Zum Tod des großen französischen Dichters Philippe Jaccottet
Das Unauffällige und Verborgene im Blick
Philippe Jaccottet ist neben Yves Bonnefoy, Michel Deguy, Francis Ponge oder René Char eine der großen Stimmen der europäischen Poesie, sei es als Dichter, als Übersetzer von Homer, Ungaretti, Hölderlin, Leopardi, Rilke oder als Literaturkritiker. 1925 in Moudon/Waadtland geboren, lebte der Lyriker seit 1953 zurückgezogen im südfranzösischen Grignan in der Drôme, wo er gestern 95-jährig starb. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Petrarca-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Und welche Ehre! 2014 wurde sein Gesamtwerk in die legendäre Klassikeredition Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen.
Philippe Jaccottet Photo © Gérard Khoury
Anlässlich des 95. Geburtstags des Dichters erschien der Band seiner späten Zyklen Die wenigen Geräusche, Späte Prosa und Gedichte auf Deutsch im Hanser Verlag. Jaccottets Gedichte sind feingesponnene Gewebe aus Erinnerungen, Träumen, Gesehenem, Erfahrenem, Erlittenem.
Seine subtilen Beobachtungen haben nichts mit traditioneller Naturlyrik gemein. In ihrer schlichten Raffinesse erinnern sie eher an japanische Haikus, lassen die unmittelbaren Eindrücke in der Schwebe. „Das Dazwischen, der offene Garten, vielleicht meine einzige Heimat“, so beschreibt es der Lyriker selbst.
Sparsam und sorgfältig überträgt Jaccottet jeweils seine Eindrücke von der Natur in eine schlichte präzise Sprache. Eines seiner Gedichte „Veilchen“ stellt in einer Momentaufnahme die Zerbrechlichkeit der Natur im Februar dar, in dem Monat, in dem Jaccottets poetische Stimme für immer verstummte. Sein Vermächtnis könnte lauten: „Die echte Magie ist – porté a la main: nahe“, vorausgesetzt man folgt dem Blick zum „fast“ Unscheinbaren und Vergänglichen hin.
Lesen Sie selbst:
VEILCHEN
Nichts als ein Büschel blasser Veilchen,
ein Büschel dieser schwachen, fast unscheinbaren Blumen
und ein Kind, das dort im Garten spielt …
An jenem Tag, in jenem Februar, noch gar nicht lange her und trotzdem
so verloren wie alle anderen Tage des Lebens, die keiner je noch wiederfindet,
für einen kurzen Moment haben sie mir den Blick befreit.
zitiert aus: Philippe Jaccottet, Die wenigen Geräusche, Späte Prosa und Gedichte.
Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, Hanser Verlag
Weitere Bücher
Auf Deutsch erschienen zuletzt Der Unwissende (Gedichte und Prosa, 2003), Truinas, 21. April 2001 (2005), die Anthologie Die Lyrik der Romandie (2008), Notizen aus der Tiefe (2009), Sonnenflecken, Schattenflecken (2015) und Gedanken unter den Wolken (2018).