(Des-)Illusionstheater: Wie geht es weiter mit den Städtischen Bühnen?
Neue Diskussionsrunden mit vielfältigen Aspekten – Repräsentation adé, Öffnungsmodelle illusionär?
Eingesammelte Beoachtungen und Schlussfolgerungen
von Uwe Kammann
„Deutsch mich nicht voll“: Mit diesem Slogan wirbt das Schauspiel Frankfurt in dieser Spielzeit per Fassaden-Riesenbanner für seine Interpretation politischer Korrektheit. ‚Theater mich nicht länger voll’: So werden manche inzwischen auf den Prozess reagieren, der mit den Frankfurter Plänen für Sanierung oder Neubau von Schauspiel und Oper verbunden ist, die derzeit in der Theaterdoppelanlage am Willy-Brandt-Platz hinter einem gemeinsamen Foyer und unter der komplexen Dachanlage eines gemeinsamen Hauskomplexes spielen.
Über vier Jahre Diskussionen, ein Hin und Her um Optionen, um Vorschläge, um Standorte, um Kosten, um Konzepte, um Abriss oder Erhalt, auch um Zukunftsvisionen. In Symposien, auf vielfältigen Podien ganz verschiedener Veranstalter wurde debattiert, in konstanten und in wechselnden personellen Konstellationen. Zuletzt wieder im Deutschen Architekturmuseum, dann in der Regie der Goethe-Bürgeruniversität, davor bei der Initiative Zukunft der Städtische Bühnen. Die für eine Rekonstruktion des ursprünglichen 1902er-Baus streitende Aktionsgemeinschaft Schauspielhaus wurde geschnitten, ihr per Unterschriftenzahl erfolgreiches Bürgerbegehren hängt per städtischem Prüfverfahren immer noch in der Luft – Demokratie geht in einem solchen Fall sicher anders.
Eine Lösung zeichnet sich bislang nicht ab
Doch eine Lösung zeichnet sich in all’ dem Geflecht nicht ab. Zu unterschiedlich sind die Positionen und die Konzeptionen. Was praktisch heißt: Es wird bis weit nach den Kommunalwahlen Mitte März und der auf ihrer Grundlage zustande kommenden neuen politischen Kräftekonstellation in Magistrat und Stadtverordnetenversammlung dauern, bis sich eine tragfähige Mehrheitsentscheidung abzeichnet. Wenn überhaupt, wo doch ein veranschlagter Kostenrahmen von nahezu einer Milliarde Euro die Hintergrundkulisse bildet – und damit, gerade bei Corona-Klammheit, ein Hindernis der Sonderklasse. An einer faktengesättigten Entscheidungsgrundlage wird es nicht fehlen. Denn spätestens im Frühsommer wird der Schlussbericht der Stabsstelle Zukunft der Städtischen Bühnen vorliegen, der die Untersuchungs- und Prüfberichte zu allen bisherigen Standortvorschläge (fünf sind es) und den damit verbundenen Varianten penibel vorstellt, von der Sanierung bis zum Neubau, von Zwischenlösungen bis zu den Verkehrswegen, von den Klimaauswirkungen bis zu den Kosten.
Ein gewaltiger Komplex: Die Theater-Doppelanlage am Willy-Brandt-Platz; Foto: Uwe Kammann
Aber: Das ist weiterhin Zukunft. Noch wurde und wird ja debattiert. In der letzten bisherigen Diskussion („Welches Theater für welche Stadt?“, digital organisiert von der Goethe-Universität) warb der eingeladene Architekturwissenschaftler Frank Schmitz zwar auch wieder eindringlich für eine besondere „Planungs- und Prozesskultur“, welche Grundlage für die weitere Entwicklung sein müsse. Doch erdete Moderator Carsten Ruhl – ebenfalls Architekturwissenschaftler – das Gespräch mit einem Satz, der Theoretikern nicht so leicht über die Lippen geht: „Letzten Endes muss eine Entscheidung getroffen werden“.
Aber, alles in allem, brachte diese letzte Diskussion (17. Februar) den bislang reichsten Ertrag, wenn man die Wünsche, die Möglichkeiten, die gesellschaftlichen und politischen Realien sowie die Realisierungsszenarien zueinander in Beziehung setzt. Und damit unterschied sich diese Vierer-Runde positiv vom vorangehenden Podium im Architekturmuseum (4. Februar), das neben der Kulturdezernentin Ina Hartwig auch vier Praktiker versammelte: zwei altgestandene – mit den Frankfurter Schauspiel- und Opernintendanten Anselm Weber und Bernd Loebe -, und zwei aufsteigenden Sternen der Szene, der Grazer Opernintendantin Nora Schmid und dem Regie-Jungstar Markus Lobbe. Der leitet seit gut einem Jahr die als „sechste Sparte“ des Dortmunder Theaters deklarierte Akademie für Theater und Digitalität, ein NRW-Modellprojekt für digitale Innovation, künstlerische Forschung und technikorientierte Aus- und Weiterbildung. So das Programm.
