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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Salon kontrovers: Briefe – Schreiben und Lesen“ mit Nelly Sachs und Paul Celan im Holzhausenschlösschen

Korrespondenz(en) zwischen Paris und Stockholm und ein Blick hinter die Kulissen einer virtuellen Lesung

Von Petra Kammann

„Wir wollen uns weiter einander die Wahrheit hinüberreichen“, heißt es im Holzhausenschlösschen. Da wurde die Lesung für „Salon kontrovers: Briefe – schreiben und lesen“, konzipiert von der Frankfurter Autorin Hanne Kulessa, aufgezeichnet, um sie dem derzeit abwesenden Publikum nahezubringen. Birgitta Assheuer und Thomas Hupfer lesen den intensiven und wachsend innigen Briefwechsel, den zwei Dichter mit ähnlichen Schicksalen im Exil von 1954 bis 1969 unterhielten – die seit 1940 in Stockholm lebende Nelly Sachs und der seit 1948 in Paris lebende Paul Celan. Kurz nacheinander starben 1970 die beiden großen Dichter der Weltliteratur. Celan hatte sich bereits am 20. April in Paris das Leben genommen, und am 12. Mai starb die kranke und geschwächte Nelly Sachs in Stockholm.

Begehrter Veranstaltungsort : Das Holzhausenschlösschen im Frankfurter Nordend; Foto: Petra Kammann

Waren es früher die Abendveranstaltungen, zu denen mich der Weg zu einem (Jazz-)Konzert, einem Vortrag oder einer Leseveranstaltung über die geheimnisvoll beleuchtete Brücke ins barocke Wasserschlösschen führte, so mache ich mich nun am helllichten Tag auf ins Frankfurter Nordend, weil in Coronazeiten die Abendveranstaltung mit Publikum an diesem charmanten Ort nicht hätten stattfinden können. Deshalb überträgt die Frankfurter Bürgerstiftung inzwischen ihre Darbietungen bis auf weiteres online.

Das Gebäude selbst wirkt offen und lebendig. Vor dem von Hausherr Clemens Greve bestens gepflegten Haus mit allem, was sonst noch dazugehört, steigt aus dem Teich frisch der Strahl der Fontäne auf. Im idyllischen Park spielen ein paar Kinder den Frühling herbei – mit viel Abstand voneinander, versteht sich. Auf dem Weg dorthin begleitet mich in Erwartung der vorbereitenden Veranstaltung die unverkennbar dunkel-warme Stimme der Frankfurter Autorin Hanne Kulessa, die über viele Jahre im hr die ,Alternative– Kultur am Vormittag‘ oder als Gastgeberin in der so variationsreichen Sendung ,Doppelkopf‘ zu hören war. Kulessas reiche professionelle Erfahrungen  – Buchhandelslehre inklusive – haben in dieser Frankfurter Bürger-Institution seit ein paar Jahren einen neuen Ankerpunkt gefunden.

Einführende Worte der Frankfurter Autorin Hanne Kulessa; Foto: Petra Kammann

Kulessa ist die kenntnisreiche Erfinderin der Reihe ,Salon kontrovers‘,  zu der sie jeweils zwei kompetente Schauspieler und Vortragende bittet, die Korrespondenz herausragender schöpferischer Menschen einem geneigten und interessierten Publikum nahezubringen. Eine so lehrreiche wie reizvolle Geschichte, lässt sich doch aus Briefen überraschend Persönliches, Gesellschaftliches, Politisches und auch manch Unterhaltsames über die jeweilige Künstlerpersönlichkeit erfahren, wie zum Beispiel über die junge Berliner Schriftstellerin Ursula Ziebarth, die brieflich mit dem „berühmt-berüchtigten“ Gottfried Benn verkehrte.

