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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Schwarze Pädagogik. Die deutschkritische Fassadenparole am Schauspiel Frankfurt

Wen soll sie erreichen, was soll sie bewirken? Und was löst sie tatsächlich aus?

Ein Kommentar von Uwe Kammann

Parole an der Fensterfront von Schauspiel Frankfurt; Foto: Petra Kammann

Drinnen, im Frankfurter Schauspielhaus, wird debattiert. Über Rassismus, in differenzierter und reflektierter Form. Trauriger Anlass ist der Jahrestag der schrecklichen Morde von Hanau. Mario Scalla, wie immer ein sehr genauer journalistischer Beobachter, lobt im ersten Radiobeitrag des HR diese Auseinandersetzung, weil sie nicht einem einfachen Weiß-Schwarz-Schema gehorche.

Draußen, an der Glasfassade des Hauses am Willy-Brandt-Platz, wird hingegen geklotzt. Meterhohe Großbuchstaben auf blauem Grund bedecken die Fenster des Foyers: „Deutsch mich nicht voll“.

Ina Hartwig, die Frankfurter Kulturdezernentin, findet für dieses von ihrem Dezernat geförderte Wort-Werk des Frankfurter Städel-Schülers Naneci Yurdagül in ihrem Grußwort gleich ein halbes Dutzend Adjektive (zu Künstleroptionen wie „subtil, drastisch, einfühlsam oder auch provokant“) und Argumente, um diese Großaktion („künstlerische Intervention“) zu begründen. Das reicht von „neuer Kontextualisierung“ im Rahmen von Antirassismus und Antisemitismus über „überraschende Impulse zum Nachdenken“ im Stadtraum bis zum „Einfluss der Sprache auf unser Denken und Handeln“.

Sie nennt auch den ersten öffentlichen Auftritt des Mottos: an der Volksbühne in Berlin. Was sie nicht erwähnt: den Zusammenhang, in dem das damals 1,5 mal 10 Meter große Mottowerk von Yurdagül am Theater installiert wurde. Es ging um eine „Kanak-Attak“-Veranstaltung unter dem Motto „Konkret Konkrass 2002“ (es lohnt, das Programm nachzulesen, ein Hauptziel dort: „no integration“).

Was sie ebenfalls nicht erwähnte (natürlich nicht? weil unbekannt?): dass die Antifa-Szene diese Parole für sich reklamierte, dass es sogar zu einem Rechtsstreit über die Urheberschaft kam. Die Antifa ist ja grundsätzlich nicht zimperlich, wenn sie Position bezieht: „Deutschland, halt’s Maul“ gehört zum bekannten Repertoire. Die deklarierten Links-Fans des Fußballclubs Hertha BSC garnierten im Zuge der WM-2006-Flaggendiskussion den Bezug zum Yurdagül-Motto mit einer wortbestückten Deutschlandfahne: „Du nervst, geh’ sterben“.

Ein Motto von 2002 ganz im Sinne der Antifa

Nein, das muss man natürlich alles nicht wissen oder für wichtig halten. Man darf als Schauspiel Frankfurt einfach erklärend zu dieser übergroßen Fassadenbotschaft schreiben, dass Yurdagüls Werk „nichts an seiner Dringlichkeit eingebüßt“ habe und „damals wie heute“ thematisch Bezug nehme „auf die politische Gegenwart in unserem Land.“ Und kann mit Blick auf sich selbst beflissen anfügen: „’DEUTSCH MICH NICHT VOLL’ kann aber auch als selbstkritischer Kommentar gelesen werden auf das Theater selbst, als einer deutschsprachigen Kulturstätte.“ Solche Ziele, klar, müssen natürlich nachhaltig sein. Deshalb soll das Großbanner mit der Polit-Parole während der ganzen Spielzeit auf die Passanten einwirken. Die benachbarte Oper musste nicht gefragt werden, jeder bespielt seine Hälfte der Langfassade.

Die FAZ deutete immerhin in ihrem Bericht zur Aktion die eindeutigen Antifa-Verbindungslinien gleichsam als Nebenaspekt an. Aber ob das ausreichend den Hintergrund und die Deutungsrichtung beschreibt? Denn tatsächlich fordert das Motto die Passanten draußen doch eher ein- als mehrdeutig auf, zu erkennen, dass „deutsch“ als Eigenschaft höchst fragwürdig ist und deshalb abgewehrt werden muss, getreu dem alltäglichen Sprachgebrauch: Mach’ mich nicht an, laber mich nicht voll, geh’ mir weg. In einem Katalog zu Yurdagül-Werken lautet die englische Übersetzung der Parole übrigens: „Don’t german me“. Also: Mach mich nicht deutsch, deutsch mich nicht ein. Das ist unmissverständlich.