Zoom-Symposium aus der Goethe Universität mit Nikolaus Müller-Schöll, Frank Schmitz, Carsten Ruhl und Ulrike Haß
Große Worte unterm Passepartout-Begriff digital
An großen Worten wird dort angesichts des Grundbefundes von „vielschichtiger und widersprüchlicher gewordenen Weltzusammenhängen“ nicht gespart: Man arbeite an der „epochalen Aufgabe“, die zahlreichen neuen Verbindungen von digitaler und analoger Welt zu untersuchen, „phänomenologisch, soziologisch, philosophisch, technisch“ und als Kerndisziplin „künstlerisch“.
Daraus wird ein Akademie-Fragekatalog abgeleitet, der hier einmal exemplarisch zitiert werden soll, weil er einen Gesamtkreis der Diskussionen umreißt. „Wie reagiert das Theater auf diese Veränderungen? Mit welchen Erzählweisen, Versuchsanordnungen und technologischen Erfindungen? Welches Know-How brauchen Theaterschaffende jetzt? Und welches in der Zukunft? Welche Werkzeuge können und müssen die Theater selbst entwickeln? Für welche Berufsfelder der Darstellenden Kunst müssen wir als technikaffine Kunstschaffende neue Möglichkeiten der Weiterbildung anbieten?
Und weiter im Text, noch grundsätzlicher: „Welche neuen Möglichkeiten der Narration ziehen in das Theater ein, katalysiert durch neue Technologien? Welche gesellschaftlichen Debatten können in den Theatern durch die Anwendung digitaler Technologien aufgegriffen oder sogar angestoßen werden? Was sind die Themen der Digitalen Moderne? Wie lässt sich Technologie – als Mittel der Herstellung und Gegenstand der Betrachtung – in einem künstlerischen Möglichkeitsraum sinnlich erfahren und diskutieren?“
Ein elementarer Satz von Uwe Zerwer im Frankfurter Schauspiel; Foto: Petra Kammann
Gibt es darauf schon erste wegweisende Akademie-Antworten? Nein, das scheint nicht der Fall, was angesichts des Zeitfensters nicht verwundert. Also muss auch die gängige Praxis sprechen. In ihren Inszenierungen sind Markus Lobbe und Nora Schmid typische Vertreter des beliebten Gegen-den-Strich-Bürstens. Beim Drumherum reichert die Grazer Intendantin ihre Oper mit einer Reihe von Nebenveranstaltungen an: so mit Nachgesprächen, mit Einführungsmatineen oder Kostproben vor einer Premiere, auch mit einem „Opern-Clubbing“ im Anschluss an eine Premiere oder mit After-Show-Partys, die ausgewählte Produktionen begleiten.
Der schiefe Ansatz: die „21.-Jahrhundert“-Etikettierung
Ob solcherlei ‚Formate’, so heißt das im Jargon, nun für das Theater der kommenden Jahrzehnte stehen? Nun, eigentlich erübrigt sich die Antwort, weil die Frage, welche mit einem schneidigen Etikett über der Runde im Architekturmuseum schwebte („Welche Bühnen für das 21. Jahrhundert?“), schon im Ansatz schief ist. Denn Entwicklungen jeglicher Art fügen sich schließlich nicht in säuberlich deklarierte Zeitschubladen, wie schön klar und anschaulich das auch aussieht und wie zukunftsträchtig es sich anhört. Vielmehr sind alle Erkundungen des Terrains fließend, lassen neue Konturen vielleicht in Zukunftsphasen von ein, kaum schon zwei Jahrzehnten erkennen oder erahnen. Geschichtsmäander richten sich nicht nach künstlichen Jahrhunderttrennlinien, sondern bilden ein Kontinuum, bei dem ein schlichter Alltagssatz eine simple Erfahrung spiegelt: dass nämlich heute morgen gestern ist.
