home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Homo hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“ von Dr. Martin Grunwald

Das Tastsinnessystem – verkannte Meisterleistung der Natur

Von Hans-Bernd Heier

Der Tastsinn wurde lange Zeit unterschätzt, auch von der Forschung. Dabei hat er einen überragenden Einfluss auf alle menschlichen Lebensbereiche. Für Dr. habil. Martin Grunwald, ein Pionier der Haptikforschung, ist der Tastsinn eine Art biologische Ursprache, die unser Leben vom Anfang bis zum Ende begleitet. Ohne Tastsinn und Berührung ist für ihn menschliches Leben nicht möglich „Der Homo sapiens ist in jeder Sekunde seines Lebens immer auch ein Homo hapticus“. In Pandemiezeiten allerdings mit erheblichen Einschränkungen.

 

 

Berührungen sind wichtig

fürs Wohlbefinden

Buchtitel ©Droemer Verlag

„An die Freude“ ist eines der berühmtesten Gedichte von Friedrich Schiller. Es entstand im Sommer 1785 und wurde unter anderem von Ludwig van Beethoven im 4. Satz seiner 9. Sinfonie vertont. Dort heißt es in der zweiten Strophe: „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!“

Sehr pathetisch beschreibt Schiller mit dieser Ode das klassische Ideal einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen, die durch das Band der Freude, Freundschaft und Nähe verbunden sind. Aber Nähe ist in Zeiten der schrecklichen weltweit grassierenden Corona-Epidemie mit gravierenden Kontaktaktbeschränkungen und strikten Abstandsregelungen nur höchst begrenzt möglich. Und ein Kuss mit FFP2-Gesichtsmaske ist alles andere als prickelnd.

Dabei wären Berührungen und Umarmungen wichtiger denn je. Denn „ohne körperliche Nähe können wir nicht gesund und glücklich leben“, schreibt der Leiter des Haptik- Forschungslabors der Universität Leipzig. „Jeder Lebensbereich eines jeden Menschen wird täglich durch das stille Wirken des Tastsinnessystems geprägt. Es ist biologisch das größte und einflussreichste Sinnessystem, eine Meisterleistung der Natur und zugleich eine Selbstverständlichkeit, die wir kaum würdigen“.

 

In dem preisgekrönten Sachbuch „Homo hapticus“ beschreibt der experimentelle Psychologe erstmals für ein breites Publikum die herausragende Bedeutung des Tastsinns. Anschaulich und mit vielen Beispielen aus dem Alltag erzählt Grunwald, wie faszinierend die Millionen Berührungs- und Bewegungsmelder zusammenwirken, die unseren Tastsinn ausmachen. Berührungen sind eine ganz essentielle Form der nonverbalen Kommunikation. „Sie stabilisieren die zwischenmenschlichen Bindungen und vermitteln uns auf diese Weise ein Gefühl der Sicherheit“.

Mit Erkenntnissen aus Medizin, Biologie und Psychologie belegt er anschaulich, welch große biologische und psychologische Bedeutung Berührungen für Menschen aller Altersstufen haben, warum eine Umarmung mehr tröstet als tausend Worte, warum Massagen und Spaziergänge gegen Depression und Angst helfen und die Haptikforschung in Heilkunde, Erziehung und Bildung genutzt wird und warum wir mit warmen Händen bessere Chancen bei einem Bewerbungsgespräch haben.

Wegen reduzierter zwischenmenschlicher Kontakte suchen viele Menschen die Nähe zu Tieren: Foto: Gisela Heier

Für Grunwald ist „fühlen und tasten viel wichtiger für unser Überleben als sehen, hören, riechen und schmecken“. Die physische Nähe zu unserer Umwelt ist für uns ein zentrales Lebenselixier – schon im Mutterleib. Lange bevor ein Embryo sehen, hören, schmecken und riechen kann, spürt es sich selbst und seine Umgebung, wie die Haptik-Forschung ergeben hat.

Im Alltag spielt uns der Tastsinn allerdings auch so manchen psychologischen Streich und das wird von findigen Produktdesignern geschickt genutzt. So macht Grunwald deutlich, wie raffiniert unser Urteil durch die Haptik von Produkten manipuliert werden kann und warnt vor einer Welt voller kalter, gefühlloser Touchscreens: „Ein Mensch kann taub, blind und stumm geboren werden, doch ohne Tastsinn können wir nicht überleben.“

In der Wissenschaft zum Anfassen führen die zunehmenden Forschungsaktivitäten zu erstaunlichen neuen Einsichten und besserem Verständnis der Funktionsweise. So entdeckten beispielsweise schwedische Wissenschaftler vor einigen Jahren eine besondere Form der Nervenfasern, die sogenannten C-taktilen Fasern. Diese reagieren auf sanfte Streicheleinheiten und informieren das Gehirn darüber, ob uns ein Körperkontakt gefällt oder nicht. Laut Grunwald „gibt es viel zu tun, tasten wir uns voran!“

Welche Folgen die bereits über ein Jahr anhaltenden Kontaktbeschränkungen mit sich bringen, sei noch nicht absehbar, wie der Haptik-Forscher kürzlich in der ARTE-Fernsehsendung „Die Macht der sanften Berührung“ sagte. “Wir können davon ausgehen, dass diese lange Zeit, in der Körperkontakte reglementiert werden, psychische Konsequenzen haben wird. Welche genau, müssen Studie zeigen“.

Dr. habil. Martin Grunwald; © Margarete Cane

Dr. habil. Martin Grunwald, geboren 1966, gründete 1996 das Haptik-Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig. Dort erforscht er die Wirkungsweise des menschlichen Tastsinns, entwickelt Therapien für psychisch bedingte Störungen der Körperwahrnehmung und berät als Begründer des Haptik-Designs weltweit Industrieunternehmen bei der Gestaltung neuer Produkte. Grunwalds profundes Sachbuch „Human Haptic Perception“ (erschienen 2008) gilt als Standardwerk der internationalen Haptik-Forschung.

„Homo hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können“ von Dr. Martin Grunwald; Droemer Verlag; 2017; 304 Seiten, ISBN: 978-3-426-27706-5; Preis: 19,99 Euro, auch als E-Book erhältlich

 

 

Comments are closed.