Intendant Anselm Weber; Foto: Petra Kammann

Dass Yurdagül an einem starken Neuauftritt seines alten Mottos lag, ist leicht daran zu erkennen, dass er sich jetzt selbst an das Schauspiel Frankfurt wandte. Das ihn dann „sehr schnell“ mit der Realisierung beauftragte, wie Intendant Anselm Weber gegenüber FeuilletonFrankfurt erklärt, auch mit dem Hinweis auf dessen frühere Zusammenarbeit mit der Intendantin Elisabeth Schweeger.

Vielleicht wird sich angesichts dieser Konstellation mancher  fragen, wie das denn so ist: Ob drinnen, im Theater, im Sinne der Aufklärung über Facetten des Rassismus offen debattiert wird; während außen, ganz groß, ein latenter Binnen-Rassismus zur Stadt- oder gar Staatsräson erklärt wird. Natürlich nur im besten Sinne, weil hier der gute Zweck doch vermeintlich alle Mittel heiligt. Auch jene, die nicht nur erst beim zweiten oder dritten Lesen zeigen: Es gibt Sprachsignale, die herabsetzend klingen, die herabsetzend gemeint sind. Aber nein, werden die Veranstalter sagen, die Sache mit der Abwertung, der Ausgrenzung und der Abwehr, die gehört immer zur Sprache der anderen.

An wen richtet sich eigentlich die Parole?

Und Ina Hartwig, die als Literaturkritikerin ein sensibles Verhältnis zur Sprache hat, wie steht sie zur Parole? Eine Duz-Anrede, von der nicht zu sagen ist, an wen sie sich richtet. An ein unbekanntes Subjekt? An die Gesellschaft als Kollektiv? An die Deutschsprechenden der Gesellschaft? An die Dumpfbacken? An die Bescheidwisser? Und wer ist das Subjekt? Klar ist nur, dieses krampfig gebildete, im Duden nicht präsente Kunstverb „volldeutschen“ stellt bewusst die Nachbarschaft her zu einer Negativ-Wortfamilie à la vollkotzen, vollschleimen, volllabern, vollrotzen etc.; jeder Blick ins Wörterbuch zu verwandten Worten belegt, das in dieser Verbfamilie vorherrscht, was wissenschaftlich ‚pejorative Konnotationen’ genannt wird.

Da also beruft sich die Kulturdezernentin, die mit Abstand die geschliffensten Reden der Dezernenten hält, auf das Wirkgefüge von Sprache und Handeln. Und preist im gleichen Augenblick eine krude und plumpe Parole, die in erkennbar militanter Weise Negatives im Schilde führt. Sie weiß dies natürlich, deshalb versucht sie, eben dieses grobe Schema zu verbrämen. Indem sie die meterhohe Polit-Parole zu einer künstlerischen Installation und Intervention stilisiert und damit zu adeln versucht, wie sie es auch beim Motto-Autoren selbst tut, ihn Städel-Noblesse zuordnend. Ein durchsichtiges Manöver, mehr ist das nicht, zumal jeder weiß, dass frühestens seit Duchamps Flaschentrockner alles Kunst sein kann und darf, per schlichter Definition und Firmierung.

Dass Ina Hartwig sich die Negativparole zu eigen macht, ganz wie das Schauspiel selbst, ist nicht zu leugnen. Zumal ihr Dezernat, ebenso wie das Theater, die Kosten dieser als Kunst deklarierten Plakataktion zur Hälfte trägt. Welche Summe insgesamt dafür ausgegeben wurde, das wollen die beiden Institutionen nicht preisgeben, obwohl es um öffentliche Gelder geht. Nun, wer sich mit solcher Gebäudeausstattung auskennt, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass dies leicht einen hohen fünfstelligen Betrag erfordert. Sollte Yurdagül – dessen Name wie eine Künstler-Signatur klein unten rechts auf dem Banner zu lesen ist – für die Frankfurt-Wiederbelebung seines bald 20 Jahre alten Spruchs auf ein Honorar verzichtet haben, wäre dies sicher erwähnt worden.

