Haruki Murakami und Yoko Ogawa
Literatur aus Japan
von Simone Hamm
Haruki Murakami: „Erste Person Singular“
Foto: © Markus Tedeskino / Dumont
Ein früher Roman von Peter Handke heißt: „Die Stunde der wahren Empfindung“. In einer solchen Stunde sieht man alles, als sähe man es zum ersten Mal. Ein Kastanienblatt, eine Spiegelscherbe, eine Zopfspange wahren ein Geheimnis, das der Autor nicht entschlüsseln will. In seinem jüngsten Erzählband „Erste Person Singular“ lässt Haruki Murakami seine Protagonisten solche Stunden, solche Momente der wahren Empfindung spüren. Im Frühherbst 1964 rennt im schummrigen Schulflur ein Mädchen an dem Ich-Erzähler vorbei. An die Brust gedrückt hat sie eine Schallplatte „With the Beatles“. Das Cover ist ein Foto der Beatles im Halbschatten.
„Mein Herz hämmerte, mein Atem stockte, und alle Geräusche um mich herum klangen gedämpft, als wäre ich auf den Grund eines Schwimmbeckens gesunken. Nur eine kleine Glocke schrillte in meinen Ohren, als wolle mir jemand dringend etwas sehr Wichtiges mitteilen.“
Es bleibt seine einzige Begegnung mit diesem Mädchen. Er wird sie nie vergessen.
Musik ist ein tragendes Element dieser Stories: Popmusik, die Beatles, Jazz, Charlie Parker, Klassik, Schumann.
Haruki Murakamis Erzählungen dürften durchaus autobiografisch sein (einmal fällt sogar sein Name: Haruki Murakami) und sind es doch nicht. Es sind fiktionale Biografien. Möglichkeiten. Abbiegungen im Leben, an denen Murakami in der Wirklichkeit anderswo abgebogen ist.
Denn wie immer bei Murakami vermischen sich reale und phantastische Elemente: ein sprechender Affe schrubbt ihm beim Baden in der heißen Thermalquelle den Rücken. Der Affe verliebt sich in Frauen, nicht in Äffinnen. Da er diese Liebe nicht ausleben kann, stiehlt er den Frauen ihren Namen.
Das findet der Ich-Erzähler dann doch seltsam – bis ihn eines Tages eine Frau bittet, ihm ihren Namen zu sagen, sie könne sich nicht daran erinnern.
In „Carneval“ lernt er bei einem Konzertbesuch eine sehr hässliche, hochmusikalische Frau kennen. Sie stellen fest, dass ihrer beider Lieblingsmusik „Carneval“ von Robert Schumann ist, hören die verschiedenen Interpretationen. Dann verschwindet die Frau aus seinem Leben. Im Fernsehen sieht er sie wieder. Sie wird in Handschellen abgeführt.
Einmal hat der Ich-Erzähler in „Charlie Parker Plays Bossa Nova“ ein Album von Charlie Parker erfunden, dass es gar nicht gibt. Jahre später stößt er in einem New Yorker Laden für second hand Platten auf eben dieses Album.
„Zu meiner größten Verblüffung stimmten die Titel ebenso wie die aufgeführten Musiker exakt mit jenen überein, die ich mir als Student ausgedacht hatte.“
In der Titelgeschichte „Erste Person Singular“ zieht der Ich-Erzähler sich Anzug und Krawatte an und fühlt sich darin wie verkleidet. Er geht in eine Bar, wird von einer Frau beschimpft, die seine Maskerade durchschaut und ihm vorwirft, vor drei Jahren etwas Widerwärtiges, Schreckliches getan zu haben. Meint sie ihn? Hat er so etwas getan? Meint sie einen anderen? Verwechselt sie ihn? Wer ist er denn? Im Spiegel ist er sich wie ein Fremder vorgekommen.
Keines der Rätsel wird entschlüsselt. Es ist wie es ist. Surreal. Real. Komisch. Tragisch. Ein echter Murakami eben.
Haruki Murakami
Erste Person Singular.
