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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Elisabeth-Norgall-Preis an Anna Fiscale: Auszeichnung einer innovativen und ethisch orientierten Mode-Unternehmerin aus Verona

Die zweite Chance für Stoffe und Menschen

Eindrücke von Petra Kammann

Der Frankfurter International Women’s Club vergibt den renommierten Elisabeth-Norgall-Preis in diesem Jahr an die 1988 in Verona geborene Unternehmerin Anna Fiscale. Sie produziert in ihrem sozial orientierten Unternehmen „Progetto Quid“, das sie 2013 gründete, aus den überschüssigen Stoffen großer Modeunternehmen Kleidung und Accessoires. Fiscale arbeitet mit Frauen aus 17 verschiedenen Nationen, die häufig aus sozial ausgegrenzten Randgruppen kommen, und hilft ihnen dabei, durch sinnvolle Arbeit wieder Selbstvertrauen und eine Perspektive für ihr eigenes Leben zu gewinnen. Für die Mutter zweier Kinder stehen in ihrem Unternehmen Nachhaltigkeit und Work-Life-Balance im Vordergrund. Der Preis, der alljährlich im März an eine Frau verliehen wird, die sich in besonderer Weise für die Belange und Probleme von Frauen einsetzt, erinnert an die Clubgründerin Elisabeth Norgall.

Die Unternehmerin Anna Fiscale mit dem Symbol der Wäscheklammer als Zusammenhalt für Stoffe und Menschen; die Abbildungen sind Screenshots aus der Veranstaltung von Petra Kammann

Wer wollte heute ernsthaft behaupten, dass Umweltbewusstsein nicht sexy sei, wenn es um ein Thema wie Mode geht. Anna Fiscale bekennt, dass sie sich schon als kleines Mädchen für Mode und schöne Dinge interessierte und ihre eigene Kleidung stets durch ein kleines Atout aufgehübscht habe, ein „Quid“ wie der lateinische Begriff ihres späteren Unternehmens nahelegt. Trotzdem hatte Annas Ausbildung nichts mit Ästhetik oder Design zu tun, vielmehr hatte sie zunächst eine internationale Karriere im Sinn. Erst studierte sie in Mailand und schloss ihr Betriebswirtschaftsstudium mit einem Master ab, einen weiteren Master legte sie in Paris an der Science-Po in Politikwissenschaft ab, machte ein Praktikum in Brüssel und begleitete NGOs nach Haiti und Indien.

Bildschirm-Pressekonferenz mit Anna Fiscale, im Hintergrund ein Patchwork-Wandteppich aus Missoni-Stoffen; Foto: Petra Kammann

Der Wendepunkt kam, so Fiscale, durch die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Fragilität“, als sie sich mit der Verwundbarkeit von Menschen, mit ihrer eigenen und mit der anderer beschäftigte. Aus ihrer eigenen Krise heraus richtete sie ihren Blick auf Menschen, die schlecht behandelt, vom Pech verfolgt oder zu falschen Entscheidungen gedrängt wurden. Was wäre, fragte sie sich, wenn sie ihre eigene Schwäche, ihre Fragilität, die sie lähmte, nicht als Mauer sehen würde, sondern als Tor zu etwas Neuem?

Fiscale zog nach vollendeter Ausbildung in Mailand, Paris, Brüssel und London zurück in ihre Heimatstadt Verona. In ihrer früheren vertrauten Umgebung, die ihr zunächst Sicherheit versprach, begann sie, an einer aus der Krise geborenen neuen Geschäftsidee zu feilen: aus Schwäche sollte Stärke werden, bei ihr selbst und bei anderen Menschen. Sie dachte dabei an Menschen, die Arbeit für einen Neuanfang in ihrem Leben brauchten. Das war die Basis ihres „Progetto Quid“.

Während ihres Studiums hatte sie schon erste Kontakte mit der Europäischen Kommission (Europe Aid) geknüpft und auch internationale Kooperations- und Entwicklungsprojekte mit NGOs in Indien und Haiti gemacht. Keine schlechte Basis also, für das, was dann in ihr als Idee reifen sollte. Ihr Ziel war es, ein Well Fare-Unternehmen zu gründen, bei dem die Menschen korrekt für ihre Arbeit entlohnt werden, geregelten Arbeitszeiten nachgehen, Familie und Arbeit miteinander verbinden können.

