richard Avedon, Irving Penn und Helmut Newton. Und umgekehrt dann in den USA Bücher über Beuys, Fassbinder, über Bernd und Hilla Becher und über alles, was die Welt an Deutschlands Kunstproduktion interessierte. Das waren nicht so viele. Aber es gab ein paar jüdische Emigranten, die den Kunstbuch-Handel in den USA aus Nostalgie betrieben hatten. Die Fotografen, die Emigranten waren, von Moholy Nagy bis Gisèle Freund, sind bei uns mit Monografien vertreten. Das war so eine Kultur-Familiengeschichte.

Die Frankfurter Fotografin Abisag Tüllmann dokumentierte die Titus/Iphigenie-Aufführung, mit dem Pferd: Cover, Verlag Schirmer & Mosel

Insofern waren Sie als Verlag dann so eine Art Plattform des Austauschs, auch für Beuys?

Ja, wir sind eine Plattform geworden für Beuys. Und umgekehrt.

Haben Sie gemeinsame Reisen mit Beuys unternommen?

Ich war einmal gewissermaßen als Leihgeber dabei, als Lucio Amelio Beuys vorschlug, meine Sammlung im Herbst 1971 bei ihm in Neapel zu zeigen. Nachdem es in St. Gallen so gut gelaufen war, kam Beuys auf die Idee, mich zu bitten, auch Leihgeber bei Amelio zu sein. Ich habe das unter der Bedingung gemacht, dass nichts verkauft werden sollte und ich alles wieder zurückbekommen müsste. Das hat er gemacht. Es war eine mutige Tat, die sich für ihn sehr ausgezahlt hat, weil sein Interesse echt war. So hat Beuys ihm später sehr viele Sachen gegeben. Und die beiden haben dann bis 1986 bis zu seinem Tod weiter zusammengearbeitet, bis hin zur Palazzo-Regale-Geschichte.

Palazzo Regale kann man heute in Düsseldorf in der Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, im K 20, sehen

Als Beuys gestorben war, habe ich mir das nochmal mit der Fotografin Ute Klophaus angeguckt. Das war dann das Ende der Beuys-Expedition. Sie hat eine Fülle von Büchern hervorgebracht. Sein Werk ist so umfangreich. Man muss sich nur mal vorstellen, dass der Schatz der Zeichnungssammlung der Brüder van der Grinten vom Niederrhein noch nicht einmal gehoben ist. Wenn es nicht so schwierig mit der Meinungsbildung im Nachlass wäre, könnte man allein ein riesiges Buch machen mit den 30 großen Räumen von der „Straßenbahnhaltestelle“ in Venedig 1976  bis zu seinem Tod und Palazzo Regale mit einerer Dokumentation, wie die Räume bei der Ersteinrichtung ausgesehen haben, und wie sie heute aussehen. Und man könnte zu jedem einen eigenen Text schreiben. Und dann hätte man ein Kunstbuch, was von einer unbeschreiblichen Wucht wäre. Daran könnte man noch weitere 10 Jahre arbeiten…

Sie haben ja gerade jetzt mit Ihrem neuen Buch eine beuys‘sche Werkübersicht 1945 bis 1986 gegeben. Wurde daraus in Analogie zu André Malraux‘ „Musée imaginaire“  für Sie so eine „exposition imaginaire“?

Weil ich natürlich wusste, dass all die Ausstellungen, die es von Beuys geben würde, die Situation in Zukunft weiter einschränken würde, wegen der schwierigen Transportsituationen und der damit verbundenen hohen Versicherungswerte. Man kann die Werke nur schwer transportieren, ohne die Dinge dabei zu zerstören. Es wird immer mal noch etwas ausstellbar sein, aber immer nur ein paar partielle Dinge. Da überlegte ich mir, ich sollte seine Arbeiten von 1945 bis 1986 quer durch alle Medien hindurch einmal zusammenstellen, von der Staeck-Postkarte bis zur Meisterzeichnung. Und sagte mir: Suche sie so aus, wie du sie selbst gerne erwerben würdest.

So, als wären Sie der Kurator einer Ausstellungsretrospektive?