Aus dem Japanischen
von Ursula Gräfe
224 Seiten
DuMont. 22 €
Yoko Ogawa: „Insel der verlorenen Erinnerung“
Yoko Ogawa,
Foto: Verlag Liebeskind
Ein namenloses Regime herrscht auf einer namenlosen Insel. Nach und nach verschwinden Dinge. Erst aus der Wirklichkeit und dann aus der Erinnerung der Inselbewohner: Hüte, Rosen, Glocken, schließlich Gliedmaßen. Davon erzählt Yoko Ogawa in ihrem Roman „Insel der verlorenen Erinnerung“.
Auch die Vögel verschwinden, ganz plötzlich, so wie alles immer ganz plötzlich verschwunden ist. Der Vater der Ich-Erzählerin war Ornithologe, deshalb berührt sie Verschwinden der Vögel. Sie ist glücklich darüber, dass die Vögel erst nach dem Tod ihres Vaters verschwinden.
„Diesmal sind es die Vögel“, sagte mein Nachbar, der ehemalige Hutmacher. „Meinetwegen gern. Auf die kann man verzichten. Sie fliegen sowieso nur nutzlos in der Gegend herum“
Der Hutmacher fertigt Regenschirme an, seitdem die Hüte verschwunden sind. Er hat sich arrangiert. Er protestiert nicht. Niemand protestiert.
Nur ganz wenige Menschen haben noch die Kraft, sich zu erinnern. Manche von ihnen bewahren die verlorenen Dinge. Die Erinnerungspolizei sucht nach ihnen, jagt sie, fängt sie, steckt sie Gefängnis – so wie eine Bildhauerin, die in den Hohlräumen ihrer Skulpturen verschwundene Gegenstände versteckt hat. Sie ist (oder sie war, denn niemand kennt ihr Schicksal) die Mutter der namenlosen Ich-Erzählerin. Wie die Mutter ist auch die Tochter Künstlerin, sie ist Schriftstellerin.
Die meisten Menschen jedoch vergessen schnell, passen sich an. Der Lektor der Erzählerin kann nicht vergessen. Er verfügt über die gefährliche Gabe der Erinnerung. Die Schriftstellerin versteckt ihn bei sich im Keller. Sie begibt sich damit in große Gefahr. Die Versteckten und die, die sie versteckt hatten, werden deportiert.
Dann werden alle Menschen gezwungen, ihre Bücher zu verbrennen.
„Die ehemalige Bibliothek war nur noch ein schwarzer Haufen Schutt. Nichts erinnerte mehr daran, dass hier bis vor kurzem Bücher aufbewahrt wurden. Stocherte man in den Trümmern herum, würde es vermutlich noch qualmen.“
Ganz und gar unaufgeregt erzählt Yoga Ogawa in ihrem dystopischen Roman. Sie ist eine Meisterin der Reduktion. Ihre Sprache ist stets klar, fast puristisch. Und eben deshalb, weil Yoko Ogawa Sprache so kühl, so genau ist, lässt sich ungeheuerliche Plot dieses Romans ertragen.
Das Sich-Abkapseln, Sich-Verbergen vor der Welt ist ein häufiges Motiv in Yoko Ogawas Romanen. Ebenso erzählt sie oft von Menschen, die sich in einer ganz eigenen Welt eingerichtet haben. Aber nie ist es so politisch wie in diesem, in Japan schon 1994 erschienenen Roman „Die Insel der verlorenen Erinnerungen“. Die „New York Times“ sieht in ihm eine Allegorie auf den wiedererstarkenden Autoritarismus und nennt ihn – auch ein gutes Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen – hochaktuell.
Man kann diesen Roman sicher auch ganz anders lesen: als eine Warnung, denn so lange ist es noch nicht her, dass Bücher verbrannt worden sind. Als ein Buch über Vereinsamung und Vereinzelung. Oder als einen liebevollen Blick zurück, als die Welt noch eine bessere, ruhigere, weniger hektische, weniger schnelllebige war.
Yoko Ogawa.
Insel der verlorenen Erinnerung.
352 Seiten.
Aus dem Japanischen
von Sabine Mangold
352 Seiten
Liebeskind. 22€