Gut, aber Vorwärtsdenken sollte schon sein, befand in seinem Nachruf auf dieses DAM-Podium („Der Zukunft abgewandt“) FAZ-Feuilletonredakteur Matthias Alexander. Doch statt der Frische wie bei Dora Schmid und den Zukunftsfragen wie bei Markus Lobbe sei bei den Frankfurter Intendanten eher ein „Weiter so“ herauszuhören, der Wunsch nach „Fortsetzung der guten alten Zeit“. Was wohl in der Zusammenfassung heißt: eine Verlängerung der heutigen Theater- und Opernpraxis unter dem Siegel des Status Quo.
Allerdings, eine schnittige Vorwärtsvision hatte schon der Leiter der Münchner Theaterakademie, Hans-Jürgen Drescher, in einem der ersten Symposien zum Generalthema nicht abliefern wollen: Dafür könne man höchstens eine Glaskugel bemühen. In die gleiche Richtung zielte jetzt die Hamburger Theaterwissenschaftlerin Ulrike Haß beim aktuellen Goethe-Uni-Symposion. Es gebe keinerlei „verbindliche Antworten“, welches Theater in der Zukunft gebraucht und gespielt werde.
Ausgang vom Schauspiel Frankfur zum Willy Brandt-Platz; Foto: Petra Kammann
Theaterzukunft generell: „Keine verbindlichen Antworten“
Bei der grundsätzlich als offen betrachteten Perspektive zeichnete sich ein gemeinsamer kleinster Nenner ab: Eine große Bühne werde es sicher weiter geben (das hatten auch frühere Podien vorhergesagt) und weiter brauchen, als Basis des Theaterspielens, wenn auch nicht mehr unbedingt mit dem früheren Primat des zentralen Ortes und der hohen Repräsentativität. Mit dieser Vorzeigeeigenschaft, die gerade die Epoche des bürgerlichen Theaters im 19. Jahrhundert gekennzeichnet habe, ist es nach Einschätzung der Goethe-Diskutanten ohnehin weitgehend vorbei. Von der damit verbundenen Charakteristik des Statischen – von der Institution über die Organisation bis zum solitären Bau – gehe tendenziell es zum Dynamischen, zu einem offenen System (Carsten Ruhl).
Dabei goß Nikolaus Müller-Schöll, profilierter Theaterwissenschaftler der Goethe-Universität, einiges an Wasser in den derzeit allerorten angepriesenen Wein der Öffnung der Theater: „Was heißt schon offen? Öffnen für wen und auf welche Gruppen hin?“: Das ist für ihn keine kleine Frage. Cafés, Bibliotheken, Läden, Begegnungszonen, Aussichtsterrassen: All’ solche Einzelpunkte bei „Öffnungsphantasien“ führten keineswegs in grader Linie zu neuen, zu zusätzlichen oder zu anders engagierten Theaterbesuchern. An mehreren Stellen variierte er seine Skepsis hinsichtlich neuer Konzepte, spitzte den von Ulrike Haß vertretenen Befund der gleichzeitigen Krise von Stadt und Theater angesichts der tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozesse noch zu: „Das Theater hat seine elementare Funktion eingebüßt.“ Dies alles müsse auch die Frankfurter Diskussion bestimmen, mit der zentralen Frage: „Was will die Stadt eigentlich mit dem Theater?“, auf welche Funktion/Funktionen solle der Entwurf zielen?
Ähnliche Aspekte breiteten auch die Architekturwissenschaftler Carsten Ruhl und Frank Schmitz aus. Während in der Nachkriegszeit die Theaterbauten für die Städte eine hohe Bedeutung gehabt hätten – inklusive einer erkennbaren Konkurrenzsituation, einer hohen identitätsstiftenden Funktion und einer gesellschaftskonstituierenden Kraft –, stehe das bundesdeutsche Stadttheater „heute an einem Wendepunkt“. Woraus sich Fragen ableiteten, welche weit über frühere radikale Einzelkritik („Sprengt die Opern“, „teure Särge“) an einem erstarrten Apparat hinausgingen. Statt wie früher uneingeschränkt „Spiegel gesellschaftlicher Ordnungen“ und dann Mitte der 60er Jahre Orte „kollektiver Aushandlungsprozesse“ und der „Selbstvergewisserung der neuen Zeit“ zu sein, so die Ruhl-Formeln in dessen Eingangsstatement, stünden sie jetzt unter dem Fragevorbehalt eines „liebgewonnenen Klischees“.
