Ganz schön vielfältig: Der DAM-Preis reflektiert deutsche Architektur der Gegenwart
Das Deutsche Architektur Jahrbuch 2021 muss derzeit die Anschauung ersetzen
Von Uwe Kammann
Erster Preis: Werk 12, München, ARGE MVRDV & N-V-O NUYKEN VON OEFELE ARCHITEKTEN; Foto: Ossip van Duivenbode, @Ossip
„Schwer begeistert“: Ein solch’ überschwängliches Lob aus dem Mund des Direktors des Deutschen Architekturmuseums (DAM), Peter Cachola Schmal, ist selten. Bei der Vorstellung der Preisträger des diesjährigen DAM-Preises für herausragende Bauten in Deutschland vernahm man es nicht nur einmal. Die generelle Bewertung des letzten Jahrgangs (vorgeschlagen und geprüft wurden zwischen Ende 2018 und Frühjahr 2020 fertiggestellte Bauten) war auffällig imprägniert von guter Laune. Beim einstimmig zuerkannten ersten Preis – ein Multifunktionshaus in Stapelmanier (Fitnessclub, Bar, Industrielabor in offenen Geschossen) – fiel sogar die Formel „Luftigkeit und Leichtigkeit und Lustigkeit“. Das bezieht sich auf viele Elemente des vom holländischen Büro MVRDV und den Münchner Partnern N-V-O Nuyken von Oefele Architekten entworfenen und realisierten Gebäudes, das Flexibilität im Inneren mit Witz im Äußeren verbindet, sofort zu erkennen in geschosshohen Schmuckbuchstaben mit Comicanspielungen: „WOW“.
Dass dieses Haus in einem ehemaligen Industrieviertel Münchens entstanden ist (so produzierte dort Pfanni seine Knödel), das derzeit unter dem Signum Werkviertel zu einem vielfältigen Kultur-, Kreativ- und Wohnviertel transformiert wird, war sicher ein weiterer Pluspunkt, auch wenn er nicht direkt die Architektur betraf, sondern allgemein als Bereicherung der Stadtentwicklung gesehen wird: Freches und Experimentelles als Gegenkraft zum sonst eher saturierten München, verbunden auch mit der Aussicht, dass in einigen Jahren die Stadt hier, an ihrem östlichen Innenstadtrand, einen dritten Konzertsaal platzieren will/kann. Allerdings, auch hier scheinen die Pläne zu wackeln, aus allerorten ähnlichen Gründen: Corona-Klammheit verträgt sich kaum mit Bausummen für Hochkultur, die leicht die Dreiviertelmilliarde streifen können.
Schmal leistete sich übrigens beim Lob auf transformatorische Rand-Belebung eines früher wilden Mischquartiers einen hübschen – natürlich schnell korrigierten – Versprecher. Es gehöre zum Osthafen – gemeint war natürlich der Ostbahnhof, der drei U-Bahn-Stationen von Münchens Herz, dem Marienplatz, entfernt ist. Ja, Osthafen … das wäre in Frankfurt ein nicht ganz so einfach angebundenes Terrain für Hochkultur mit Oper und Theater.
Das Siegermodell Werk 12 im DAM – leider derzeit noch nicht geöffnet; Foto: Moritz Bernoully
Industrie, Umwandlung, Experiment, Offenheit, Flexibilität, Serielles, Einfaches, Reduziertes: Solche Begriffe gehörten diesmal ganz offenkundig zur bevorzugten Diskussions- und Entscheidungswelt der Jury, welche aus 100 vom DAM nominierten bemerkenswerten Bauten (auch Architektenkammern können vorher vorschlagen, allerdings ohne jedes Präjudiz) erst einmal 22 Projekte herausfilterte (Shortlist), die dann auf vier Finalisten eingedampft wurde – mit dem einstimmig gewählten Sieger. Das komplette Spektrum (inklusive einer Außer-Konkurrenz-Auswahl von vier Bauten deutschen Architekten Ausland) ist übrigens im Netz unter dam-preis.de zu begutachten; auch der jährlich bei DOM publishers erscheinende „Architekturführer Deutschland“ stellt die Bauten der Nominierungsliste vor. Der den Preis auch 2021 wieder begleitende großformatige Band „Deutsches Architektur Jahrbuch“ (ebenfalls DOM publishers) konzentriert sich hingegen auf die Shortlist, bietet allerdings textlich wesentliche Erweiterungen. Wenn man so will: Der DAM-Preis ist ein Kombinationsunternehmen aus zwei Publikationen und, klar, auch einer Ausstellung der knapp zwei Dutzend besten Bauten. Doch hier schiebt Corona einen Riegel vor, bis die Museen allgemein wieder öffnen dürfen. Es wird knapp werden, denn als Schlusstermin wird der 13. Juni genannt.
