home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Bernardine Evaristos wundervoll verwebtes Gedicht

Frau und schwarz und queer in London

von Simone Hamm

In „Mädchen, Frau etc.“ verwebt Bernardine Evaristo die Geschichten schwarzer Frauen über ein Jahrhundert zu einem einzigartigen und vielstimmigen Panorama unserer Zeit. Ein Roman über Herkunft und Identität, der daran erinnert, was uns zusammenhält.

Schwarze, lesbische Künstlerinnen auf Identitätssuche: Das war zu lesen über Bernardine Evaristos Buch „Girl, Woman, Others“, für das sie den Booker Preis erhalten hat. Dennoch fragte ich mich, ob ich das wirklich lesen wollte. Es hat viele Romane zu ähnlichen Themen gegeben und die meisten sind literarisch nicht herausragend, sondern eher aktivitisch angelegt.

Doch „Mädchen, Frau etc.“, wie der deutsche Titel lautet, ist soviel mehr! Es ist ein langes, poetisches, rhythmisches wundervolles Gedicht in zwölf Teilen.

Bernardine Evaristos Sprache hat mich vom ersten Satz an in Bann gezogen:

Amma geht an der Promenade des Wasserlaufs entlang, der ihre Stadt zerteilt,

frühmorgendliche Frachtkähne ziehen langsam vorbei

links von ihr leitet die nautisch gestaltete Fußgängerbrücke mit dem schiffsdeckhaften Weg und den Segelmast- Pylonen

rechts von ihr die Biegung im Fluß, wo er vorbei an der Waterloo Bridge nach Osten fließt, hin zu St. Paul’s Cathedral

sie spürt die Sonne aufgehen, noch ist es luftig, bevor Hitze und Abgase die Stadt verstopfen

weiter vorne auf der Promenade spielt jemand etwas passend erhebendes auf der Geige“

An einem letzten Tage des vergangenes Jahrhunderts findet in London eine außergewöhnliche Theaterpremiere am National Theatre statt: „Die letzte Amazone von Dahomey“ heißt das Theaterstück über eine afrikanische Kriegerin. Es stammt aus der Feder einer queeren, schwarzen, gänzlich unangepassten Autorin. Deren Weggefährtinnen, Konkurrentinnen, Unterstützerinnen aus vielen Jahren treffen sich an diesem Abend.

Zwölf Frauen sind Bernardine Evaristos Hauptprotagonistinnen. Da ist die lesbische, promiskuitiv lebende Autorin Amma Bonsu, eine Kämpferin wie die Figur in ihrem Theaterstück. Da ist ihre Freundin, die sie verlassen und nach Amerika gehen wird mit einer charismatischen Frau, die sich dann aber als besitzergreifend und zerstörerisch herausstellen wird. Da ist ihre Tochter, gezeugt mit einem schwulen schwarzen Fernseh-Intellektuellen (ja, so etwas scheint es in London zu geben), der die radikale Mutter einfach nur peinlich ist. Es gibt eine Bankerin, die als Kind mit ihrer Mutter vom Negerdelta nach London geflohen ist. Die Mutter hat als Putzfrau gearbeitet. Sie wird in eine alte englische Familie einheiraten. Da gibt es die Lehrerin Shirley, die einst die Welt und die sozial schwachen Schüler retten wollte und verbittert aufgegeben hat.

Jeder Figur hat Bernardine Evaristo nur 40 bis 50 Seiten gewidmet – aber auf diesen Seiten entfaltet sie genau gezeichnete, dichte, starke Biografien, die sich überlappen. Da viele der Frauen einander begegnet sind und sie übereinander sprechen, lernen wir jede Frau aus ganz verschiedenen Blickwinkeln kennen.

Es gibt urkomische Geschichten und sehr traurige. Evaristo erzählt warmherzig, temporeich, witzig, mit feiner Ironie und mit überraschenden Wendungen. Manchmal schreibt sie überzogen, geradezu persiflagenhaft, dann wieder rührend sozialkritisch. Und das eine geht blitzschnell in das andere über.

 Und ich bin froh, dass ich über die Etiketten feministisch, queer, woke, gender, transgender, race und class hinweggeschaut habe und die Lektüre von „Mädchen, Frau, ect.“ einfach nur genießen konnte.

 Info

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc. Roman; a. d. Engl. v. Tanja Handels; Tropen, Stuttgart 2021; 512 S., 25,– €, als E-Book 19,99

Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Für ihren Roman „Mädchen, Frau etc. „wurde sie als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.

Comments are closed.