Der Frankfurter Osten mit der EZB als neue Heimat von Schauspiel und Oper?; Foto: Uwe Kammann
Gegen Theater als Trägerbauten für das Stadtmarketing
Ulrike Haß sieht neue und notwendige Wege im Rückbezug auf ganz frühe Formen des komödiantischen Straßentheaters, hält viele unterschiedliche Spielformen und auch dezentrale Spielstätten für wünschenswert: als angemessene Antwort auf viele heterogene Gruppen, die ganz andere Bedürfnisse – auch eigene Spielbedürfnisse – hätten als das lange dominierende bürgerliche Publikum. Es müsse dabei vermieden werden, so die Theaterwissenschaftlerin, dass die Theater Instrumente des Stadtmarketings und einer an Besuchermaximierung orientierten Erfolgslogik würden. Positiv müsse es um stadtbelebende Begegnungsräume gehen. Es fiel die Formel „dritte Orte“, verbunden mit Teilhabe.
Konnte man den Beiträgen sinnvolle Perspektiven für die natürlich unvermeidliche Entscheidungsfindung in Frankfurt entnehmen, auch für die notwendigen „Setzungen“ bei der Ausarbeitung der Raumprogramme, Standortbestimmungen und Bauformen? (Erinnert wurde an ein Zitat von Hans Scharoun, Architekt der noch immer hinreißenden Berliner Philharmonie: „Wer eine Schule baut, darf nicht die Sechsjährigen fragen.“)
Eine der Perspektiven sieht sicherlich so aus: Es gehe doch immer um Häuser mit der Verbindung von Spielbühne und Publikumssaal (Opern-Spezifika wurden – bezeichnenderweise? – nicht diskutiert). Dies allerdings in einer Form, die über die „für andere gesellschaftliche Zustände geschaffene große Bühne“ (Müller-Schöll) hinaus eine flexible Grundgestaltung mit unterschiedlichen Spielräumen ermögliche. Er nannte als Beispiel die Berliner Schaubühne, deren Haus viele Varianten zulasse (notabene: realisiert wird dies in einem inneren Neubau in der Hülle eines Kinos aus den 30er Jahren). Daneben erwähnte er ein neues Haus in Frankreich. Es firmiert unter dem Namen „Maillon, Theater Straßburg-Europäische Bühne“ und ist in allem der denkbar größte Kontrast zu den Prachtbauten der Oper und des Nationaltheaters in der Innenstadt, welche natürlich auch die große Bühne für die feine Gesellschaft boten, ein Muss der bürgerlichen Epoche. Das Maillon ist ein ganz schlichter schwarzer Kasten mit großen Fensterausschnitten, der im Inneren als hyperflexibles Gehäuse einen großen Leerraum bietet, der sich an ganz unterschiedliche Konfigurationen und Kunstformen anpassen lässt. (Ein guter Einblick: https://www.designraid.net/12717/theatre-of-maillon-by-lan-architects/)
In diese Richtung könnte es gehen, als Einladung zu einem stets offenen Spielgeist, einladend zum Probieren und Improvisieren, „wohltuend und befreiend“, wie Frank Schmitz solche Raumkonzeptionen nennt. Wobei er ganz generell eine Abkehr von der „Überinstrumentierung“ des Theaterspielens für geboten hält, vom Immer-Mehr bei der technischen Ausstattung und verstiegen-aufwendiger Bühneneffekte. Vielleicht sei diese Vorstellung vom „Einfachen“ des Theaters von romantischer Naivität, doch solle man darüber als einen eigentlichen Vorzug nachdenken: „Gegenüber dem Film und dem Fernsehen mit seinen technischen Möglichkeiten sitzt das Theater immer am kürzeren Hebel“.
Einige Schlussfolgerungen: Wohin geht die Theaterreise?
Wahrscheinlich wird diese Einsicht zu den zentralen Punkten gehören. Denn letztlich ist das Theater doch immer dann im Kern seiner selbst, wenn es um das unmittelbare Spielen geht, im jeweils einzigartigen Zeitkontinuum, gebunden an die Einmaligkeit jeder Aufführung. Genau dies, in all seiner Flüchtigkeit, macht ihre Qualität im Gelingen aus, wozu aber auch immer das sicht- und hörbare Scheitern gehören kann. Theater zieht seinen artistischen Akteuren kein Schutznetz ein. Selbst wenn noch so viele ausgetüftelte Einfälle und eine lange Reihe von ausgiebigen Proben ein Stück bestimmen sollen: Die Intensität der Wahrnehmung, die Qualität der Beziehung von Bühnenspiel und Publikumsresonanz ist immer an das jeweils einzigartige Geschehen gebunden.
