home

FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Die Orgel – Instrument des Jahres 2021

Sämtliche Register: Schwierig, groß, vielseitig, einzigartig, orchestral

Die lettische Organistin Iveta Apkalna beim hr Sinfonieorchester

von Renate Feyerbacher

„Die Orgel ist ohne Zweifel das größte, das kühnste und das herrlichste aller von menschlichem Geist erschaffenen Instrumente. Sie ist ein ganzes Orchester, von dem eine geschickte Hand alles verlangen, auf dem sie alles ausführen kann“. Mit diesen Worten huldigte der französische Schriftsteller Honoré de Balzac in „Histoire des Treize, La Duchesse de Langeais“ 1834, dem Instrument. Ein gängiges Zitat auch, das die Besonderheiten einiger Orgelbauer hervorheben soll. Orgelbau und Orgelmusik gehören zum „Immateriellen Kulturerbe der Menschheit“ und stehen somit auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes. Allein in Deutschland werden etwa 50 000 Instrumente gezählt – weltweit sind deutsche Orgeln führend.

Klais-Orgel in Mainz St. Stephan, © Aus der Werkstatt Klais Bonn

Bereits im 3. vorchristlichen Jahrhundert schuf der Techniker und Mathematiker Kteseibos eine Orgel, die als Vorläuferin der heutigen Orgel angesehen werden darf. In Asien gab es schon früh die Mundorgel.

Ausgerechnet Kaiser Nero, der Christenverfolger, führte 67 n.Chr. die Orgel in Rom ein. Sie wurde zum Statussymbol, zum kaiserlichen Macht-Zeichen und sie wurde zu Vergnügungen intoniert.

Konstantin der Große (Regierungszeit 306 bis 337 n.Chr.), der erste christliche Kaiser, holte die Orgel ins oströmische Reich nach Byzanz. Im Westen war sie quasi dann verschwunden.

Kaiser Konstantin V., (Regierungszeit 741 bis zu seinem Tod 775 n.Chr.), schenkte König Pippin dem Kleinen eine Orgel. Dennoch lehnten die Kirchenväter und Päpste einen Einbau von Orgeln in Kirchen als zu sinnlich-aufreizend zunächst ab.

Etwa hundert Jahre später wurde in Aachen die erste europäische Orgel gebaut, folgten Straßburg und Winchester dem Beispiel. Ab der Jahrtausendwende fand man Orgeln vor allem in Klöstern und ab dem 13. Jahrhundert mehr und mehr auch in Stadtkirchen. Das Konzil in Mailand 1287 erlaubte es.

Mit den Renaissance-Orgeln und vor allem mit den Barockorgeln wurde Deutschland zu einem Kernland des Orgelbaus und ist es bis heute. Gleich ob Compenius der Ältere aus Fulda – frühbarock, Schnitger aus Brake – hochbarock oder Silbermann aus Frauenstein – spätbarock. Das sind die Namen der damals führenden Orgelbauer.

Johann Sebastian Bach (1685-1750) besuchte von 1700 bis 1702 die Lüneburger Michaelis-Schule und spielte auf der Orgel der St. Johannis Kirche, die 1553 als Renaissanceinstrument entstanden war und später ergänzt und durch den Schnitger-Schüler Matthias Dropa umgebaut wurde.

Regelrechte Orgeldynastien gibt es hierzulande, dafür stehen Namen wie Walcker, Schuke, Ratzmann, die eng mit Gelnhausen verbunden sind. Heute ist es vor allem die Familie Klais.

verschiedene Klaviaturen der Orgel; Foto: Werkstatt Klais Bonn 

Johannes Klais gründete 1882 in Bonn seine Werkstatt, die seit 25 Jahren vom Urenkel Philipp Klais geleitet wird. Sie zählt zu den führenden heutigen Einrichtungen. Im Doppelkopf von hr2kultur sprach er am 12.März 2021 über die Bedeutung der riesigen Musikmaschine und über seine persönliche Beziehung dazu und seine Begeisterung darüber.

„Jede Pfeife muss als Solist und als Chorsänger funktionieren“, so der heutige Werkstatt-Chef, der als Kind gar kein Orgelbauer werden wollte.

Eine Orgel kann weich klingen, dann einen Raum in einen Rausch von Klang versetzen. Wichtig sind die feinen Nuancen. Jede Orgel hat ihre eigene „Sprache“.

Acht Jahre lang hat die Entwicklung und der Bau der Klais-Orgel in der Hamburger Elbphilharmonie, die am 11. Januar 2017 nach langer Bauzeit eröffnet wurde, gedauert.

Überall auf der Welt finden sich sowohl im Konzertsaal, als auch Orgeln in Kirchen aus der Klais-Werkstatt.