Wenn ich unlimitierte Möglichkeiten hätte und die Sachen zum Verkauf stünden… So ist es meine, die von Lothar Schirmer kuratierte Ausstellung, geworden. Es haben immer wieder Leute mehr missmutig als anerkennend und gönnerhaft gesagt: Ja, das trifft ja so ungefähr die Sache, was Sie da so zusammengestellt haben.

Auch mit Fotografie?

Beuys hatte eine seltsame Vorstellung von der Fotografie. Eigentlich hat er sie abgelehnt. Als ich mit dem Verlag anfing, habe ich ihn besucht und ihm die Landschaften von August Sander gezeigt. Dann sagte er: „Du weißt ja. Jede menschliche Tätigkeit ist Kunst, aber vieles eigentlich nicht.“ (lacht amüsiert). Da fehlt was. Da hat sich einer große Mühe gegeben. Er bediente sich zwar der Fotografie, aber…

Fotografieren war für ihn eine dienende Tätigkeit?

Ja, eine Dienstbarkeit. Das hatte nichts mit seiner hohen Vorstellung von Kunst zu tun. So hat jede Sache auch ein Häkchen. Kunst für ihn war Wagner und „ich“.

Damit drücken Sie etwas aus, was das Pathetische von Beuys beschreibt.

Ja, das Gesamtkunstwerk, wo alles mit allem zusammenhängt. Das ist so eine 19. Jahrhundert-Vorstellung, genauso wie der Marxismus eine ist oder Goethe. Weil wir noch mit den Folgen der Französischen Revolution beschäftigt sind, knabbern wir noch heute an all diesen Versuchen und Utopien, die da gestiftet worden sind, und versuchen, auf bürgerlich-menschliche Art und Weise damit fertig zu werden. Beuys, der Künstler, war auch noch der Meinung, er müsste Politiker sein.

Warum haben Sie denn für die Kommentierung des Gesamtwerks den französischen Literaturwissenschaftler, Kritiker und Rimbaud-Spezialisten Alain Borer gebeten? Eigentlich ist das französisch rationale Denken dem beuys’schen Ansatz doch eher fremd.

Alain Borer war der Mann, der für die Ausstellung im Centre Pompidou in Paris den Essay geschrieben hat. Das war eine Doppel-Ausstellung, die in Zürich anfing. In Paris sah sie dann aber ganz anders aus. Im Kunsthaus in Zürich wirkte sie eher anthroposophisch und reformhausmäßig, während sie in Paris von der Pariser Alltagsarchitektur und der dortigen Straßensituation inspiriert war. Man hatte die zarte Klassizität einer 19. Jahrhundert-Stadt vor Augen. Das hat sich wunderbar mit diesen Skulpturen und Zeichnungen verbunden. Das war das Eine. Aber ich konnte Borers Artikel zunächst nicht lesen. Also musste ich ihn übersetzen lassen. Und als ich ihn dann lesen konnte, gefiel er mir sehr gut, weil er bei aller Distanz doch die Eigenartigkeit von Beuys erkannt hatte. Allein seine thematische Gliederung wie „Beweinung des Joseph Beuys“, „Die Legende von Joseph Beuys,“ „Der Pädagoge: Meister Beuys“, „Der Hirte: Beuys als Seelengeleiter“, „Der Therapeut: Doktor Beuys“, „Der Evolutionär: Beuys als Felderweiterer“, „Der Revolutionär: Beuys alternativ“, „Die Sphäre: Beuysnobiscum“. Er hatte all diese Aspekte auf den Begriff gebracht und sich nicht darüber mokiert, auch wenn es nicht der französischen akademischen Philosophie entsprach. Hinzukam, dass der Text schon vorhanden und anhand des Materials der Ausstellung geschrieben war und er nicht versuchte, die beuyssche Sprache zu kopieren. Dann gab es einen weiteren großen Vorteil: Dieser Text galt sozusagen vom Nachlass als genehmigt. Sonst hätten wieder die bedrückenden Kontrollmechanismen eingesetzt.