Blick in das Nähatelier in Verona: hier arbeiten Frauen aus verschiedenen Randgruppen und machen aus den Stoffresten großer Firmen neue Produkte

Vor allem durch ihre Erfahrungen mit den NGOs in Haiti und in Indien war Anna Fiscale das besonders bewusst geworden. Sie wollte – anders als in Bangladesh, wo unter unwürdigen Bedingungen auf Kosten der Menschen Mode hergestellt wird  – Mode umweltfreundlich und fair produzieren. Fiscale wollte die Menschen respektieren, die sie herstellen und mit ihnen die Ideen für schöne Dinge entwickeln und realisieren, mit denen sich der Mensch wohl fühlt.

Gleichzeitig sah sie, dass es gerade im Modebereich eine gewisse Überproduktion gab. Was passierte mit den Stoffen der Textilindustrie, wenn eine Modesaison vorüber war? Vielfach – insbesondere in  den großen Textilienunternehmen – wurden diese schlicht weggeworfen. Sie nahm sich vor, aus den Resten der Überproduktion etwas zu gestalten. Sie hielt Vorträge und schrieb große italienische Textilfirmen an und bat sie, ihr Textilien zu spenden. Das war der Ausgangspunkt ihres Business-Modells.

Schnell konnte sie auf diese Weise mit ihren damals für Italien ganz neuen Ideen einflussreiche Leute wie zum Beispiel den Unternehmer der Gruppe „Calzedonia“, Herrn Veronese, überzeugen, der ihr aus der Fondazione Zeno prompt ein Startkapital von 15.000 Euro gewährte. Sie wendete sich ebenso an Unternehmen wie IKEA oder an die Kosmetik Firma L’Oréal, um mit ihnen zu kooperieren und Accessoires wie Haarbänder und Kosmetiktäschchen für sie als special edition zu entwickeln.

So entstehen einzigartige Accessoires in limitierter Auflage, 

Der nötige Stoff für das junge Unternehmen, den sie geschenkt bekam oder zu ganz niedrigen Preisen einkaufen konnte, war schon einmal eine gute Basis. In den Nähwerkstätten einer verlassenen Fabrik entwickelte sie mit Frauen ihre innovative ökologische Modemarke. Ihr Credo: Es muss eine zweite Chance für einen Neuanfang geben, sowohl für die Stoffe als auch für die menschliche Hand. Eine Wäscheklammer wurde für sie zum Firmensymbol: „Damit halten wir zusammen, was die Gesellschaft, die Umwelt und den Markt ausmacht“, erklärt sie. Neben Kleidung werden auch Accessoires hergestellt: Portemonnaies, Einkaufstaschen, Arm- und Haarbänder, alles aus Stoffen, die sonst weggeworfen würden.

Um den Vertrieb der daraus neu entstandenen Kleidungsstücke und Accessoires zu gewährleisten, schaute sie sich in verschiedenen italienischen Städten nach leerstehenden Ladenlokalen um, um diese als Show- und Verkaufsraum für ihr neues Label zu nutzen. „Quid“ hat inzwischen 10 Boutiquen in Norditalien, darunter eine in Venedig, und „Quid“ ist in über 100 Multi-Marken-Geschäften präsent. Die Auflage der einzelnen in den Werkstätten hergestellten Modeteile sind zwangsläufig begrenzt, weil sie aus den Stoffresten hergestellt wurden, sind also kostbare Limited editions. Allerdings zum durchschnittlichen Preis.

Ohne Abstriche in Sachen Stil oder Qualität machen zu müssen, werden den Kunden – auch in entsprechenden Online-Shops Quid-Produkte – angeboten. So zum Beispiel im Label Premium & Luxury bei Zalando. Die Verwertungskette bei dieser Art von Social Entrepreneurship ist einfach gut durchdacht.