In einigen deutschen Domen wird auf Klais-Orgeln gespielt: unter anderem in Köln, Trier, Limburg, Frankfurt. Hier finden sich auch Instrumente aus der Bonner – Werkstatt in der Deutschorden-Kirche, in der Paulskirche, in St. Albert am Dornbusch, um nur einige zu nennen. St. Elisabeth in Marburg und die Lutherkirche in Wiesbaden haben ein Klais-Instrument.

Die Register der Orgel; Foto: aus der Werkstadtt Klais Bonn 

Die Orgel nennt man Königin der Instrumente, wahrscheinlich auch deshalb, weil sie schwer zu beherrschen und zu spielen ist. Beide Hände, beide Füsse sind ständig im Einsatz. Die Hände haben auf den verschiedenen Tastenreihen des Spieltischs viel zu tun und müssen auch noch die Register ziehen. Und viele unterschiedlich große Pfeifen hat eine Orgel.

„Drückt man eine Taste, öffnet sich mittels einer mechanischen Steuerung ein Ventil, über das Luft in eine Pfeife einströmt. Mit Hilfe der Registerzüge, die sich meist links und rechts von der Klaviatur befinden, kann der Organist bestimmen, welche Pfeifen er erklingen lassen möchte. Wird nur ein Register ausgewählt, kann man zum Beispiel mit einem Tastendruck eine einzige Pfeife anspielen. Mehrere Töne erklingen hingegen, wenn man mehrere Register zieht. Auf diese Weise können mit großen Orgeln auch sehr große Kirchenräume relativ gut beschallt werden.“ (Zitiert aus dem Internet: Informationen von Fabian Brand 31.12.2018)

Die Kenntnis der Register ist eine Wissenschaft für sich. Auf den Registerknöpfen steht zum Beispiel „Trompete“; „Fagott“, „Posaune“, aber es kann auch mal „Marimba“ sein. Sogar scherzhafte Register sind möglich wie im Kölner Dom. „Loss jonn“ heißt da ein Registerzug, der zur Karnevalszeit bedient werden kann. Wenn man es zieht, erklingt das berühmte „Mer losse dr Dom in Kölle“ und ein „Jeck“ schaut aus einer sich öffnenden Klappe.

Meine Begeisterung  für die Orgel begann 1956. Damals durfte mein damals 18 Jahre alter Bruder und Oberprimaner bei einer Besichtigung der großen San Zeno Basilica in Verona auf der Orgel improvisieren, was er heute auch noch tut, wenn Corona es zulässt. Den grandiosen Klang in San Zeno habe ich nie vergessen.

Iveta Apkalna im Foyer vor dem Sendesaal des hr am 21.2.2020, Foto: Renate Feyerbacher

Eine begeisternde Interpretation der 3. Sinfonie, der sogenannten Orgelsinfonie, von Camille Saint-Saëns stand im Februar auf dem Programm des hr-Sinfoniekonzertes unter Leitung des italienischen Dirigenten Riccardo Minasi. Die Organistin Iveta Apkalna zeigte sie sich im Gespräch danach mit  Besuchern. Immer den Menschen, die mit ihr reden wollen, zugewandt, zuhörend.

Die Orgel scheint heute mehr und mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu kommen. Philipp Klais „träumt“ davon, dass in Kirchen kleine Orgelzeiten zu fester Uhrzeit angeboten werden. In Frankfurt etwa ist das der Fall: Der Organist  Martin Lücker, ehemals Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMK),  lädt in der Katharinenkirche an der Frankfurter Hauptwache jeweils montags und donnerstags um 16.30 Uhr zu Orgelandachten bei freiem Eintritt ein.

Zur wachsenden Begeisterung für das Instrument trägt neben anderen großartigen Künstlern auch die lettische Organistin Iveta Apkalna bei. Sie ist die Titularorganistin der Elbphilharmonie. Dieser Ehrentitel wird bedeutenden Virtuosen und Virtuosinnen verliehen.

Seit dem Benefizkonzert in der Paulskirche am 26. Oktober 2013 im Rahmen der Europäischen Kulturtage der EZB, welche das Motto „Geheimnisvolles Lettland“ hatten, besuchte ich die Konzerte dieser Künstlerin.

2013 konzertierte sie mit Reinhold Friedrich, der von 1983 bis 1999 als Solotrompeter beim Radio Sinfonieorchester (heute hr-Sinfonieorchester) brillierte und faszinierte. Er war 1986 Preisträger beim Internationalen ARD – Wettbewerb in München. Der im Badischen geborene Künstler studierte an der Hochschule für Musik in Karlsruhe, an der er heute Professor ist. Weltweit ist er anerkannt und mit Preisen wie dem ECHO ausgezeichnet.

Seitdem meine damals fünfjährige Enkelin nach dem Konzert in der Paulskirche auf Reinhold Friedrich und Iveta Apkalna begeistert zulief und diese vor ihr niederkniete, pflege ich die Bekanntschaft mit der Künstlerin und besuche ihre Konzerte so oft es geht.