Vor einiger Zeit hatte Kulessa schon das Brief-Verhältnis zweier anderer großer Dichter der Weltliteratur, nämlich das der Dichterin Ingeborg Bachmann und von Paul Celan auf die Lesebühne gebracht. Als sie im vergangenen Jahr wegen des 50. Todesjahrs zweier Autoren dann die briefliche Beziehung der Friedens- und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs mit dem Dichter und Georg-Büchner-Preisträger Paul Celan präsentieren wollte, ließ Corona es nicht zu. Doch die Frankfurter Bürgerstiftung, die nicht etwa in ihrem engagierten kulturellen Tun von der Stadt Frankfurt unterstützt wird, setzt mit dem erfindungsreichen Leiter Clemens Greve an der Spitze alles daran, Unmögliches doch noch möglich zu machen, um die charakteristischen Themen weiterzuführen und um das Haus auch in schwierigen Zeiten im konstruktiven Gespräch zu behalten.

Flugs hat Greve die Veranstaltungs-Profis ,8 days a week‘ aus Neu-Isenburg mit ihrem entsprechenden audiovisuellen Equipment engagiert, um im publikumsfreien Ernst Max von Grunelius-Saal ein Ambiente herzurichten, das Zuschauer und Zuhörer animiert, dranzubleiben. Es soll ihnen das Gefühl vermitteln, dass ihnen nichts vorenthalten wird. Unterstützt hat ihn dabei die Dr. Marschner Stiftung. Denn während nun die Eintrittsgelder wegfallen, müssen neben dem Unterhalt des Hauses noch unvorhersehbare Kosten finanziert werden wie zum Beispiel Bildschirmpräsentationen und Hygienevorkehrungen.

Die beiden Kirschbaum-Tische werden später zum Bühnenbild; Foto: Petra Kammann

Nun wird also anders produziert. Das Grüne scheint am helllichten Tage eben durch die Fenster und erinnert an den Standort des anmutigen Schlösschens am Rande des Holzhausenparks. Im Drinnen stehen die beiden Biedermeiertischchen mit Buch und Wasserglas und die mit handschriftlichen Notizen versehenen Manuskripte einträchtig beieinander und warten auf die Vortragenden. Währenddessen kontrolliert Marcus Fuhrmann von ‚8 days a week‘ auf dem Bildschirm schon mal die Videoeinstellungen, während Lucas Waxmann die akustischen Unebenheiten nach dem ersten Probesprechen am Vormittag überprüft. Denn anders als beim Live-Vortrag, wo Versprecher, Huster, Kratzer am Mikrophon und Räusperer häufig dazugehören, wird so etwas am Bildschirm ohne das entsprechend reagierende Publikum doch als störend empfunden. Dort soll der vorgelesene Text optimal verstanden werden, zumal die Textvarianten feststehen und hier nicht frei assoziiert werden.

Aufnahmeprobe im Ernst Max von Grunelius-Saal: Hanne Kulessa schaut am Bildschirm die Ergebnisse an, daneben Marcus Fuhrmann und Lucas Waxmann, ; Foto: Petra Kammann

Der Kölner Schauspieler Thomas Hupfer ist im „Schlösschen“ kein Unbekannter. Unvergesslich, wie er 2018 dem lustvollen Briefschreiber und Pianisten Glenn Gould seine Stimme zu begleitenden Klavierstücken, gespielt vom blutjungen Pianisten Julius Asal, verlieh. Heute ist er eigens am Morgen aus Köln angereist, die andere Sprecherin, Birgitta Assheuer, aus dem benachbarten Bad Vilbel. Nach einem Covid-Test und einer ersten Sprechprobe konnten sie sich die beiden zwei Etagen tiefer beim von Clemens Greve höchstpersönlich zubereitetem Mahl – kurz erholen und noch einmal besprechen, bevor die endgültige konzentrierte Aufnahme der vorgetragenen Briefe und die allmähliche Annäherung der beiden Dichtergestalten stattfindet.