Der leidenschaftliche Rundum-Künstler und Theatermann Jan Fabre beschreibt das bestens in seinem Buch „Troubleyn Laboratorium“ – eine Hymne auf einen Theaterbau und all’ seine Kunstoptionen in Antwerpen, der nichts vom repräsentativen Solitär hat, sondern ein schlichtes fabrikähnliches Haus ist, das früher in einem Arbeiterviertel zur Unterhaltung diente, heute hingegen vielfältige Spiel- und Kunstformen zulässt. Theater, so Fabre, könne sich mit vielen Attributen ausstatten. Doch was wirklich zähle, sei der magische Moment, wo sich eine virtuelle Welt in einem Raum entfalte. Und noch ein Moment hebt er hervor: dass im Wort Theater eben beides stecke: die Aktion des Spielens selbst als auch der Raum, in dem es stattfinde. Theater, so seine Quintessenz, sei „die nackteste aller Künste“.
Wer diesen Satz annimmt, der wird auch die derzeitige Allgegenwart des Wortes digital schnell relativieren. Denn es liegt doch auf der Hand, wofür die per digitaler Technik gesteuerten Geräte vor allem stehen: für die Aufnahme und die Übertragung von Geschehnissen und Ereignissen, für die Speicherung und Vervielfältigung, für das Prinzip des Jetzt und Überall – rund um die Welt, in Quasi-Echtzeit im Netz zirkulierend. Und eben als Konserve verfügbar.
Troubleyn, Das Laboratorium von Jan Fabre: Theaterraum in Antwerpen;
↑↓ Fotos: Petra Kammann
Das alles ist im Prinzip ja gar nicht neu. So waren die ersten Fernsehspiele in der Nachkriegszeit im Grunde Theateraufführungen, die in Echtzeit von damals so großen wie unbeweglichen Studiokameras übertragen wurden. Als die Technikmöglichkeiten flexibler wurden, glichen sich die TV-Produktionen nach und nach denen des Films an – was eine Befreiung aus dem kammerspielartigen Studioraum bedeutete. Und eine Trennung von der Theatertradition und den literarischen Verbindungslinien.
Ist die TV-Übertagung von Theater und Oper eine angemessene Form?
In späteren Jahren tobte dann ein vehement ausgetragener dramaturgischer Streit, wie sinnvoll es sei, Theateraufführungen im Fernsehen zu übertragen. Die Gegner/Puristen beharrten auf dem Ausschluss-Argument, das lebendige Bühnengeschehen lasse sich in keiner Weise übertragen, es verliere alles an Lebendigkeit, Kraft und Intensität. Gemäßigtere verlangten, eine Übertragung oder auch Aufzeichnung müsse sich auf die Zentralperspektive beschränken, mit starrem Kamerablick auf die Bühne, um auf diese Weise die Guckkastenbeziehung eines Zuschauers nachzuahmen. ‚Modernisten’, welche für eine ‚filmische’ Aufbereitung des Bühnengeschehens plädierten – sprich: mit verschiedenen Kamera-Achsen, mit dem Wechsel von Total- und Nahaufnahmen, mit der Handlungsakzentuierung durch bewegliche Größenveränderungen (Zoom) –, diese ‚Modernisten’ also wurden lange beargwöhnt: weil dies das reale Bühnengeschehen in subjektiver Außeninterpretation verfremde.
Dieser Grundsatzstreit zog sich lange hin. Auch die institutionelle Form des Transports von Theater via Fernsehen verlief mäandernd und gespalten, so auch im Bühnenverein. Die einen sprachen sich für den Multiplikationsaspekt aus, sahen darin auch die Chance der Teilhabe vieler Menschen, die schon örtlich keinerlei Zugang zum Theater haben, die an Schwellenfurcht leiden, denen es an finanziellen Mitteln fehlt, auch an Vorwissen oder an familiärer und gesellschaftlicher Konvention. Als das ZDF dank eines sehr persönlichen Engagements einen Theaterkanal einrichtete, war das nur von kurzer Dauer – auch, weil der Publikumszuspruch sehr überschaubar war.
