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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Briefe ohne Unterschrift“ im Frankfurter Kommunikationsmuseum

„DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio“ – Hetzsendung oder Ventil für Alltagsnöte?

Von Hans-Bernd Heier

Die BBC strahlte von 1949 bis 1974 im Hörfunk die Sendung „Briefe ohne Unterschrift“ aus. Diese war fester Bestandteil der Nachrichtensendung „Programm für Ostdeutschland“. DDR-Bürger*innen konnten in anonymen Briefen ihre Alltagsnöte und -sorgen schildern, aber auch unzensiert ihre Meinung zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen und Entwicklungen äußern. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) stufte das Programm schnell als Hetzsendung ein, mit der der Westen die „politisch-ideologische Zersetzung der DDR-Bürger“ voranzutreiben versuchte. Entsprechend rigoros ging das MfS gegen die Briefeschreiber*innen vor, wenn diese dekuvriert wurden. Das Museum für Kommunikation Frankfurt greift die spannungsgeladene Zeit in der tief beeindruckenden Schau „Briefe ohne Unterschrift – DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio“ auf.

Mit diesem Hingucker an der Fassade wirbt das Kommunikationsmuseum für die Schau; © Studio IT’S ABOUT; Foto: Hans-Bernd Heier

Gleich zu Ausstellungsbeginn werden Besucher*innen stimmungsvoll mit Glockengeläut des Big Ben begrüßt und hören die Aufforderung „Schreiben Sie uns, wo immer Sie sind, was immer Sie auf dem Herzen haben.“ Mit diesen Worten lud die populäre BBC-Radiosendung „Briefe ohne Unterschrift“, Hörer*innen aus Ostdeutschland zum Briefeschreiben ein. Die anonym verfassten Briefe gelangten über regelmäßig wechselnde Deckadressen in West-Berlin zur BBC nach London. Ausdrücklich mahnte der Sender, keine Angaben zu machen, die möglicherweise Hinweise auf die Autorin oder den Autor geben könnten.

Aus fünf Röhrenradios tönt die Stimme des BBC-Moderators; Ausstellungsansicht: „Briefe ohne Unterschrift“Frankfurt; © Sven Moschitz / MSPT Frankfurt, Museum für Kommunikation 

Das vom German Service der British Broadcasting Corporation in deutscher Sprache ausgestrahlte 20-minütige Programm war jeden Freitag ab 20.15 Uhr zu hören. Ein Team von Sprechern und Sprecherinnen las ausgewählte Briefe vor, die ungeschönte und direkte Einblicke in den DDR-Alltag boten. Der langjährige Moderator Austin Harrison kommentierte mit seiner sonoren Stimme mit leichtem englischen Akzent die anonymen Schreiben. Obwohl nicht nur „Meckerbriefe“ und Hilferufe, sondern auch Pro-DDR-Schreiben, welche die Vorteile der Verhältnisse in Ostdeutschland lobten, bei der Redaktion eingingen und verlesen wurden, entwickelte sich das Hörfunk-Programm zu einer politisch hochbrisanten wie auch emotional aufgeladenen Radiosendung im Propagandakrieg der deutschen Teilung.

Die Grafik „Zeitgeschichte“ im Eingangsbereich zeigt Meilensteine, die für Gesellschaft und Kulturleben in der DDR relevant waren und dementsprechend auch in den Briefen an die BBC thematisiert wurden; Foto: Hans-Bernd Heier

Dem BBC-Aufruf folgten viele Ostdeutsche trotz der Gefahr, identifiziert und strafrechtlich verfolgt zu werden. In einem Archiv des Londoner Senders befinden sich noch heute rund 40.000 dieser Briefe, die in Vergessenheit geraten waren, bis die Schriftstellerin Susanne Schädlich diese 2012 eher zufällig bei Recherchen wiederentdeckte und in dem Buch „Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte“ aufgearbeitet hat. Diese profunde Publikation gab den Anstoß zu der beeindruckenden, von Katharina Schillinger kuratierten Schau, im Frankfurter Kommunikationsmuseum, die bis zum 5. September 2021 zu sehen ist.