Inzwischen arbeiten 150 Mitarbeiter in ihrem Unternehmen, 80% davon sind Frauen. Und da sich ihre Modeprodukte auch an alle Generationen richten, ist ihre jüngste Mitarbeiterin 19, die älteste 70 Jahre alt. Dabei hat sie auch die unterschiedlichen Arbeitsgeschwindigkeiten ihrer Mitarbeiterinnen mitbedacht.

Die meisten der weiblichen Beschäftigten waren Opfer von sexueller Ausbeutung, Menschenhandel, kommen aus der Prostitution, sind durch Behinderungen gekennzeichnet. Andere wie einige ältere Menschen wurden von italienischen Modefirmen entlassen und sind auf dem normalen Arbeitsmarkt nur schwer vermittelbar. Andere wiederum kommen aus dem Gefängnis, waren drogen- oder alkoholabhängig. Die Firma unterhält sogar zwei Fabrikräume in einem Gefängnis in Verona. Entlassene Häftlinge, die sich dort bewährt haben, können später im Unternehmen eingestellt werden.

Besonders viel Wert legt Fiscale darauf, dass das Team ständig geschult wird – auch digital. Und da es oft bei den Mitarbeiterinnen unverarbeitete Traumata gibt, steht für solche Fälle ein Psychologe zur Verfügung. Eine Frau, erzählt Fiscale, kam aus dem Gefängnis in die Firma, um die Qualitätskontrolle und Verpackung zu beaufsichtigen. Menschen, die eine zweite Chance bekommen,  bringen oft wertvolle professionelle Erfahrungen mit, die es ihnen ermöglichen, andere auszubilden. Und sie sind motiviert und stolz, dass sie an etwas mitarbeiten können, das Schönheit ausstrahlt. Für die jungen Mütter unter ihnen wird sogar ein Babysitting organisiert.

Eindrücke aus der Frühjahrsproduktion des „Progetto Quid“

Das Unternehmen konnte sich bis zum vergangenen Jahr äußerst dynamisch entwickeln. Aus den drei Beschäftigten im Jahr 2013 wurden um die 150 Mitarbeiter. 2019 erwirtschaftete das Unternehmen noch einen Umsatz von 3,2 Millionen Euro. Da hat sich allein schon das betriebswirtschaftliche Studium der ideenreichen Unternehmerin ausgezahlt.

Was folgte, war dann die Coronakrise in Europa. Sie traf  Norditaliens Fabriken besonders hart. Büros und Läden wurden geschlossen, um das Virus einzudämmen. Auch Anna Fiscale musste ihre Fabrik in Verona und neun ihrer Boutiquen erst einmal zumachen. Der Erhalt ihres Unternehmens und der damit verbundenen Arbeitsplätze bereiteten ihr natürlich große Sorge.

Doch lässt sich die tatkräftige junge Unternehmerin so schnell nicht unterkriegen und folgte ihrem Motto: „Man muss Krisen in Chancen verwandeln“. Flugs machte sie sich an den Umbau ihrer Fabrik, so dass darin fortan wiederverwendbare, in einem Labor in Modena getestete Masken produziert werden konnten, die Stoffe waren ja vorhanden.

Sie entwickelte Masken, die bis zu 15 Mal gewaschen und wiederverwendet werden können, ohne ihre Schutzwirkung zu verlieren. Diese Masken wurden sogar von der obersten Gesundheitsbehörde des Landes als „medizinisches Produkt“ oder persönliche Schutzausrüstung zertifiziert, so dass von da an 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nun mehr als 10 000 Masken pro Tag zum Schutz vor Covid-19 fertigen konnten. Die Unternehmerin Anna Fiscale bekam auch deswegen einen neuen Heldinnenstatus, so dass ihr sogar der Verdienstorden der Republik Italien verliehen wurde.

Da wir in einer Welt mit wachsendem Bewusstsein für Gesellschaft und Umwelt leben, wird Nachhaltigkeit in jeglicher Hinsicht zu einem der wichtigsten Themen für Premium-Designer. Und es war zweifellos ein geschickter Schachzug der Frankfurter International Women, diese junge frische und sozial-ökologisch engagierte Unternehmerin Anna Fiscale auszuzeichnen.