Jetzt, mit den Erfahrungen des Corona-Ein- und Ausschlusses und dem Ausprobieren des potentiellen Seh-Raumes im Netz, lässt sich sagen: Hier kann die digitale Aufzeichnungs- und Übertragungstechnik viele neue Möglichkeiten erschließen. So beim wesentlich offeneren Zugang, so bei der Archivierung und damit der Vergleichsmöglichkeit und Repertoirebildung, so bei der dramaturgisch-filmischen Übersetzung des Bühnengeschehens. Diese reicht von der erhellenden Nahaufnahme – nicht jeder Zuschauer sitzt in der ersten bis dritten Reihe – bis zu szenischen Akzentuierungen der Handlung und der größtmöglichen Annäherung an die Ausdrucksformen der Schauspieler. Auch die Unterlegung mit vielsprachigen Texten kann gerade bei Opernaufführungen mehr als hilfreich sein. Eine Sonderform könnte sich übrigens auch etablieren: die Übertragung von Aufführungen in Kinos.
Elektronisch erzeugter Hintergrund auf der schlichten Bühne des Bockenheimer Depots; Foto: Petra Kammann
Beckett: keine Furcht vor dem Filmischen
Und überhaupt, vor dem Filmischen müssen sich auch Hardcore-Theaterfreunde nicht fürchten. Samuel Beckett, einer der frühen Säulenheiligen des modernen Theaters, realisierte schon Mitte der 60er Jahre für den Süddeutschen Rundfunk Fernsehspiele, schuf neue Formen der Integralgestaltung von Raum, Stimmen, Musik, Geräuschen – insgesamt eine hoch innovative Art von Medienkunst.
Was auch heute wieder vermieden werden sollte: aus solchen Formen und Varianten Ausschlussargumente zu filtern. Wer dies versucht, sollte schnell an eine Erinnerungsmaschine angeschlossen werden. Dort ertönen dann die Totsager vom Roman, von Literatur überhaupt, die Totsager auch von Opas Kino und der traditionellen Musik bis zu den Wahrsagern, die außer der von ihnen definierten und nach ihren kanonischen Regeln definierten Avantgarde nichts gelten lassen, sei es im Raum der Kunst, sei es im Gefüge der Städte. Es gibt Beispiele zu Hauf, wie schnell der letzte Schrei wirklich zu dem wird, was in ihm steckt: der letzte.
Das wird voraussichtlich auch für den derzeitigen Mode-Hype gelten, das Filmische schon auf der Bühne zum wesentlichen Gestaltungsmittel zu machen. Denn dort zerstört es genau das, was doch das wesentliche Moment des Theaters ist: die Unmittelbarkeit des Spiels von Menschen, im Dort auf der Bühne und dem Jetzt in der Zeit. Genau das ist doch der produktive Rahmen: immer wieder, aber eben nur in jenem Moment, ein lebendiges In-die-Welt-Holen zu erleben. In einem geschlossenen Raum, in einem geschützten Moment der Konzentration, in gemeinsam zu spürender körperlichen Intensität.
Keine kleine Sache: die Verantwortung für den großen Apparat
Von daher entspricht es vielleicht nicht nur dem Beharrungsvermögen und dem Starrsinn, welche dem Alter nachgesagt werden, sondern auch einer tiefenimprägnierten Lebens- und Berufserfahrung, wenn die Intendanten Anselm Weber und Bernd Loebe im bislang letzten Symposion des Architekturmuseums auch schlicht Linien der Verlängerung des Bisherigen ziehen (das schließlich beileibe nicht nur aus Wiederholungen des Immergleichen besteht). Und wer wollte es den Verantwortlichen verübeln, wenn sie beim Stichwort Städtische Bühnen auch an den immensen Apparat denken, der damit verbunden ist – in Gang gehalten und gestemmt von mehr als 1000 Mitarbeitern. Wer darin nur Routine, Verwaltungsspeck und überflüssiges Handwerk sieht, der hat keine Augen für das, was diese Köpfe und Hände herstellen, der hat auch, schlicht gesagt, keine Ahnung.
Andrea Jürges, Stellvertretende Leiterin des DAM, Foto: Petra Kammann
Und wer, im speziellen Falle Frankfurt, den bisherigen Überlegungsprozess als vollkommen ‚daneben’ ansieht, wer alles bezweifelt, was eruiert worden ist in Sachen des baulichen Status quo, der sollte noch einmal das Interview lesen, das Andrea Jürges und Yorck Förster vor zweieinhalb Jahren der „Frankfurter Rundschau“ gegeben haben. Für die von ihnen konzipierte und realisierte Ausstellung „Große Oper – viel Theater?“ im Deutschen Architekturmuseum (DAM) haben sie sich in bewundernswerter Weise in die Materie von Theatersanierungen und –Neubauten eingearbeitet, dabei auch gründlich die Frankfurter Voraussetzungen untersucht. Wer ihren Überlegungen folgt, versteht sofort: Beim Doppelhaus wäre ein einfaches ‚Weiter so’ nicht zu verantworten. Auch die Kostendimensionen lassen sich nicht einfach vom Tisch zu wischen: Es gibt viele Einzelaufgaben zu berücksichtigen, in unterschiedlichen Konstellationen und Gewichtungen.