Austin Harrison moderierte die Sendung von 1955 bis zu ihrem Ende 1974; Foto: © BBC

Die Ausstellung ist in drei Themenbereiche gegliedert: das Zuhause der Schreiber*innen, die Zentrale der Staatssicherheit und das BBC-Studio. Von staatlicher Seite war der Konsum westlicher Medien in der DDR nicht erwünscht. Dennoch wurden diese, sofern sie zu empfangen waren, gehört und gesehen. Neben Unterhaltungsformaten und Musiksendungen boten sie den Hörer*innen auch politische und kulturelle Informationen. Sie leisteten damit einen wichtigen Beitrag für die kritische Meinungsbildung in Ostdeutschland. Beim Hören gingen die Nutzer*innen allerdings ein hohes Risiko ein. Insbesondere in den 50er und 60er Jahren ging der Staat mit groß angelegter Propaganda gegen den Konsum von Westmedien vor. Daher hielten die Bürger*innen privates „Westen Hören“ möglichst geheim und sprachen allenfalls hinter vorgehaltener Hand über das Gehörte.

Tausende hörten und sahen nicht nur die Beiträge westlicher Medien, sondern wurden auch aktiv. Dies belegt beispielsweise die große Resonanz auf „Briefe ohne Unterschrift“. In Briefen äußerten Hörer*innen ihre persönliche Meinung – sei es handschriftlich mit Tinte oder Bleistift auf Schulheftseiten, sei es maschinengeschrieben oder gar auf Luftpostpapier. Die unterschiedlichen Briefformen spiegeln die Verschiedenheit der Schreiber*innen wider. Allen gemeinsam war der Wunsch freier Meinungsäußerung, der stärker war als die Angst vor eventuellen Konsequenzen.

Doch wie denken die Briefeschreiber*innen heute über die BBC-Aktion? Drei Zeitzeugen erzählen rückblickend von ihren persönlichen Erlebnissen – vom Verfassen der Briefe bis zur Verhaftung. Die aktuelle Sicht der Beteiligten auf die Vergangenheit setzt Fragen der Meinungsfreiheit damals und heute in Bezug zueinander. Fallakten des MfS führen dabei vor Augen, mit welchen Methoden die Stasi gegen die Verfasser*innen vorging. Sie sind jetzt im Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik einsehbar.

Fotos von Karl-Heinz Borchardt, erstellt nach seiner Verhaftung, 31. Aug.1970; © BStU

Einer der Zeitzeugen ist Karl-Heinz Borchardt aus Greifswald. Als 16-Jähriger schrieb er zum ersten Mal an den „Londoner Rundfunk“. Anlass für ihn waren die politischen Ereignisse um den Prager Frühling in der CSSR im Jahr 1968, über die er sich durch die staatlichen Medien nicht hinreichend informiert fühlte. Er schrieb an die BBC-Redaktion: „Mir gefällt diese Sendung sehr gut. Weil diese die Meinung von Bürgern zeigt, die nicht in unserer Presse steht“. In zwei weiteren Briefen im darauffolgenden Jahr thematisiert er  die allgemeine Situation sowie das Schulsystem der DDR. Auch diese Schreiben wurden abgefangen.

Umschlag mit Borchardts Deckadresse an die BBC; © BStU

Mit akribischen, äußerst aufwendigen Recherchen gelang es dem Staatssicherheitsdienst, den Autor ausfindig zu machen: Borchardt hatte in dem handschriftlichen Schreiben, das in Greifswald abgestempelt war, erwähnt, dass er Schüler sei. Die Stasi veranlasste daraufhin, dass die Schüler*innen in Greifswald in einem Aufsatz ihre Berufswünsche aufschreiben sollten. Durch einen Handschriftenvergleich konnte der Briefschreiber dekuvriert werden.

Aufgrund der „Hetzbriefe“ wird Borchardt,kurz nach seinem 18. Geburtstag, am 31. August 1970, verhaftet und wegen „staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme und staatsfeindlicher Hetze“ nach Paragraph 100 und Paragraph 106 des Strafgesetzbuches der DDR angeklagt. Nach langen Vernehmungen und sieben Monaten Untersuchungshaft wird der Schüler zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Anfang September 1971 wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

Danach sollte er in den Westen abgeschoben werden, was Borchardt aber ablehnte, weil „die Familie hinter ihm stand“, wie er in einer Zoom-Konferenz unlängst betonte. Er konnte später sogar das Abitur auf dem 2. Bildungsweg nachmachen. Dazu ist an einer Hörstation ein Interview mit dem heute 68-jährigen zu hören. Auch über die persönlichen Schicksale anderer Briefeschreiber sind exklusive Interviews zu hören, für die die Besucher*innen sich Zeit nehmen sollten – es lohnt!