Insofern: Speziell das „Deutsche Architektur Jahrbuch 2021“ muss das notwendige Augenfutter und den erläuternden Lesestoff liefern (was, wie immer, exzellent gelingt, nicht zuletzt wegen der hervorragenden Bild- und Druckqualität). Dass die Beschränkung auf die digitale Vermittlung schon bei der Pressekonferenz auch spezifische Vorzüge haben kann, zeigte die schöne medientreue Idee, dass alle vier Finalisten in kurzen Filmen ihre Bauten und die damit verbundenen Ideen- und Realisierungsprozesse vorstellen konnten – die unterschiedlichen Temperamente und Handschriften waren leicht zu erkennen; auch das allerdings, was sie in diesem Jahr einte und was der Jury offensichtlich als Mehr-Wert am Herzen lag: eine Architektur, die auf Offenheit setzt, auf Nutzung vorhandener Strukturen, auf das Bewahren und Sichtbarmachen von Zeitschichten, auf das kreative Neben- und Miteinander von Bauteilen, auf das Ergänzen und Neu-Akzentuieren, auf die undogmatische Kombination.
Apropos undogmatisch: In einem Zwischenstück der Presse-Präsentation verwies Yorck Förster, Freier Kurator des DAM und Mitglied der Jury, auf etwas tatsächlich ganz und gar Ungewöhnliches an einem Wohnensemble in Nürnberg, eingepasst in die Fluchtlinie einer Straße aus der Gründerzeit. Die Architekten verwendeten dort nämlich an der Fassade noch vorhandene Dekor-Versatzstücke des Vorkriegsbaus. Eine solche Verwendung (Yorck: „Auseinandersetzung mit schmückenden Elementen“) sei für die Verfechter einer „wahrhaftigen Architektur“ schlicht eine „No-Go“-Praxis (gewesen?).
FAR FROHN & ROJAS , Wohnregal, Berlin; Foto: David von Becker
Von den Finalisten wiederum setzte das Büro FAR Frohn&Rojas wiederum am stärksten auf Bauen mit Materialien und –methoden aus der Industrie: um an einer normalen Berliner Straßenecke ein Wohn-„Regal“ aus Sichtbeton-Fertigteilen zu errichten, mit einem speziellen Gestaltungselement: einem Treppenhaus, dessen offene Flanken lediglich durch Stahlnetze gesichert sind. Konstruktiver Clou des Ganzen: U-förmige Beton-Deckenbalken mit einer Spannweite von 13 Metern, die es erlauben, den im Innern stützenfreien Raum darunter in größtmöglicher Vielfalt für offene Grundrisse der insgesamt 50 Wohnungen zu nutzen. Der Begleittext verneint, dass das offene, materialehrliche Baukastensystem brutal wirken könnte. Nun, das kommt sicher auf die Vorlieben und die Affinität der dort Wohnenden an (der Architekt gehört selbst dazu, ist auch der Bauherr). Auch ein Wind und Regen ausgesetztes offenes Treppenhaus wird nicht jedermanns Sache sein, die oft zu konstatierende Verwahrlosung von Laubengängen ist ja nicht zu übersehen. Doch wer, mit programmatischen Ambitionen, eine gröbere Außensprache mag, wird sich darauf wahrscheinlich gerne einlassen.
O&O BAUKUNST, Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (Umbau), Berlin; Foto: Schnepp Renou
Ein Musterbeispiel für die produktive Aneignung eines bestehenden Gebäudes – hier: der ehemaligen Berliner Opernwerkstätten – ist die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Diese hochrenommierte Einrichtung, bislang an unterschiedlichen Orten im Osten Berlins untergekommen, kann nun die um einen lärchenholzbeplankten Bühnenturm ergänzten früheren Räume aus den 50er Jahren vielfältig nutzen, mit jetzigen Werkstätten und Probebühnen als Kern, natürlich auch mit Klassenräumen, Und, nicht unwesentlich, mit einer neuen Cafeteria, in einer Grundstücksecke eingefügt als gläserne Schachtel mit faltbarer Lochblechfassade: eine Einladung auch nach außen – gleichsam als Scharnierzone für das ‚lebendige’ Leben, auf das sich Theater ja bezieht. Wie kraftvoll-beflügelnd das Ensemble aus Alt und Neu (nur improvisierend gestaltet, mit äußerster Reduktion) auf die Schauspielschüler wirkt, zeigte in beeindruckender Frische der kurze Präsentationsfilm des Büros O&O Baukunst, mit einem expressivem Chorschrei am Schluss: „Bau auf …“.