In der Ausstellung haben Jürges und Förster per internationalem Vergleich auch gezeigt, dass Repräsentationswünsche und das Streben nach architektonischen Ikonen, die zur Identifikation einladen und Stolz auslösen, keineswegs von gestern sind. Und dies nicht nur, wie Ulrike Haß argwöhnt, weil Städte sich mit solchen Bauten dem Kommerzwahn hingäben. Hier muss sich auch Carsten Ruhl fragen lassen, ob Architekturbilder (wie sie im letzten Frühjahr für die Frankfurter Bühnen als Platzhalter vorgestellt wurden) als Potemkische Dörfer jeder Rationalität entzogen sind. Denn natürlich vermitteln solche Skizzen und Simulationen auch Anschauungen einer möglichen neuen Realität – für das Laienpublikum eine unverzichtbare Krücke, um sich überhaupt ein Bild zu machen (auch die Jurys können nicht ‚ohne’). Die Entstehung der Elbphilharmonie verdankt sich allein der Architektenvision dieses Glassegels im Hafen, eine Vision, die sofort alle elektrisierte und begeisterte. Und: Die Kohlezeichnung eines kristallinen Hochhauses aus der Hand von Mies van der Rohe ließ Berlin-Liebhaber über Jahrzehnte von einer Realisierung träumen.
Kein einfaches So oder So – und kein Ausklammern der Finanzen
Schauspielchef Anselm Weber; Foto: Petra Kammann
Was, als schlichte Wahrheit zusammengefasst, bedeutet: Es gibt, weder in Frankfurt noch anderswo, nicht das einfache So oder So. Es kann keine klare Vorentscheidung zwischen der berauschenden Elphi-Magie und dem radikalen Experimentierzauber des so sympathischen Straßburger Leer-Raums mit all’ seinen Laborqualitäten geben. Es gilt die platteste aller Wahrheiten: Es kommt darauf an.
Zur besonderen Crux gehört auch: Es lässt sich nicht alles nebeneinander finanzieren. Wer dies meint, wie kürzlich ein Städteplaner, der die sich bedrohlich leerenden Innenstädte durch eine Reihung von Gastronomie und kleinen Theatern zu einer einzigen Bespaßungs- und Spielzone machen will, der hat von Lebensrealität keinen blassen Schimmer, der hat noch nie einen Gedanken daran verschwendet, dass Geld auch verdient werden muss. Und schon lange nicht bei allen sprudelt.
Tatsächlich, nicht zu vergessen, ist bei allen Überlegungen der finanzielle Hintergrund nie auszuklammern. Gerade wer die zentrale Ausgangsthese des Goethe-Symposions nicht bloß für aus der Luft gegriffen oder frivol hält – sprich: die Elementarfunktion des Theaters schwinde in einer zunehmend heterogenen, sich spürbar und sichtbar entbürgerlichenden Gesellschaft mit stark divergierenden Milieus und Gruppierungen samt der damit einhergehenden Interessenkonflikte –, wer diese These für plausibel hält, der wird auch nicht um Fragen wie folgende herumkommen:
Ist der aus dem allgemeinen Steueraufkommen beglichene Frankfurter Bühnenzuschuss von gut 200 Euro pro abendlicher Besuchernase (zu verdoppeln bei einer baulichen Milliardeninvestition) ohne Wenn und Aber gerechtfertigt, wenn bei monatlichen Hartz-4-Bezügen um 10 Euro mehr gestritten wird? Wie oft und in welcher Qualität wird die oben beschriebene Magie-Option des Theaters und der Oper sicht- und hörbar? An welcher Stelle und mit welchen Mitteln verheben sich die Akteure? Wird das Versprechen der Befürworter, damit werde die innergesellschaftliche Debatte vorangetrieben, tatsächlich in der Regel eingelöst? Oder gleicht diese Formel immer mehr einem Mantra, das nicht hinterfragt werden darf? Hilft der traditionell hohe Rang von Schauspiel und Oper in der Kulturhierarchie, um diesen vergleichsweise alten Medien ein leichtes oder dauerhaftes Überleben zu sichern, wenn die gesellschaftlichen Kraftfelder und Wertvorstellungen sich ebenso fundamental ändern wie die medialen Realitäten mit dem Netz als Mega-Medium?
