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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

4. Lichter Filmfest Frankfurt International

„2021 Bestes Regionales Programm aller Zeiten“

von Renate Feyerbacher

Wieder ein Kino-Ereignis. Das Lichter Filmfest, das seit 2008 immer aufs Neue im Frühling die Filmfreunde in die Frankfurter Kinos und in die der Umgebung lockt, ist zwei Wochen lang nur digital zu erleben. Einen Hoffnungsschimmer gibt es später dann für „Open Air“ mit Höhepunkten aus dem Festivalprogramm. Mal seh’n, was Corona zulässt.

Das Plakat zum diesjährigen Lichter Filmfest

Das Team des Lichter Filmfest, das sind die Leiter und Leiterinnen, die Gründungsmitglieder Georg Maria Schubert und Johanna Süß, die Verantwortlichen für Organisation, Finanzen und Presse sowie die um die etwa 40 ehrenamtlichen Film- und Medienexperten und Liebhaber, hat sage und schreibe über 200 Filme gesichtet. Mehr als 80 Beiträge haben sie nun für das Filmfest ausgesucht.

Vom Thema „Wandel“ – so das diesjährige Motto, das bereits vor der Pandemie festlag– handeln 20 Langfilme. Wie hat sich unsere Gesellschaft nach der pandemischen Krise verändert, bzw. wie wird sich gewandelt haben? Die derzeit zunehmende Aggressivität lässt nichts Gutes ahnen.

Im Filmland Hessen indes hat sich was getan. Das beweisen zwölf Filme, allerdings sind zwei davon nur für Juroren online zu sehen. Insgesamt sind es aber sechs Spiel- und sechs Dokumentarfilme, die in der Sektion Regionale Langfilme im Programm stehen.

Zu sehen als Weltpremiere ist der bereits 2020 mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnete  Beitrag „Wer wir waren“ von Marc Bauder. Der Regisseur von „Master of the Universe“ (Dokumentarfilm 2013 – Europäischer Filmpreis, Grimme Preis für den Spielfilm „Dead Man Working“ 2017) ließ sich für diese Dokumentation von der Zukunftsrede des Publizisten, Fernsehmoderators, Autors und Filmproduzenten Roger Willemsen (1955-2016) „Wer wir waren“ inspirieren: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“ (Willemsen)

Alexander Gerst in „Wer wir waren“ von Marc Bauder – Still: Kameramann Börres Weiffenbach

Bauder streift durch die Gegenwart, zeigt die unerforschten Tiefen des Ozeans und die Unfassbarkeit des Weltalls und lässt sechs Protagonisten wie die mittlerweile 85-jährige Meeresforscherin und Aktivistin Sylvia Earle, den Astronauten Alexander Gerst, den Wirtschaftswissenschafter Dennis J. Snower, den Sozialwissenschaftler Felwine Sarr, die 1984 in Wien geborene Philosophie-Professorin Janina Loh und den buddhistischen Mönch und studierten Molekularbiologen Matthieu Ricard zu Wort kommen.

Es werden Modelle vorgestellt, wie eine lebenswerte Zukunft und Welt gestalten werden könnte. Finanziert wurde „Wer wir waren“ vom Hessischen Rundfunk, gefördert von HessenFilm.

Ein weiterer Höhepunkt aus dem Regionalen Langfilm-Programm ist der Spielfilm „Borga“, (Hessenpremiere) von York-Fabian Raabe, der beim Max Ophüls Preis im Januar 2021 vier Auszeichnungen holte: Bester Spielfilm, Publikumspreis und Preis der Ökumenischen Jury. Borga bedeutet „der reiche Onkel im Ausland“.

Der in Kassel lebende Regisseur, der zusammen mit Toks Körner das Drehbuch schrieb, und der mit dem Kameramann Tobias von dem Borne unter anderem an Originalschauplätzen in Ghana drehte, kam auf die Idee zu dieser Geschichte, als er 2010 bei Dreharbeiten zum Kurzfilm „Zwischen Himmel und Erde“, den in Düsseldorf geborenen  Schauspieler Eugene Boateng, Kind ghanaischer Eltern, kennenlernte, der ein viel beschäftigter und vielseitiger Künstler in Deutschland ist. Boateng spielt den jungen Ghanaer Kojo. Für diese Rolle  wurde er ausgezeichnet.

Die arme Familie wohnt in der Nähe einer Elektroschrottmüllhalde in Accra, auf der auch Kojo arbeitet. Schließlich trifft er einen Borga, der es augenscheinlich zu Wohlstand gebracht hat. Sein Jugendfreund Nabil nimmt Kojo mit zu seinem Onkel nach Deutschland, der angeblich auch ein Borga ist. Nabil kommt bei dem beschwerlichen Versuch, nach Deutschland zu gelangen, um. Kojo landet in Mannheim und muss erfahren, dass es den reichen Onkel gar nicht gibt.