Programmcollage Foto: Renate Feyerbacher

Das bedeutendste Orgelkonzerterlebnis war für mich das kosmische Orgelwerk „Multiversum“ des ungarischen Komponisten Peter Eötvös, bei dessen Generalprobe ich mit meiner Enkelin in der Alten Oper im Dezember 2017 dabei sein durfte. Das hr-Sinfonieorchester wurde vom Komponisten dirigiert. Die Besonderheit: an der Konzertorgel Iveta Apkalna und an der Hammondorgel Lászlo Fassang.

Uraufgeführt wurde das Werk zwei Monate zuvor  in der Elbphilharmonie und ging dann auf Tournee. Anlässlich der Aufführung in Wien 2019 schwärmte Iveta Apkalna, man fliege mit der Musik förmlich weg.

ECHO-Preisträgerin Iveta Apkalna, die in Riga, London und Stuttgart Klavier und Orgel studierte, war in der Spielzeit 2019/20 „Artist in Residence“ beim hr-Sinfonieorchester. Leider konnte sie nicht alle vorgesehen Konzerte mit Publikum erleben. Beim  Orgelkonzert des Franzosen Francis Poulenc unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada in der Alten Oper wurde sie von den Zuhörern begeistert gefeiert.

Nachdem sich die Konzertabsagen häuften, wurde dazu übergegangen, die Konzerte im Livestream zu zeigen. Die Kamera ist oft ganz nah dabei und verfolgt zum Beispiel die Fußarbeit beim Orgelspiel. Wie die Interpretin das mit ihren eleganten High Heels schafft, ist bewundernswert. Diese Schuhe seien für sie wichtig, erzählt sie. Das letzte Livestream-Konzert im Sendesaal des hr Ende Februar 2021 widmete sich modernen Werken.

Der chinesische Musiker Wu Wei, führender Virtuose der Mundorgel, Sheng, interpretierte das Werk „Teoton“ (2015) des finnischen Komponisten Jukka Tiensuu (*1948). Dieses Instrument ist seit 3000 Jahren bekannt und hat die Lunge als Blasebalg. Die tänzerischen staccatohaften Momente des Werks gefielen mir. Wu Wei und sein Instrument waren eins. Hochinteressant dabei seine Technik, die nah verfolgt werden konnte.

Der lettische Komponist Eriks Esenvalds (*1977)  hatte 2014 für Iveta Apkalna das Orgelkonzert „Voice of the Ocean“ geschrieben, das in der Kathedrale von Riga uraufgeführt wurde. Wie nicht anders zu erwarten, spielte die Organistin ihren Part überzeugend differenziert. Diesmal auf einer Förster & Nicolaus Orgel aus Lich, die seit 1958 im Sendesaal des hr eingebaut ist.

Von der serbischen Komponistin Milica Djordjevic (*1984), die 2016 mit dem Ernst-von-Siemens-Komponistenpreis und 2020 mit dem  Claudio Abbado Komponistenpreis der Berliner Philharmoniker ausgezeichnet wurde, folgte „Quicksilver“ (2016). Nach der Uraufführung des Stücks in München schreibt Anna Schürmer am 18.12.2016 in der Neuen Musikzeitung auf nmz online:

„,Quicksilver’“ dynamisiert sich wie das namensgebende chemische Element Hg zu Klang gewordener Materie. Es sind nicht besonders ungewöhnliche Spieltechniken oder extravagante Dynamiken, die dieses Werk ausmachen; vielmehr besitzt die Komposition wie das flüssige Silber eine enorme Oberflächenspannung. Diese übersetzt und amalgamiert Djordjevic in eine innere Spannung, indem sie tropfenförmige Impulse und flächige Klangwolken schraffiert, die perlend und wabernd eine enorme Intensität entwickeln.“

„Isola“ des finnischen Komponisten Sebastian Fagerlund (*1972) blieb hingegen für mich undifferenziert. Ich konnte dem Werk nichts abgewinnen. Vielleicht aber beim erneuten Hören am Donnerstag, den 18. Februar. Da sendet hr2 kultur um 20:04 das Konzert „hr-Sinfoniekonzert im Forum N“, das der in Moskau geborene Dirigent Dima Slobodeniouk, Chefdirigent in Helsiniki, einfühlsam leitete.

www.hr2kultur.de

Übrigens wird Iveta Apkalna, die Virtuosin an der Königin der Instrumente,  am 1. September beim Rheingau Musikfestival sein und auf der klangmächtigen Walcker  /Oberlinger Orgel der Marktkirche in Wiesbaden Werke von Johann Sebastian Bach und Charles-Marie Widor interpretieren.

 

Comments are closed.