In der Beschreibung der alt-neuen Hochschul-Collage sind den Autoren, strukturiert wie ein Bühnenstück, schöne Überschriftenpaare zu den einzelnen ‚Akten’ eingefallen. Wer in Frankfurt lebt, würde sie wahrscheinlich gerne und mit Gewinn für die eigene Theaterdebatte importieren: „Pause und Szenewechsel“, „Aufstand, Solidarität und Umschwung“, „Umwandlung und Kontinuität“, „Neu geordnet, fertig zum Werden“, „Weiterwachsen und Anpassen“.
O&O BAUKUNST, Treppenhaus Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch (Umbau), Berlin; Foto: Schnepp Renou
Gerade die letzten beiden Motti passen bestens auf viele der vorgestellten Bauten der Shortlist, die vielen Typen und Nutzungen entsprechen, nicht auf einzelne Genres des Bauens festgelegt sind. Dies ist dem Preis schon in der Grundkonzeption wichtig, ebenso, dass möglichst viele junge Büros mit ihren Ideen, mit ihrem Schwung zu erkennen sind. Dies spiegelt sich diesmal in den Ergebnissen erkennbar in besonderer Form wieder. Auch im Kontrast zu den beiden letzten Jahren, als mit David Chipperfield und mit gmp von Gerkan Marg und Partner zwei auch international renommierte Schwergewichte der Szene ausgezeichnet wurden, für Bauwerke, die kulturelle Ausrufezeichen gesetzt haben: die neue, klassisch-elegante Eingangsgalerie für die Museumsinsel in Berlin und der in herausragender Weise behutsam an die Kombination von Konzertsaal und Bibliothek angepasste Kulturpalast (Erbe DDR) in Dresden (übrigens, Ausrufezeichen, für heutzutage sensationelle 105 Millionen Euro).
Beim diesjährigen DAM-Preis wird oft sichtbar, wie man Bescheidenheit, Wiederverwertung, Nachhaltigeit baulich interpretieren kann, ohne in Wollfilz-Mentalität zu verfallen. So beispielsweise bei einem Wohn- und Atelierhaus in Berlin (Helga Blocksdorf Architektur), das eine schlichte Remise (also ein Stall- oder Abstellgebäude) als Kern genommen hat, um es mit einem Anbau zu ergänzen, in überzeugender Anverwandlung der einfachen Materialien. Oder bei einer Kita in Memmingen (heilergeiger architekten), wo den Bauten einer alten Villa (Wohnhaus, Garage, Schwimmbad) eine neue luftige Hülle aus Polycarbonat übergestülpt wurde.
ALLMANN SATTLER WAPPNER Revitalisierung Schwanthaler Höhe; Foto: Brigida González
Wie eine Fassadenverwandlung im Gesamteindruck ein bestehendes Gebäude in verblüffender Weise verwandeln kann, zeigt die „Revitalisierung“ genannte Sanierung und innere Neustrukturierung der Schwanthaler Höhe in München. Das ist einer jener Monumentalkomplexe im Schwange des Betonbrutalismus der späten 60er Jahre, der mit brachialer Gewalt in die viel kleinteiligere geklotzt wurde Gründerzeitbebauung – ja, so muss man leider sagen – , mit seinen unteren breitgelagerten Ladenflächen und seinen vier Wohntürmen jeden Maßstab sprengend. Architekten – und hier war Ernst Maria Lang ja keiner mit kleinem Namen – liebten damals diese Massierung, dieses Stemmen und Verschränken von Volumen, das in Modellen so schön skulptural aussah, in der gelebten Wirklichkeit aber vielfach nur zu Orientierungslosigeit, Bedrohlichkeit, Verwahrlosung führte.