Kulturdezernentin Ina Hartwig; Foto: Petra Kammann

So bleibt als gut begründete Vermutung, dass für die Riesenbotschaft an die Passanten ein Betrag aufgewendet wurde, mit dem eine auf rund 300.000-Euro addierte Hilfsaktion (einschließlich einer Benefiz-Auktion), welche die Kulturdezernentin inzwischen stolz und glücklich als schönen Akt der Solidarität verkündet hat, mit dem Fassadengeld ganz erheblich hätte aufgewertet werden können: in Corona-Zeiten ja wirklich eine hochwillkommene Hilfe für Kulturschaffende, die existentiell bedroht sind. Fragen lässt sich auch: Wie viele Kinder aus prekären Verhältnissen hätte man mit diesem Geld fördern können, als beste Kulturinvestition?

Ein Sieg des Opportunismus und des Konformismus

Das alles kommt zusammen, wenn ein Fazit zu dieser Aktion nur lauten kann: Hier wird mit hohem Aufwand ein Sieg des Konformismus und des Opportunismus gefeiert. Es geht unter dem Vorzeichen der politischen Korrektheit um hochmoralisch aufgerüsteten Selbstbezug statt um Weltbezug, es geht um das bevorzugte Deutungsschema eines Kulturmilieus, das derzeit in hohem Maße von den Mustern und Idealen aus dem identitätspolitischen Lager befeuert wird. Diversität – schicker: diversity – lautet das große Schlagwort. Herkunft zählt, bis in die kleinsten Verästelungen und Differenzierungen, aber gewöhnlich auch nur, wenn sie mit dem Verdacht der Diskriminierung verbunden ist.

Rassismus, Kolonialismus, das sind die angesagten Passepartout-Worte. Zur Vorsicht gerne mit dem Adjektiv strukturell verbunden, weil dann das Gewalthaltige in jeder Form und überall denunziert werden kann. All das muss idealiter westlich zu verorten sein. Die allgegenwärtige Gewalt gerade in jenen Teilen der Welt, die von einem radikalen und hochmilitanten Tribalismus gekennzeichnet sind, sie wird in der Regel ausgeblendet; ebenso wie jene, die zu den autokratischen Systemen in östlicher Richtung gehört. Dabei müsste eine universelle Moral lauten: ‚All lives matter’. Aber es bestätigt sich immer wieder: Wo die Kameras ausgeschlossen sind oder nicht hinkommen, gibt es blinde Flecken, wortwörtlich.

Das alles, unterfüttert mit Philosophie-Bruchstücken aus der Denkschule des Dekonstruktivismus, steht derzeit hoch im Kurs. Gefühlt jede zweite/dritte Sendung der werktäglichen TV-„Kulturzeit“ in 3sat bestätigt das. In Frankfurt lieferte MMK-Direktorin Susanne Pfeffer mit ihren ersten Ausstellungen und zwei Symposien zu Gewalt und zur Gestaltung von Gesellschaft für dieses spezifische Weltbild der vermeintlichen All-Diskriminierung einschlägiger Minderheiten geradezu Musterbeispiele. Und ein junger weißer Mann, der französische Soziologe Geoffroy de Lagasnerie, durfte dort als Lieblingsgast gleich zweimal die Gewalt der richtigen Seite preisen, mit einem Loblied auf Eigenjustiz der Black Panther und die Anarcho-Gewalt des Schwarzen Blocks.

Ist diese mächtige Konformitätswelle eines spezifischen Milieus unterm Intellektuellen-Habitus womöglich durch Diskursanstrengung und Reflexion zu brechen? Wolfgang Thierse, als Ex-Bundestagspräsident und überzeugter Sozialdemokrat sicher nicht als Reaktionär zu diskreditieren, hat jüngst dringlich davor gewarnt, mit alleinigem Vorzugsblick auf das Heterogene das aufzugeben, was für eine Gesellschaft lebensnotwendig ist: eine vernünftig begründete, immer neu zu vermittelnde Gemeinsamkeit, auch in staatlicher Form.

Und ist Herta Müller, diese in einer Diktatur aufgewachsene unerschrockene Autorin und Nobelpreisträgerin, schlicht rückwärtsgewandt, wenn sie positiv und warm von Heimat spricht, nicht zuletzt der sprachlichen, der sie sich nahe fühlt? Im ersten Erklärtext des Frankfurter Schauspiels zur Yurdagül-Parole wird dieses Wort – geradezu selbstredend – in einen Negativ-Kontext gestellt, ebenso wie der Begriff „Leitkultur“.