Anschriftenfahndungstafel in einem Postamt; © BStU

In den Postämtern unterhielt das MfS eigene Abteilungen. Die Post war verpflichtet, alle Sendungen an die Stasi-Mitarbeiter*innen zu übergeben, die diese systematisch kontrollierten und bei Verdacht auch öffneten. Briefe von überwachten Personen und Institutionen wurden zur Kontrolle aussortiert. Einbehalten und archiviert werden auch Briefe an westliche Medien.

Die Anschriften- und Merkmalsfahndung war wichtiger Teil der Postkontrolle. Dabei filterten hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter*innen in Postuniformen den Briefverkehr. Sie sortierten Sendungen mit auf der Tafel verzeichneten Anschriften aus. Zu den verdächtigen Adressen zählten auch die von Briefen ohne Unterschrift genutzten Deckadressen. Anhand der abgefangenen Briefe wurde mit enorm hohem Aufwand und einem ausgeklügelten System nach der Identität der Schreiber*innen gesucht – unter anderem mit Hilfe von Schriftanalysen und auch konspirativ beschafften Speichel- und Blutproben.

Austin Harrisons beim Einwerfen einer Postsendung; als „Werfer“ wird dieser Vorgang in der „Decknamenkartei“ des MfS geführt; © BStU

Ins Fadenkreuz der Stasi gerieten auch die Mitarbeiter*innen der BBC. Hinter deren Tätigkeiten vermutete das MfS konkrete Spionageabsichten gegenüber der DDR. Aus diesem Grunde wurden das Berliner Büro der BBC wie auch die Bewegungen der Mitarbeiter*innen akribisch überwacht. Insbesondere Moderator Austin Harrison, der die Sendung von 1955 bis 1974 moderierte und die Hörerbriefe mit seiner unverwechselbaren Stimme kommentierte, stand unter strenger Beobachtung. Seine Observierung lief unter dem Decknamen „Werfer“; maßgeblicher Informant war der Inoffizielle Mitarbeiter „Carolus Winter“, der minutiös über den Redakteur berichtete.

Im Kommunikationsmuseum sind Tonbandmitschnitte zu hören, die das MfS von den Sendungen angefertigt hatte; sie werden zusammen mit den jeweiligen Originalbriefen aus dem Archiv der BBC präsentiert.

Ausstellungsansicht „Briefe ohne Unterschrift“, Museum für Kommunikation, Frankfurt; ©Sven Moschitz / MSPT

Die Sendung „Briefe ohne Unterschrift“ wurde 1974 eingestellt, weil nach dem Prager Frühling die Zahl der Briefsendungen stark zurückging. Außerdem hatte Großbritannien 1973 die DDR anerkannt und eine Botschaft in Ost-Berlin eingerichtet.

Auch heute ist Meinungsfreiheit in vielen Ländern keineswegs ein selbstverständliches Recht. Da die Gesetzeslage international erheblich variiert und das Verbreiten kritischer Meinung nicht überall erlaubt ist, können auch jetzt noch die juristischen und gesellschaftlichen Folgen für die Verfasser*innen drastisch sein. Wo und mit welchen Mitteln sich derzeit viele Menschen weltweit für politische und gesellschaftliche Teilhabe sowie freie Meinungsäußerung einsetzen, wird zum Ende der vielseitigen Schau am Beispiel von sechs international bekannter Aktivist*innen aufgezeigt: Colin Kaepernick, Malala Yousafzai, Deniz Yücel, Raif Badawi, Nadja Tolokonnikowa und Yasaman Aryani.

Bei einer interaktiven Station können Besucher*innen schließlich ihre persönliche Meinung zu der Frage „Wie frei fühle ich mich in meinen Äußerungen“ reflektieren und sich anonym auf einer Skala verorten.

Die Ausstellung „Briefe ohne Unterschrift – DDR-Geschichte(n) auf BBC Radio“, die von der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ gefördert wird, ist bis zum 5. September 2021 im Museum für Kommunikation Frankfurt zu sehen.

 

Weitere Informationen unter: www.mfk-frankfurt.de und im digitalen Expotizer, mit dem die Ausstellung online erkundet werden kann:

https://briefe-ohne-unterschrift.museumsstiftung.de/

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