Solche Fragen auch mit jenen der Finanzen zu verknüpfen, das ist in der Regel streng verpönt. Darf man also so nicht rechnen und reden? Doch, denn man muss die Relationen sehen: Die Mittel der Stadtgesellschaft sind endlich, die Aufgaben sind vielfältig, nicht zuletzt bei der Bildung in den ersten, zweiten Phasen der kindlichen, der jugendlichen Entwicklung. Allerdings, es ist immer noch ein Tabuthema, wer es berührt, wird leicht in die Ecke des Kulturbanausentums gestellt. Auch wenn Einsichtige einräumen werden, dass gesellschaftliche Selbstvergewisserung, um das schöne Wort aufzugreifen, heute für die Mehrheit der Bürger über andere Medien wahrgenommen wird – die sich auch immer stärker ausdifferenzieren.
Wie elementar ist das Theater in der zukünftigen Gesellschaft?
Im Goethe-Symposion wurde übrigens bei der zentralen Frage nach der heutigen Theater-Funktion eine (erfundene?) Politikersentenz zitiert. Die Antwort auf die Frage: Warum braucht eine Stadt ein Theater? lautet danach schlicht: Weil eine Stadt ein Theater braucht.
Doch die kleine tautologische Ironie hilft natürlich nicht weiter. Wie Realsinn und Pragmatismus aussehen können? Auch das ist offen. Ein ganz praktischer Vorschlag für Frankfurt ist übrigens bislang eher am Rande und flüchtig diskutiert worden. Was ist mit den renovierten und den neuen Messehallen, die in dieser Zahl und Dimension wahrscheinlich nie mehr belegt werden können? Ob hier, zumindest für eine Übergangszeit, Schauspiel und Oper den Ort finden könnten, um ohne personelle oder künstlerische Einbußen all’ das zeigen und probieren könnten, was in einer solchen Raumkonstellation möglich ist?
Halle 3 im Frankfurter Messegelände; Foto: Uwe Kammann
Theaterliebhaber des alten Schlags schwärmen noch heute vom Antikenprojekt, mit dem Peter Stein und Klaus Michel Grüber in den nüchternen Berliner Messehallen das Publikum in den Bann schlugen. Das Berliner Olympiastadion war, ebenso unerwartet, in expansiver Raum-Zeit-Dimension ein Theaterort jenseits aller Entzauberungsvorhersagen. Das Kesselhaus in der transformierten Industrie-Wunderwelt Duisburgs: eine umwefende räumliche Total-Erfahrung. Undund. So wie in Frankfurt der Mouson-Turm und die Naxoshalle gegen alle Wahrscheinlichkeiten sofort als Theater, als Schaustätte, erlebbar sind. Einfach, weil dort in besonderer Weise Theater gespielt wird.
Das alles führt an dieser Stelle zur Schlussthese, zum Appell: Es sollte nicht zu früh das eine Modell gegen das andere ausgespielt werden. Und es sollten nicht anmaßende Besitzstandswahrer des baulich Bestehenden (FAZ: „Stahlbetonköpfe mit Glaskinn“) sich mit ihrer nostalgischen 60er-Jahre-über-alles-Haltung durchsetzen, bloß weil dies der Politik gelegen kommt, sie zu bequem ist oder gegenüber Denkmalüberlegungen zu willfährig operiert. Eine solche Blockade, welche alle Optionen schon im Ansatz verhindert, hat Frankfurt nicht verdient.
Natürlich, das alles ist immer noch ein großes Knäuel. Aber manchmal freut man sich schon, wenn abseits der üblichen Pfade anregend diskutiert wird. Gleichwohl, irgendwann, so hieß es am Anfang dieses Beitrags zu Recht, muss entschieden werden. Ob in Sachen Theater dieser Satz eines Architekten aus Düsseldorf hilft? Thomas Beucker, der zum faszinierten Berliner Publikum des Antikenprojektes in Berlin gehört hat, rät den Frankfurtern in ihrem Dilemma schlicht: „Nicht die Häuser müssen bewegt werden, sondern die Menschen in den Häusern müssen sich bewegen.“ Was Bewegungen jeglicher anderen Art nicht ausschließt. Bloß die berühmte falsche Bewegung, die sollte es nicht sein.
Der Vorhang zu und viele Fragen offen; Foto: Petra Kammann