Preisverleihung per Zoom vom Komitee des IWC an Anna Fiscale mit Sekt und frischen Tulpen, Foto: IWC

Die stellvertretende Präsidentin des Frankfurter IWC, Dott. Laura Melara-Dürbeck, auch sie Italienerin, hielt die überzeugende Laudatio in der Zoom-Preisverleihung, in der sie berichtete, wie sie auf diese junge Frau im Internet gestoßen sei. Sie bekannte, dass nach langer dunkler Zeit der mehr als einjährigen Pandemie die Wahl dieser Preisträgerin, die junge Unternehmerin, die an die Kraft ihrer Träume glaubt, als den Durchbruch des Frühjahrs selbst empfunden habe. Die Laudatorin münzte das Zitat der polnisch-französischen Nobelpreisträgerin Marie Curie mit ihrem Ausspruch: „Träume dir dein Leben schön und mach aus diesen Träumen eine Realität“ auf die diesjährige Norgall-Preisträgerin Anna Fiscale, als Hoffnungsträgerin einer neuen Generation junger Frauen.

Musikalischer Schwung mit Piazzolla-Klängen vom Frankfurter Klavier-Trio, Foto: IWC

Sollte sich Frankfurt demnächst mit der neuen Fashion-Week profilieren, so sollte man die ethisch und sozial denkende Modeunternehmerin unbedingt nach Frankfurt holen. Auch hier könnte sich ihr frischer Optimismus bezahlt machen. Die von Filmen und beschwingter Musik wie die „Ode an die Freude“ und Piazolla-Klängen des Frankfurter Klavier-Trios begleitete diesjährige Preisverleihung, bei der man auch einen Eindruck von Fiscales Arbeit durch einen Blick in die Werkstätten bekam, lässt sich durchaus als „Preview“-Beitrag zum Thema „Fashion und Fairtrade“ der künftigen Frankfurter Frankfurter Fashionweek sehen. „Fit for Future“ lautete das Jahresthema des Frankfurter IWC. Hier hat es sich personalisiert.

www.iwc-frankfurt.de

Auszeichnungen der jungen Unternehmerin

2014 Prize European Social Innovation Competition
2017 European Civil Society Prize
2017 Lighthouse Activity in the category “Women for Results” of Momentum for Change assigned by the United Nations
2020 Green Carpet Fashion Award / Responsible Disruption Award
2020 Cavaliere al merito/ Verdienstorden der Republik Italiens
2021 Elisabeth-Norgall-Preis

Präsidentin des IWC Frankfurt:
Dr. Sabine LangHeinrich-Bartsch

Das Norgall- Komitee:
Dott. Laura Melara-Dürbeck stellv. Präsidentin
Cornelia Klaus
Dr. Hannelore Daubert
Dr. Mirjana Kotowski
Elena Vonofacou
Dirkje Zondervan

Norgall-Preis an Dr. Ingrid Gräfin zu Solms-Wildenfels, verliehen vom IWC in der Villa Bonn

Elisabeth-Norgall-Preis des Frankfurter International Women‘s Club für Chungja Agnes Kim

Elisabeth Norgall-Preis des International Women’s Club (IWC) für Barbara Stäcker, Gründerin des Vereins „Nana- Recover your Smile e.V.“ Wege aus der Angst – Annehmen und Loslassen

Elisabeth-Norgall-Preis 2017 des International Women’s Club of Frankfurt (IWC) an Virginia Wangare Greiner

Elisabeth-Norgall-Preis 2016 des International Women’s Club an Hanne Brenner

Norgall-Preis 2015 des Frankfurter IWC an Jasmina Prpic

Elisabeth Norgall-Preis 2014 für Ursula Biermann

Elisabeth-Norgall-Preis 2013 des International Women’s Club an Cornelia Fischer

Vilborg Ìsleifsdóttir-Bickel erhält Elisabeth-Norgall-Preis

 

 

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