Was den Schauspieler mit Celan verbinde, wollte ich wissen. Hupfer hatte sich bereits in Köln im Rahmen der Reihe „Auf-brüche“ der Freien Werkstatt Theater mit dem Leben und Werk der seinerzeit sehr erfolgreichen österreichischen Lyrikerin Ingeborg Bachmanns beschäftigt und damit auch mit deren Liebe zu Paul Celan, eine der wichtigen Lieben ihres Lebens, die sich aber nicht leben ließ. Sie scheiterte. Eine seelische Introspektion auf die Bühne zu bringen, setzt dramaturgische Phantasie voraus.

Aber auch diese Bachmann-Inszenierung, die sich mit der Psyche der Autorin beschäftigt und an der Hupfer mitwirkte, in der die so attraktive wie begehrte österreichische Dichterin mit ihrem vertrackten psychischen Kosmos auf die Bühne gebracht werden sollte, fiel dem Lockdown erst einmal zum Opfer. Für Hupfer aber eine gute Voraussetzung, sich auf andere Weise mit dem Dichter Paul Celan auseinanderzusetzen. Und so setzt er mit Blick auf das (abwesende) Publikum freizitierend und stimmlich ganz präsent mit dem Gedicht „Was geschah?“ aus Celans „Niemandsrose“ ein:

„Was geschah? Der Stein trat aus dem Berge.
Wer erwachte? Du und ich.
Sprache, Sprache. Mit-Stern. Neben-Erde.
Ärmer. Offen. Heimatlich.

Wohin gings? Gen Unverklungen.
Mit dem Stein gings, mit uns zwein.
Herz und Herz. Zu schwer befunden.
Schwerer werden. Leichter sein.“

Birgitta Assheuer, die u.a. schon beim Briefwechsel von Gustave Flaubert und George Sand im Holzhausenschlösschen las, ist, bevor es losgeht, eher still und in sich gekehrt. Die gestandene Sprecherin zahlreicher Hörbücher und Stimme in etlichen Filmen möchte sich ganz auf die Rolle der zarten und zerbrechlichen Grande Dame der Weltliteratur Nelly Sachs einlassen. Wie würde es ihr gelingen, den dramatischen Biografien beider Dichter, für die Eros und Thanatos eng miteinander verknüpft waren, die Schwere beim Lesen zu nehmen? Bevor es also mit dem Aufzeichnen losgeht, muss die Sprecherin sich äußerlich erst einmal verwandeln und aus ihren Alltagskleidern schnell noch in ein festlicheres abendliches Outfit schlüpfen.

Vorbereitung der Manuskripte, Foto: Petra Kammann

Hanne Kulessa, die sich zu Live-Zeiten früher gemeinsam mit den Sprechern vorher erst einmal in intimem Kreis in ihrer Wohnung oder am Veranstaltungsort zum besseren Kennenlernen traf, um das Zusammenspiel zu besprechen, ist die Situation ohne Publikum seltsam irreal neutral. Natürlich ist sie – wie alle an der Produktion Beteiligten – froh, dass gerade jetzt diese wichtige Veranstaltung nicht ausfällt.

Ausgestattet wie die beiden anderen Darsteller ist auch sie mit einem Übertragungskästchen am Rücken und einem angesteckten Mikrofon ausgerüstet. So geht sie unprätentiös mit ihrem Manuskript gleich ans Rednerpult und liest professionell ihre einführende Rede vom Blatt ab, für die sie etwa 12 Minuten eingeplant hat, um die biografischen Hintergründe der Korrespondenzen zwischen dem aus Czernowitz stammenden Paul Celan und der in Berlin aufgewachsenen Jüdin Nelly Sachs zu erläutern.

Am gläsernen Pult der Stiftung macht sie den politischen und persönlichen Hintergrund des Briefwechsels der beiden Dichter transparent. Somit erhellt sie die Zusammenhänge für die teils poetischen Ellipsen und Anspielungen in den Briefen. Beide sprechen da in ihren Briefen von erlittenen Verfolgungen und Verletzungen durch Antisemitimus. Nelly Sachs gelang – gerade noch rechtzeitig – die Flucht aus Deutschland, 1940 erreichte sie mit ihrer Mutter, nachdem ihr jüdischer Vater bereits 1930 gestorben war, Stockholm.