Der Nachlass ist bei Beuys ja ein Riesenthema…

Nachlass und VG Bild-Kunst, das ist ein Riesenthema. Und es gibt Leute, die unter dem Nachlass schon gelitten haben, die keine Veröffentlichungsrechte mehr kriegen. Das ist eigentlich mit dem Freiheitsbegriff von Beuys kaum vereinbar. Das Exerzitium des Eigentumsrechts am Fall Joseph Beuys ist eigentlich kontraproduktiv, weil er selber natürlich zu seinen Lebzeiten den Leuten fast alles umsonst gegeben hat. Das sah die Witwe, die wiederum Kinder zu ernähren hatte, anders. Das kann ich natürlich auch verstehen. Hier aber gab es jedenfalls eine Schwierigkeit weniger, Alain Borer zu nehmen. Erst war die Witwe sehr skeptisch. Doch beim zweiten Lesen fand sie den Text ungeheuer schön und hat Alain Borer sogar einen Dankesbrief geschrieben. Es ist wahrscheinlich die einzige umfassende Sache, die man zu meinen Lebzeiten hat machen können.

Trotzdem hat mich eine Sache in der Beurteilung von Borer gewundert, nämlich, dass er Beuys den Humor abgesprochen hat im Gegensatz zu den belgischen Künstlern wie etwa Marcel Broodtaers. Empfinden Sie das auch so?

Was er wahrscheinlich in dieser Geschichte gemeint hat, ist, dass Beuys sehr ernst ist, d.h. das Werk von Beuys. Das ist todernst. Klar. Beuys hatte einen sehr guten Humor. Aber im Werk kommt der nicht vor. So hat er Paul Klee als zu heiter und humorvoll abgelehnt. Ich glaube, dass die Künstler, die nach dem Kriege zur Kunst gekommen sind, eine andere existenzielle bzw. existenzialistische Grundhaltung hatten. Duchamps und Broodtaers sind sicher nach dem Ersten Weltkrieg noch sehr heiter gewesen, so heiter wie auch Paul Klee. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg war das anders. Ich habe auch den verspielten Cy Twombly gefragt, ob er nicht gewisse formale Ähnlichkeiten mit Alexander Calder hätte. Nein, der sei ihm zu leicht und heiter gewesen.

Erinnerung an Bruegels „Karnevalfest“ von 1559 im Bruegel-Jahr 2019 in Bokrijk

Aber Beuys steht doch in gewisser Weise in einer flämischen Tradition. Hatte er nicht auch etwas Eulenspiegelhaftes?

Wenn die Leute Humor hätten, dann würden sie das verstehen können. Seine niederrheinische, niederdeutsche Tradition mit der Figur des Eulenspiegels ist auch eine volkstümliche. Ja, und dazu kommt die flämische Malereitradition. Was Borer vielleicht vermisst hat, ist diese Latinität, die die französischen Künstler haben. Und was das Christentum anbelangt, so gibt es bei Beuys auch noch einen Rückgriff auf vorchristliche Kulte, die in Mitteleuropa geherrscht haben. In der keltisch-germanischen Götterwelt leben die Götter alle in Bäumen. (lacht) Meine Großmutter hat mir immer von dem Hl. Bonifatius erzählt, wie der im 7. oder 8. Jahrhundert nach Thüringen und Hessen gekommen ist und das Christentum gepredigt hat. Und einmal ist er auf ganz widerborstige Ansässige in Fritzlar gestoßen. Dann hat er die Axt gezogen und hat die Donarseiche gefällt, um ihnen zu zeigen, dass sie sich auf diesen Gott nicht verlassen können. Die Eiche fiel um, und der Himmel ist nicht eingestürzt. Das fand ich dann sehr komisch, dass Beuys am Ende 7000 Eichen in der Nähe von Fritzlar gepflanzt hat.  (lacht)

Das ist nicht nur eine grüne Tradition…

Die neue Religion ist jetzt die grüne Gesellschaft. Frau Baerbock, die mit Familiennamen Holefleisch heißt. Das ist der Name ihres Mannes, den sie immer verbirgt. (amüsiert)

Sie sagten auch einmal „Kunst ist eine psychische Sonde“, manchmal eben auch eine Narretei? 

Kunst ist ein Psychopharmakon, eine Medizin.

Deswegen ist Beuys auch der schamanische Heiler, oder?