Auch zur Debatte gestellt: das Theater als „deutschsprachige Kulturstätte“

In diesem inzwischen durch die edle Hartwig-Kunst-Version ersetzten Erklärtext des Theaters, der den Ursprung und die Motivation der Aktion glasklar erkennen ließ, wird auch die eigene Institution als „deutschsprachige Kulturstätte“ in Frage gestellt. Dabei wird in einem Nebenplakat an der Fassade übrigens mit vollem Recht auf die hohe Internationalität der aus 47 Nationen stammenden Mitarbeiter verwiesen. Gleichwohl, so Anselm Weber, solle das Banner nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirken, eben auch über die kritische Befragung des Theaters als deutsche Kulturinstitution: „Antirassismus erfordert eine ständige Selbstkontrolle, kontinuierliche Selbstkritik und regelmäßige Selbsterforschung.“ Auf der Hand liege es, „dass wir als Theater dieses Bemühen insbesondere auf künstlerischem Wege realisieren.“ (Die ursprüngliche Passage sei übrigens nicht aus inhaltlichen Gründen gestrichen worden, sondern als Angleichung an „die Netiquette auf allen sogenannten social-media-Kanälen“.)

Auf künstlerischem Wege. Ja, das klingt beim Stichwort Theater einsichtig und richtig. Allerdings: Gehört der eindeutige Negativ-Bezug zu Sprache oder Eigenschaften unterm Stichwort ‚deutsch’ zu diesem Weg? Hier anscheinend schon, man macht sich unter freundlicher Anregung von Yurdagül zum Burg-Theater mit Agitprop-Attitüde und mächtiger Abwehrmauer. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi, der ganz aktuell eine massive zusätzliche Förderung der Kultur mit der „Gefahr“ begründet hat, „ein Erbe zu verlieren, das den italienischen Geist und die Identität des Landes definiert“, er würde sicherlich mit solch’ ausdrücklicher Italianità in den Burgkerker geworfen. Während die frühere Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özuguz, hochwahrscheinlich für ihre Grundaussage immer noch viel Lob erhielte, dass es eine deutsche Kultur „jenseits der gemeinsamen Sprache“ nicht gebe.

Was so bestürzt, aber auch geradezu ungläubig staunen macht bei dieser Plakat-Großaktion:  dass hier eine Lektion nach Art der Schwarzen Pädagogik erteilt werden soll. Statt Weltoffenheit zu leben und zu proklamieren, wird der eigene Zirkel bedient (sprich: die schon Gläubigen werden im besten Eifer nochmals bekehrt). Versäumt wird damit in der Außenwirkung per medialer Einbahnstraße, die Grundfrage zu verhandeln, auch kontrovers (wie denn sonst?), was eine sich zusehends partikular und heterogen entwickelnde Gesellschaft ausmacht, was sie bestimmt, was sie gefährdet, was sie trotz der Zentrifugalkräfte konstruktiv zusammenhalten kann. Denn es wird weiter gelten: Ohne ausreichende Gemeinsamkeiten ist kein sowohl der Gesamtgesellschaft als auch den Individuen zuträgliches Gemeinschaftsleben möglich.

United colors of diversity?; Foto: Petra Kammann

Welche Gemeinsamkeiten braucht eine zunehmend heterogene Gesellschaft?

Wenn bei solchem Ausgangspunkt eilfertig schon die eigene Sprache zur Disposition gestellt wird: Dann wird das Unverständnis noch beträchtlich größer. Ist beim Schauspiel Frankfurt vergessen, was Heinrich Heine, was Bertolt Brecht zum Verhältnis von Sprache und Heimat sagen? Ist ein Georg Büchner nur noch eine Randfigur, wenn es um den Verlust jeglicher Bindung an das Leben geht? Ist Lessing nur noch ein vages Erinnern wert, wenn das Verhältnis von Wahrheit und Toleranz zu ergründen ist? Kann sich niemand mehr erinnern, wie für den Philosophen Ernst Bloch im „Prinzip Hoffnung“ der Begriff Heimat als Utopie des Bei-sich-Seins zur Sehnsuchtsformel wird, immer auch zu denken im Zusammenhang mit Entfremdung? Sind das alles überständige Floskeln, welche ein als „deutschsprachige Kulturstätte“ merkwürdig in Zweifel gezogenes Theater hinter sich lassen kann, auf dem Weg in eine Ortlosigkeit, die es sich allerdings gut von der so in Misskredit gebrachten (deutschen) Aufnahmegesellschaft subventionieren lässt?