Celans Eltern wiederum waren 1942 ins Ghetto deportiert worden und kamen auch dort darin um. Dennoch handeln weder Celans Briefe noch die von Nelly Sachs nur vom erfahrenen Leid, „sondern auch von der Kraft, die sie aus der Literatur ziehen“ (Kulessa). Das macht den Reiz der ausgewählten Passagen aus. Als Dichter schätzen sie einander und können sich wegen ihrer ähnlichen Anlage auch gegenseitig Trost spenden.

Der Briefwechsel setzt ein mit einem Dankesbrief von Nelly Sachs von 1954, in dem sich die Dichterin bei Celan für seinen ihr zugeschickten Lyrikband „Mohn und Gedächtnis“ bedankt. Von Nelly Sachs waren zu der Zeit zwei Gedichtbände: „In den Wohnungen des Todes“, Sternverdunkelung“ und der Band „Erzählungen und Legenden“ als Bücher in Deutschland veröffentlicht worden.

1957 bittet Celan, der ab 1948 in Paris lebte, sie, ihm bislang unveröffentlichte Gedichte für die Literatur-Zeitschrift „Botteghe oscure“, deren deutschsprachigen Teil er mit Ingeborg Bachmann betreute, zu schicken. Es ist der erste von Celans Briefen an Nelly Sachs, der erhalten ist. Dem kommt sie ausgesprochen gerne nach. Es scheint sie zu motivieren, zumal Celans Anfrage von Respekt -„sehr verehrte gnädige Frau“ – geprägt ist und er sie als ebenbürtige Kollegin würdigt. Im gleichen Jahr erscheint auch ihr dritter Gedichtband „Niemand weiß weiter“…

Thomas Hupfer (Paul Celan) und Birgitta Assheuer (Nelly Sachs); Foto: Petra Kammann

Von „Lieber Dichter Paul Celan“ und „sehr verehrte gnädige Frau“ zu „meiner lieben guten Nelly“ und „Paul Gisèle Eric“

In der Zeit von 1954 bis 1969 schrieben sich die beiden Dichter also gegenseitig Briefe, die sie dazu animieren, auch einander real zu begegnen. Sie laden sich gegenseitig ein. Dazu kam es dann im Jahr 1960. Von da an wurden die Briefe auch immer persönlicher und vertrauter, ja geradezu familiär, bisweilen besorgt und nah. Ihre gegenseitige Wertschätzung, ihr Respekt, die Nähe und die Freundschaft ist in den Briefen noch heute zu spüren. Plötzlich entdeckt man einen Celan, der noch wegen seines hohen pathetischen Tons von der Gruppe ’47 abgelehnt wurde und der daher vielen sehr mißtrauisch begegnete, als geradezu zärtlichen und fürsorglichen Briefeschreiber. Immer wieder schicken die beiden Dichter sich gegenseitig „Wortgeschenke“.

Eva-Lisa Lennartsson, die Vortragskünstlerin, die Nellys Gedichten in Lesungen eine Stimme verlieh, begleitete sie auf der Reise nach Meerseburg, wo sie den Droste-Preis entgegennehmen sollte. Es war das erste Mal nach dem Krieg, dass Nelly überhaupt ihren Fuß auf deutschen Boden setzte. Direkt nach der Zeremonie nahm sie die Fähre über den Bodensee und kehrte wieder in die Schweiz zurück. Bei dieser Gelegenheit kam es in Zürich zu einem Treffen mit Paul Celan im „Hotel zum Storchen“.

Kurz darauf sah sie Celan in Paris wieder, wo sie auch seine Frau, die Grafikerin Gisèle Lestrange, wie auch den gemeinsamen Sohn Eric traf. Bei ihren „Seelenverwandten“ – oft nennt sie alle drei Namen wie in einem Atemzug  – fühlte sie sich sehr wohl. Zuvor hatten sie sich „nur“ Briefe geschrieben, hier wurde ihre Freundschaft besiegelt. Nelly Sachs berichtet Celan von ihrem Treffen mit Hans Magnus Enzensberger, der zu dem Zeitpunkt in Norwegen lebte und der sie mit Bengt Holmqvist, dem Literaturkritiker bei Dagens Nyheter, bekannt machte, durch den die Bande nach Paris beharrlich immer weiter gefestigt wurden.

