Helga Schuberts außergewöhnliche Geschichten über ihr Leben
Alles Gut? – Vom Verzeihen
Von Simone Hamm
1980 hatte Günter Kunert die ostdeutsche Schriftstellerin Helga Schubert eingeladen, am Ingeborg Bachmann Wettbewerb teilzunehmen. Man verweigerte ihr die Ausreise. 1987 – 1990 saß sie dann in der Jury der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.
Genau vierzig Jahre später hat die Kritikerin Insa Wilke Helga Schubert noch einmal nach Klagenfurt eingeladen. Das ist für die Autorin ein kleiner Sieg über „diese Diktatur“. Die seinerzeit 80 Jahre Helga Schubert hat die Kurzgeschichte „Vom Aufstehen“ gelesen und damit den Lesewettbewerb gewonnen.
So heißt auch ihr Erzählband, der nominiert für den Leipziger Buchpreis ist. Die knapp dreißig Geschichten werden zu einer Geschichte, zur Geschichte ihres Lebens.
„Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung… Am 9. November 1989 war ich fünfzig Jahre alt und hatte noch nie gewählt.“
Die Mutter hatte die Tochter nie gewollt, hatte sie abtreiben lassen wollen, auf der Flucht vor den Russen erst zurücklassen, dann erschießen wollen, falls die russischen Soldaten näher kommen sollten. Der Mutter hatte die Tochter nie genügen können. Trost und Geborgenheit findet sie bei der Großmutter, der Mutter ihres gefallenen Vaters. Diesen Vater hat sie nie kennengelernt. Sie fragt sich, ob er sie in den Arm genommen, geliebt und getröstet hätte, humorvoll und verzeihend- ob er ihr alles das hätte geben können, wozu die Mutter nicht fähig war.
Bei seiner Mutter auf dem Land, darf sie ihre Sommerferien verbringen.
„Bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. bis heute.“
Mit dem Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen eröffnet Helga Schubert ihren Erzählband. „Mein idealer Ort“ heißt diese Geschichte. Gerüche werden viele der Geschichten durchziehen. Es sind sozusagen olfaktorische Geschichten.
Nicht alle Geschichten sind so dicht wie diese erste und die letzte, titelgebende „Vom Aufstehen“, die sie in Klagenfurt vorgetragen hatte. Wenn sie etwa vom Fasten mit Freundinnen erzählt, gehört das eher in eine Frauenzeitschrift. Helga Schubert kann sich auch in kleinteiligen Szenen über Familienmitglieder verzetteln. Es ist schade, dass solche Erzählungen mit in den Band genommen worden sind. Denn die meisten haben Kraft und Stärke und zeigen einen ungewohnten Blick auf das Leben in der DDR: da ist keine Wut aber auch keine Larmoyanz, kein Bedauern.
In klarer, einfacher Sprache erzählt sie aus ihrem Leben, in kurzen, knappen Sätzen, ohne jemals sentimental oder gar weinerlich zu werden, stattdessen humorvoll:
„Mit Selbstironie, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem ersten Satz, der die Pointe unmerklich vorbereitet… Nichts Eindeutiges, Belehrendes, Aufklärerisches. Vor allem ohne Pathos. Und was waren wir pathetisch…“
So will sie schreiben. So schreibt sie. Helga Schubert ist Psychologin und Therapeutin. Vielleicht deshalb gelingt ihr das so gut. Sie ist gläubig. Ihre Ich-Erzählerin diskutiert mit der Pastorin darüber, ob Kinder ihre Eltern lieben oder nur achten sollten. Sie hat viel Verständnis auch für die, die ihr das Leben schwer gemacht haben, sogar für die grausam egoistische Mutter. Dieses Verhältnis zur Mutter hat Helga Schubert ein Leben lang belastet. Erst nach dem Tod ihrer Mutter, die 100 Jahre alt geworden ist, kann sie über ihre Mutter schreiben.
Helga Schubert hat gelernt, mit ihren Brüchen, ihren Verletzungen, ihren Schmerzen zu leben. Sie stilisiert sich nicht zur Heldin in DDR, und das, obwohl sie daran gehindert wurde, in den Westen zu reisen.
Sie will Frieden machen mit ihrer Mutter. Und Frieden mit dem Leben in der DDR. Sie kann ihr Leben so annehmen, wie es ist. Und sie kann verzeihen, eine christliche Tugend. Und so endet dieser anrührende Erzählband mit zwei schlichten Worten: „Alles gut.“
Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. dtv. 222 Seiten 22 €.