Das ist halt eines seiner Themen, dass man durch Erzeugung ungeheurer Ruhe und Konzentration Menschen auch heilen kann. Das wird auch heute noch im Himalaya gepflegt, selbst, wenn da inzwischen auch schon Pfizer und Biontech angekommen ist. Es sind schöne Zusammenhänge, die sich in den kulturellen Bereichen so ergeben.

Trifft der Spruch von Beuys „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung auch auf Sie als Verleger zu? Sie haben ja unermüdliche Energien auf das komplizierte Verlegen von Kunstbüchern verwandt?

Mir ist schon klar, dass ich diese Energien nur aufbringen kann für die Bücher, die ich mache und für die Sammlung, die ich zusammengetragen habe. Wenn ich ein Ingenieurstudium gemacht hätte und jetzt Heiztanks, Schiffe oder Autos bauen müsste, dann würde mir das nicht gelingen. Jede Sache, die sich an die Öffentlichkeit wendet, zeichnet sich per se durch eine besondere Hingabe aus. Man muss dem Publikum immer mehr bieten, als es erwartet. Wenn Sie sich als Clown auf den Marktplatz stellen, dann müssen Sie es schon gut machen. Ob das jetzt schon Kraftvergeudung ist, wenn man etwas besonders gut macht, oder es genau das ist, was der eine, den man erreichen kann, dann wahrnimmt, das weiß man nicht so genau. „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung“ hat natürlich das Verbrennen in sich. Schauen Sie sich mal jemanden an wie R.W. Fassbinder, der 37 Filme in 10 Jahren gemacht hat, da brennt die Kerze von beiden Enden her. Die brennt dann halt kürzer. Aber ich denke, dass alle Leute, die etwas Existenzielles betreiben, was ihnen einen existenziellen Rückhalt gibt, diese Komponente in sich haben. Ich will damit nicht sagen, dass so etwas nicht auch mal nachlassen kann. Normalerweise sorgt die Natur dafür, dass man im hohen Alter die Konzentration verliert oder körperlich eingeschränkt wird. Beuys hat immer gesagt: „Es wäre doch tragisch, wenn ich sterben müsste und ich wäre nicht erschöpft“.

Haben Sie solche Überlegungen nicht doch auch dazu gebracht, sich von Teilen Ihrer Sammlung zu trennen?

Ich komme jetzt in ein Alter, wo man weiß, dass man nichts mitnehmen kann.

Aber Sie gucken sich auch gerne Ihre eigenen gesammelten Schätze an.

Das hängt wohl mit dem Alleinleben zusammen. Das ergibt sich dann halt. Da gibt es eben keine Parties in der Wohnung. So war ich schon lange vor Corona geeicht. In einer Kunstsammlung mit Beuys-Objekten konnte man keine Karnevalsfeste feiern. Ganz abgesehen davon, dass    bis auf ein paar Freunde und Bekannte– die meisten völlig erschreckt das Weite gesucht haben.

Sie haben keine Sorge, dass die vergänglichen Dinge in Ihren gesammelten Werken, wie etwa Filz, bei Ihnen verlorengehen?

Da habe ich ein ganz einfaches Konzept. Es wird mich noch überleben. Meine Vergänglichkeit ist viel vergänglicher.

Als die Motten auf dem Filz?

Ich war jetzt gerade wieder in Darmstadt und habe mir den Beuys-Block angeguckt. Man nimmt man zwar Alterungsspuren wahr. Aber es sieht insgesamt relativ zufriedenstellend aus. Und dann sagt man sich: Was für ein Rätsel? Es bleibt einfach ein schönes Rätsel, was da eingerichtet wurde.

Sie haben aber auch die Erfahrung in Museum Morsbroich gemacht, dass Ihre Beuys-Badewanne sauber geschrubbt wurde. Das hat ja zunächst auch mal Prozesse nach sich gezogen, ist aber wieder gut ausgegangen, weil Beuys sie wiederhergestellt hat…

Nun, die steht ja jetzt im Lenbachhaus.

Treffen mit Lothar Schirmer in der Zeitschrift …IN RHEINKULTUR beim Aufbau der Beuys-Ausstellung vor 10 Jahren im K20 in Düsseldorf, Foto: Petra Kammann

Genau, Sie haben ja einen Teil Ihrer Sammlung ans Lenbachhaus in München abgegeben wie zum Beispiel das Werk „Vor dem Ausbruch aus dem Lager“. Man hätte sich auch vorstellen können, dass das in Düsseldorf gelandet wäre, was ja immerhin die Wirkungsstätte von Beuys war.