Der Pariser Brief Paul Celans vom 30. Mai 1960 besteht ausschließlich aus einem einzigen Gedicht mit dem Titel „Zürich, Zum Storchen“, das er Nelly Sachs widmete und später in seinen berühmten Lyrikband „Die Niemandsrose“  von 1963 aufgenommen hat.

Nelly war ein Einzelkind und suchte wohl immer eine Familie. Nun hatte sie eine in Paris, bei Paul Celan, gefunden. So gibt es in ihrem immer vertrauteren Briefwechsel auch Szenen von großer Leichtigkeit, wenn Celan ihr etwa von seinen entspannten, fast lebensfrohen Besuchen mit Gisèle und ihrem gemeinsamen Sohn Eric in der Bretagne mit den friedlichen einfachen Menschen am Meer erzählt. Sie adressiert jetzt ihre Briefe an „Paul Gisèle Eric“. Und er schreibt „meine liebe gute Nelly“.

Fast kindlich scheint das Glück, wenn er sagt: „Eric schickt Dir ein selbstgemaltes Glasfenster“. Heiter und leicht wirken auch die Szenen, wenn Nelly Sachs sich (und ihn) an ihre eigene Kindheit erinnert, in der sie am liebsten Tänzerin geworden wäre, zumal die Korrespondenz ihrem Tanztraum der Kinderjahre neues Leben einhauchte. Sie legitimierte „die Bewegung des Leibes als erste Sprache vor dem Wort“. Solche und ähnliche Passagen liest Birgitta Assheuer fast tänzerisch schwebend.

Nelly Sachs lädt Celan schließlich zur Verleihung des Nobelpreises an sie nach Stockholm ein. Er muss jedoch absagen, weil er just in diesem Moment eine feste Stelle an der Pariser Eliteuniversität Ecole Normale Supérieure bekommt und eine Antrittsvorlesung halten muss, verspricht jedoch die Verleihung via Goethe-Institut aus Paris zu verfolgen. Dennoch werden die Briefe immer spärlicher und auch kühler. Lag es an Nelly Sachsens fortschreitender Krankheit, die mit diversen Elektroschocks behandelt werden musste, oder an Celans Depressionen, während derer er sogar einmal auf Gisèle mit dem Messer losging, oder lag es an seiner neuen Geliebten Inge Waern in Schweden?

Leider litten beide Schriftsteller in ihrer Schicksals- und Seelenverwandtschaft, als Exilierte und dadurch Gezeichnete, an der fast gleichen Krankheit, die sich bald zu einer Art ,folie à deux‘ entwickelt hatte. Nelly Sachs erlitt psychische Zusammenbrüche, die von Verfolgungsängsten geprägt waren, während Celan unter dem immer noch latenten Antisemitismus litt. Seine Eltern waren Mitte 1942 ins Ghetto deportiert worden. Nachdem er 1944 vom Tod der Eltern erfuhr, schrieb er 1945 seine berühmte „Todesfuge“. Dass ihm ausgerechnet Claire Goll, die Frau von Ivan Goll, hier Plagiatsvorwürfe machte, kränkte ihn bis zum Ende seines Lebens.