Ein turbulentes Leben beginnt, wie es viele Migranten erleben. Dabei bleibt Kriminalität nicht aus. Aber Kojo gibt trotz schlimmer Rückschläge nicht auf. Schließlich ist die Familie in Afrika ein versöhnlicher Hort. Das Ende ist ungewöhnlich, aber für Raabe ist die Familie ein wichtiger Aspekt ebenso wie das Geschehen um den Elektroschrott, mit dem Europa Afrika zuschrottet.

 Ausgezeichnet: Boateng spielt Kojo, den jungen Ghanaer, von York-Fabian Raabe; Still @Tobias von dem Borne

Der Film erzählt realistisch und authentisch von den falschen Erwartungen, die Afrikaner und Europäer voneinander haben. Gefördert wurde die deutsch-ghanaische Produktion von HessenFilm sowie von der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg,

„street line“:Das Mainzer Regieteam, Lisa Engelbach und Justin Peach, ist nach Jahren nach Nepal zurück gekehrt, um  zu erfahren, was aus dem Straßenjungen Sonu geworden ist.

Der Frankfurter Regisseur Enrico Corsano porträtiert den Darmstädter Schlagzeuger Thomas Betzler: „Tommy B.“ feiert Weltpremiere. Leben und Karriere des englischen Heldentenors John Treleaven schildert sein in Wiesbaden lebender Sohn Lawrence Richard in der biografischen Dokumentation „Son of Cornwall“. Treleaven sang in Wagners „Tristan und Isolde“ den Tristan auf allen internationalen Opernhausbühnen, so auch in Frankfurt. Er verkörperte den Tristan schlechthin.

Der meist schlecht gelaunte Rentner Konrad, gespielt von Jürgen Prochnow, lernt die zehnjährige Thurba, die von zu Hause abgehauen ist, aus dem Yemen kennen, als die Polizei die Familie abschieben will. Die Situation lässt Konrad nicht kalt. Von der Freundschaft, die zwischen Konrad und Thurba entsteht, erzählt der Spielfilm des Frankfurter Regisseurs Jakob Zapf: „Eine Handvoll Wasser“.

In „Mein Vietnam“ des Offenbacher Regisseur-Teams Tim Ellrich und Hien Mai wird ein vietnamesisches Ehepaar vorgestellt, das sich mittels Skype und Chatroom seine eigene virtuelle Vorstellung von Vietnam macht und dadurch keinen Bezug mehr zu Deutschland findet.

„The Wasteland“ des iranischen Filmemachers Achmad Bahrami wurde auf der Biennale in Venedig ausgezeichnet

Das Internationale Langfilmprogramm  ist beachtlich. Nur ein Film soll hier erwähnt werden: die Deutschlandpremiere von „The Wasteland“ (Ödland) des iranischen Filmemachers Achmad Bahrami, der in einer abgelegenen iranischen Ziegelei spielt, wo die Arbeiter und Arbeiterinnen  ums Überleben kämpfen –  eine Hommage an seinen Vater und alle Arbeiter- und Arbeiterinnen weltweit: „Ohne ihre Bemühungen hätte die menschliche Zivilisation diesen Fortschritt nicht erreicht“, sagt der Regisseur. Der in schwarz-weiß gedrehte Spielfilm wurde auf der Biennale in Venedig ausgezeichnet.

In Zukunft Deutscher Film ist „Das neue Evangelium“ (2019 Produktion Deutschland, Schweiz, Italien) von Milo Rau ein Höhepunkt. Der Schweizer Filmemacher führt darin an den Ort Matera in Süditalien, der durch seine Höhlensiedlungen bekannt wurde (UNESCO Weltkulturerbe) und der auch von Pier Paolo Pasolini als Filmort für „Das 1. Evangelium –  Matthäus“  (1964) gewählt wurde.  Matera war auch für etliche andere  Filmschaffende der ideale Drehort.

„Das Neue Evangelium“  – ein Manifest der Ärmsten führt uns Milo Rau vor Augen

Im epd-Film-Heft von Dezember 2020 nennt der Filmkritiker Georg Seeßlen das interdisziplinäre Projekt „eine erstaunlich gute Verbindung von spirituellem Gleichnis und politischem Lehrstück [..]  Man kann beinahe über jedes seiner Projekte und über jede Wahl seiner Mittel streiten. Etwas Besseres kann man über die Kunst zurzeit kaum sagen.“

Das 14. Lichter Filmfest hat also wieder viel zu bieten. Natürlich werden Preise verliehen, es wird gefeiert und diskutiert – natürlich alles gestreamt. Die Zuschauer haben die Gelegenheit, sich zwei Wochen lang vom 27. April bis zum 2.Mai Filme auf Kino on Demand anzusehen. Einige werden später beim Freiluft-Sommerkino, also vor Publikum, noch einmal gezeigt werden.

Tickets, die 8 Euro kosten, gibt es unter www.lichter-filmfest.de

 

 

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