Man kann so etwas ja nur sinnvoll machen, wenn eine Anfrage da ist. Diese Arbeit ist ja in Bremen und im Lenbachhaus gezeigt worden. Und die Lenbachhäusler hatten so eine Art Erweckungserlebnis bei dem Objekt „Zeige Deine Wunde“. Nachdem sie sich zunächst darüber echauffiert haben, haben sie dann die metaphysische Seite von „Zeige Deine Wunde“ und von dieser Art Kunst wahrgenommen. Bayern ist ja ein sehr katholisches Land. Und sie haben auch mit großer Verwunderung dann gesehen, dass sich in München ein gewisser Sammlungsschwerpunkt für Beuys gebildet hatte mit der Sammlung Schellmann und der Sammlung Klüser und mit meiner Sammlung. Dazu kam die Sammlung vom Lenbachhaus selbst. Auch in der Staatsgemälde-Sammlung war plötzlich ein großer Beuys-Anteil vorhanden. Da waren sie ganz offen dafür. Die Widerstände in Düsseldorf wären gewesen, dass das  Museum eine Art Outlet des Rheinischen Kunsthandels hätte sein müssen. Da kann man so eine Privatsammlung, die neben dem Kunsthandel entstanden ist, vielleicht nicht so gut feiern. Und für Bremen war es einfach noch zu früh. Das sind halt Protestanten. Aber das mag ja alles noch kommen.

Sie sprachen vom Erweckungserlebnis der Münchner für „Zeige Deine Wunde“. Betrifft das vielleicht auch eine Auseinandersetzung mit Auschwitz?

Man kann den ganzen Beuys ja als eine Reaktion eines sensiblen jungen Mannes auf die Erfahrung des Holocausts sehen. Aber wenn Sie bei diesem Objekt diese pathologischen Leichenbahren anschauen, so sehen Sie solche Bahren mit Decken drüber auch an jedem Sonntagabend im „Tatort“ (lacht).

Auschwitz bezieht sich natürlich eher auf den Darmstädter Komplex aus der Sammlung Ströher.

Darmstadt hat ja tatsächlich eine Auschwitz-Vitrine in der Sammlung. Bei „Zeige Deine Wunde“ ist es eine urchristliche Erfahrung. Man denkt ja immer, das kommt im Neuen Testament vor. Es handelt sich aber nicht um ein Christus-Wort. Es kommt von Johannes dem Täufer. Beuys hat das Memento mori dann aufgegriffen. Und es passt dann – unabhängig von der biblischen Geschichte – auch bestens in die ganze Welt der Psychoanalyse und der Heilung von Wunden, von Traumata.

Glauben Sie, dass es einer heutigen Generation, die den Krieg nicht erlebt hat, etwas zu sagen hat? Dass die sich das anhand der Bücher, die Sie gemacht haben, wieder vor Augen führen kann? Die Jungen sind ja eher mit virtuellen Realitätserfahrungen aufgewachsen wie mit dem Handy und den flachen Bildern, die darüber laufen? Krieg und Armut sind der Generation der Erben eher fern, ebenso wie die Brüche der Nachkriegszeit und des geteilten Deutschlands. 

In den Museen und in den Büchern ist das ja aufgehoben. Es wird Zeiten geben, wo das eher an den Rand rückt und dann wird es wieder Zeiten geben, wie jetzt mit Corona, in denen man das Gefühl hat, dass wieder so ein metaphysisches Moment aus der Krise wächst. Es kann auch sein, dass so etwas in der puren Lebensfreude endet, sobald Lebensfreude wieder möglich ist. Ich denke, da wird ein Nachholbedarf sein. Aber auch für Wagner und für Opern. Diese Tradition wird immer wieder weitergegeben, weil sich die deutsche Kultur das Musiktheater leistet und es pflegt. Und daneben gibt es wieder Hollywood-Filme und Kinos und Netflix, was in übrigen die größte Infektionsquelle ist, wenn nämlich sechs Leute auf einem Sofa sitzen und die gleiche Netflixserie gucken. Aber dass das Fernsehen abgestellt wird, soweit gehen unsere Virologen noch nicht…

Haben Sie eine Figur wie Beuys als Nachfolger in Ihrem Verlegerprogramm? Wer könnte so etwas sein?