1969, ein Jahr vor ihrer beider Tod, endet der Briefwechsel zwischen Nelly Sachs und Paul Celan, der zuvor – mit krankheitsbedingten Pausen – immer häufiger unterbrochen war. Celan wusste, dass sie dazu auch noch Krebs hatte. Wie immer war Nelly Sachs am Ende auf sich selbst verwiesen. Die einsame Exilierte war alt und körperlich gebrechlich; ihre Seelenkräfte hatte sie, die zarte Person, die durch Furchtbares gegangen war, bis zum äußersten anstrengen müssen. In Exil und Armut mit ihrer Mutter hatte sie ihre Erfahrungen bewältigt, hatte trotz des Verlusts ihres einstigen Geliebten und trotz eines Mangels an Resonanz ein großes Werk geschaffen. Und trotz diverser Elektroschocks, von denen sie sich nur phasenweise erholte, begann sie, zu schreiben und hielt an ihrer Utopie fest: „An Stelle von Heimat / Halte ich die Verwandlungen der Welt,“ was sie in ihrer Nobelpreisrede bekräftigt hatte.

Doch zurück zu den beiden Sprechern, sie haben die Entwicklung dieser Briefbeziehung dialogisch und spannungsreich aufeinander bezogen gelesen. Hupfer bemerkt lediglich, dass er an einer Stelle versehentlich auf sein Mikrofon geklopft hat. Die Passage muss wiederholt werden, um das Geräusch aus der Passage zu nehmen. Da schoss es Birgitta Assheuer blitzartig durch den Kopf: O je, habe ich eben etwa gelesen: „Alles in Ordnung!“? Ich sehe gerade im Manuskript nach, wo es heißt: „Muss alles ordnen“. Tatsächlich, ihre Erinnerung trügt sie nicht. So wurde es aufgenommen. Also liest sie erneut die Stelle: „Muss alles ordnen“. Nach der Korrektur der Sprechpassage, die einen anderen Sinn ergibt, löst sich die Spannung und die Schwere des Steins auf der Brust: „Ja, alles in Ordnung“. Die schweren Aufnahmegeräte können nun wieder eingepackt und nach Neu-Isenburg zurückgebracht werden.

Zurück bleibt der Eindruck dieses besonderen Briefwechsels, der mit poetischer Leichtigkeit die Beschwernis zweier Schicksale in der Schwebe hält und den die Sprecher meisterhaft gelöst haben: „Zu schwer befunden. Schwerer werden. Leichter sein.“

Wenn am 26. April dann die Lesung online geht, bin ich schon sehr gespannt, wie ich den Unterschied empfinde, etwas – wenn auch im allerkleinsten Kreise direkt live zu erleben – oder am Bildschirm ohne Publikum, an dem man dafür die Details noch einmal verfolgen kann, weil man analytischer schaut, hinhört und sich stärker auf den Text konzentriert.

Wie auch immer, im Holzhausenschlösschen ist an diesem Tag eine sehr stimmige und präsente Aufnahme von funkelnder Intensität entstanden, die man immer wieder gerne nachhören wird, zumal sie die unbekanntere Seite dieser Dichter, die sich knapp über dem Abgrund bewegten, eben auch die fürsorgliche und heitere Seite, wahrnehmbar macht.

INFOS

Die Lesung steht ab dem 26. April  ab 19.30 h kostenfrei in der Mediathek der Frankfurter Bürgerstiftung zur Verfügung. Sie bleibt bis 23. Mai 2021 nachhörbar.

Veranstaltungen:

https://www.frankfurter-buergerstiftung.de/programm/veranstaltungen

Birgitta Assheuer
ist Sprecherin für Radio und Fernsehen und arbeitet seit vielen Jahren für die Sender der ARD, das ZDF, 3sat, arte und ORF. Als Erzählstimme hört man sie in Kinoproduktionen und TV-Dokumentationen. Für Hörbuchverlage liest sie Lyrik, Kurzgeschichten und Romane bekannter Autoren. Darüber hinaus tritt sie bei Literaturfestivals, Lesungen und Konzerten auf.

Thomas Hupfer
ist Schauspieler und Regisseur, absolvierte seine Schauspielausbildung am Schauspielhaus Salzburg. Er arbeitet heute mit Theatern in Fest- und Gastengagements zusammen und entwickelt mit freien Gruppen selbst Theater- und Lese-Projekte; er hat in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen gespielt und er ist Rundfunksprecher, außerdem in zahlreichen Hörspielen und Features zu hören.

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