Ach, Antworten sind schwerlich zu erwarten. Weil es wohl so ist, wie es eben mit Moden ist: Diese Kleider gilt es dann in der Zeit unbedingt zu tragen, will man up to date sein. Die Älteren werden sich noch erinnern können, dass in der als Mitbestimmungstheater erst gerühmten, dann geschmähten Ära des viel gepriesenen Peter Palitzsch die heute für so unverzichtbar gehaltenen goldenen Wolken im Foyer verhüllt werden sollten, weil sie als viel zu dekorativ galten für ein damals zwingend bis zum Äußersten geschärftes politisches Theater. Oder wie später eine andere Mode in der kurzen Ära Wilfried Minks / Johannes Schaaf gleich anfangs zu einem aufwendigen Umbau des Zuschauerraums führte, mit einer Danton-Premiere auf einem mittigen Laufsteg – eine Gesamtkonstruktion, die so nie wieder gebraucht wurde.

Ablehnung bis Empörung rundum in der persönlichen Empirie

Was im jetzigen Fall allerdings viele der für diesen Beitrag um ihre Meinung zur Yurdagül-Parole Befragten in der Regel mit Unverständnis, mit Ablehnung oder auch mit Empörung reagieren lässt: dass – anders als bei einer kontroversen, und/oder provokanten Theaterproduktion oder auch einer die äußersten Pole umfassenden Diskussionsreihe als ‚vierte Sparte’ auf der Bühne und im Haus – hier die selbstbezügliche politische Position mit hoher Dominanz und Penetranz der Gesellschaft buchstäblich aufs Auge gedrückt werden soll, und dies für die ganze Spielzeit. Weggehen, wegsehen hilft ja nicht im öffentlichen Raum.

„Überraschende Impulse zum Nachdenken“ (Ina Hartwig)? Nun, die bisher persönlich eingesammelten Reaktionen (zugegeben: ohne wissenschaftliche Systematik) lassen mit großer mehrheitlicher Einschätzung nur einen Schluss zu: Diese Art der Belehrung (der stets beschworenen Stadtgesellschaft?) ist alles andere als zielführend. Sie ist stattdessen in hohem Maße kontraproduktiv.

Matthias Lilienthal, Ex-Intendant der Münchner Kammerspiele, verteidigte sein dortiges radikales politisches Konzept gegen aufkommende Kritik mit dem Satz „Wir haben extrem andere Parameter“. Wir? Ehrlicher wäre die Aussage gewesen: Ich. Die Folge dieser Parameter: Es gab wütende Abgänge auch aus dem Ensemble.

Plakatives Plädoyer für die weltoffene Gesellschaft; Foto: Petra Kammann

Das Theater als moralische Anstalt: per Zirkelschluss

Friedrich Schiller, der das Theater ja durchaus als moralische Anstalt verstand, focht für einen anderen Ansatz. In seinen Gedanken zur ästhetischen Erziehung der Menschen – deren natürlichen Charakter er als selbstsüchtig und gewalttätig sah – setzte diesem Befund einen Ringschluss entgegen. Was bedeutet: Eine – hell gedachte – theoretische Kultur solle die praktische Kultur – schlicht übersetzt: einen besseren Alltag – herbeiführen. Wobei, und dies ist wichtiger Bestandteil der Formel, die praktische Kultur zugleich die Bedingung der theoretischen sein soll.

Und wie kann für ihn der Zirkel gelöst werden, was vermag den üblen Charakter zu veredeln? Ganz einfach: klärendes Verstehen- und Wissen-Wollen. Und vor allem ein nobles Werkzeug: die schöne Kunst. Nun wird nicht jeder alle Hervorbringungen, die unter dem Gütesiegel Kunst und Kultur in die Welt gesetzt werden, als sinnfälliges Instrument der Menschheitserziehung ansehen und anerkennen. Aber ohne den Glauben daran, dass dies prinzipiell und zumindest tendenziell möglich ist, geht gar nichts.

Der Dichter des Idealismus benennt übrigens Ziel und Methode in der Sprache der Zeit. Aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen – im Spannungsfeld von Täuschung und Wahrheit, im Spiel der Einbildungskraft und im Ernst der Taten.

Ist das Modell heute noch tauglich, kann es die innere Reflexion des Theaters noch beflügeln? Hierher gehört ein großes Ja, bei jeweils vielfältiger Interpretation und Variation. Was sicher ganz und gar nicht tauglich ist: das Setzen auf dumme und plumpe Parolen.

 

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