Beuys hat mit seinem Bienenfleiß, seiner Tiefgründigkeit, seiner Arbeitsamkeit wenig direkte Nachfolger hinterlassen. Aber zwei sind doch zu erwähnen, die würdige Nachfolger wären. Der eine ist leider schon gestorben und heißt Christoph Schlingensief, die andere ist die serbische Künstlerin Marina Abramovic. Sie hätten so etwas fortsetzen können. Aber mit ihnen Bücher machen?

Die Beuys-Ausstellung im Düsseldorfer K20 ist derzeit geschlossen; Foto: Garance Madec 

Kennen Sie zeitgenössische Künstler, die von Beuys geprägt sind?

Wenn ich in den Katalog der aktuellen Düsseldorfer Beuys-Ausstellung schaue, das sind da kosmopolitische Übungen im Spiel. Für mich scheint da aber eher die Kuratorenmode durch. Weg von den „alten, weißen Männern“ hin zu mehr indischen Frauen. Ob das angeschaut wird und ob das etwas mit Beuys zu tun hat? Aber nun haben ja gerade alle Museen dichtgemacht, dass man es nicht sehen kann. Da bin ich fast zur Sabotage des öffentlichen Dienstes am Versorgungsauftrag an den Herzen und den Phantasien der Bevölkerung bereit. Die Museen könnte man doch durch ein schlichtes Drosseln der Besucherströme immer infektionsfrei gestalten bei den hohen und weiten Räumen. Für uns ist das ganz schlimm. Mit jedem dieser geschlossenen Museen ist auch eine gute Kunstbuchhandlung geschlossen.

Wenn die Notbremse gelöst wird, können Sie Ihre insgesamt 38 Bücher / Bildbände zum Thema Beuys zum Verkauf anbieten. Sind die eigentlich noch alle lieferbar?

Nein. 13 sind vergriffen. Aber es kommen noch vier weitere in diesem Jahr dazu: Ute Klophaus zum Beispiel. Da wurde die entsprechende Ausstellung im Von der Heydt-Museum auf Oktober verschoben. Im November gibt es dann noch die Erich-Marx-Feierlichkeiten (Sammler) in Berlin anlässlich seines 100. Geburtstags, den er nicht mehr erlebt hat. Beuys und Marx waren ein Jahrgang, nämlich 21. Das wollen die Berliner zusammenrücken. Dann folgen noch das Lehmbruck-Museum und die Bundeskunsthalle mit Ausstellungen.

Dass nicht alles erläuterbar ist, etwas rätselhaft bleibt, ist ja auch ein wichtiger Aspekt für gute Kunst, wie Sie in Bezug auf  den Beuys-Block sagten.

Auch wenn alles erklärt werden muss, zum Schluss bleibt es doch ein Rätsel. Darüber könnte ich noch gut 15 Jahre publizieren. Selbst beim 40. Jubiläum der „Grünen“, die eigentlich von Beuys gar nichts mehr wissen wollten, fand ich doch, wie er da so auf dem Parteitag auftrat, war das ziemlich bemerkenswert. Wie er in Erscheinung trat – in Bild und Ton.

Und dass er dann auch etwas geschaffen hat, was den Grünen sehr gut gefallen müsste, wie die Pflanzung der 7000 Eichen. Und welcher der vielen Sprüche von Beuys hat Sie besonders geprägt?

„So wie der Mensch nicht da ist,

sondern erst entstehen muß,

so muß auch die Kunst erst entstehen,

denn es gibt sie noch nicht.“

 

HUT AB! KOPF AN! Joseph Beuys zum Hundertsten!

Wegen der Pandemie fand das Interview am 4. Mai 2021 per Telefon statt. Es ist als Podcast abrufbar unter: www.eulengasse.de

Einladung zum Gespräch am 16. Mai 2021 um 12 Uhr im Filmforum Höchst unter www.filmforum-höchst.de über den Film „BEUYS“ von Andres Veiel, der derzeit in der Mediathek von ARTE zu sehen ist.

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