Jetzt hat das Büro Allmann Sattler Wappner das 200×200 Meter (!) große Ensemble neu geordnet, an manchen Stellen geöffnet, ohne es komplett ändern zu können. Es bleibe, so die Juryprosa, „trotz guter Teillösungen … weiterhin ein großes Kuddelmuddel“. Was allerdings gelungen ist: der früheren Beton-Trutzigkeit mit einer glatten Umkleidung aus reflektierendem weißen Glasmosaik das Bedrohliche zu nehmen und den Quadermassen der Türme und der Sockelpassage so etwas mehr Leichtigkeit und Luftigkeit zu verleihen. Ob es hilft, den Komplex – der mit seinen Schichtungen auch zwischenzeitlich immer wieder umgebaut wurde – lebbarer zu machen? Aber immerhin, die ursprüngliche Aggressionsgeste ist nach außen gemildert, das Auge kann ohne sofortige Abwehr in Augenschein nehmen, wie solche auf Abstraktion setzenden Großstrukturen gemeint waren. Im Jahrbuch wird als Begleitziel der neuesten Wandlung eine Hoffnung formuliert: dass es „mit Respekt gegenüber dem Original“ gelingen könne, „das Quartier über die Jahre immer wieder anzupassen und aktuell zu halten, ohne seine Ursprünge zu verleugnen.“
KUEHN MALVEZZI: Gebäudeintegriertes Dachgewächshaus und Verwaltungsgebäude, Oberhausen; Foto: hiepler, brunier
Wie wird man in vier, fünf Jahrzehnten in Oberhausen den gebauten Versuch beurteilen (immerhin: hier schaffte er es auf das Finalistenpodium), ein solide geklinkertes städtisches Bürohaus mit einem Gewächshaus zu krönen, das nicht mehr bloß dem niedlichen ‚urban gardening’ dienen soll, sondern ernsthaft als Hülle für ‚urban farming’ gedacht ist? Im Innenhof führt eine Stahlkonstruktion nach oben, eine Art Pflanzenturm als vertikale Brücke zwischen dem nicht zugänglichen „verbotenen Paradies“ des umschlossenen Hofs und dem oberen Gärtnerparadies, das von einem spezialisierten Unternehmen betrieben wird (und die Jury mit Erdbeeren aus dem luftigen Glasaufbau verwöhnte). Auch hier findet sich eine Bemerkung, die Realitätsscharfsinn beweist: dass nämlich Vandalismus im öffentlichen Raum zur Vorsorge führe, den begrünten Hof mit einem Tor zu verschließen. Es sei „wie verhext“: Die Teile jeweils für sich – Verwaltungsgebäude, Gewächshaus, Hofgarten, Stadt – „stimmen, aber sie passen nicht zusammen“.
An zwei großen öffentlichen Bauten – der Erweiterung des Landratsamtes in Neustadt an der Waldnaab (Büro Bruno Fioretti Marquez) und am Museum- und Kulturforum in Arnsberg, ebenfalls eine Erweiterung (BEZ+Kock Architekten), hier eines bestehenden Palais um die 1600er-Wende – lässt sich ablesen, wie beliebt inzwischen burgartige Gebilde mit großflächigen Mauern und wenigen, dafür großzügig proportionierten Fenstereinschnitten sind. So wie wiederum ein Betriebskindergarten des Maschinenherstellers Trumpf im schwäbischen Ditzingen belegt, welche Qualitäten sich Holz als Grundbauelement abgewinnen lassen.
Die Grundform des unter einem großzügigen, weit überkragenden Dach ins Gelände geschmiegten Hauses erinnert stark an die in Berlin geplante „Kunstscheune“ von Herzog & de Meuron. Ob es deshalb schon „Spielscheune“ genannt wird? Allerdings, im bildlichen Vergleich wirkt die vom Büro Barkow Leidinger entworfene eingeschossige Kita viel überzeugender, in jeder Hinsicht, von der Landschaftseinbettung bis zu den Proportionen und den Detaillösungen. Was immer sich die Berliner Jury bei ihrer (von der Fachwelt ja nahezu einhellig abgelehnten) Entscheidung für Berlin gedacht hat: Hier, in Ditzingen, ist die künftige museale Kunstscheunen-Realität in ihrer Absurdität noch greifbarer.
BARKOW LEIBINGER, Trumpf Betriebskindertagesstätte, Dietzingen; Foto: Stefan Müller
Deren damaliger Vorsitzender, Arno Lederer, ist in der jetzigen DAM-Letztauswahl mit einem leicht chamäleonhaften Bau an der Stuttgarter Peripherie vertreten, errichtet als Unternehmenszentrale für einen prominenten und potenten Bauherren, nämlich die Drogeriekette dm. Burgartige Ziegelfassaden markieren im städtischen Niemandsland einen kräftigen Anspruch, kombiniert mit leichten Stahl-Balkonen, die, wie das Jahrbuch unterstreicht, an die Rasterstrukturen des Karlsruher „Ortsheiligen“ Egon Eiermann erinnerten. Auch gedankliche Grundzüge Rudolf Steiners ließen sich in den Grundlinien erkennen, welche statt rechter Winkel solche aus verschobenen Perspektiven, mäandernden Fluchten und Rundungen bildeten. Klar, eine Architekturgabe für den dm-Patriarchen, der überzeugter Anthroposophie-Anhänger sei.
Auch mit solchen Reminiszenzen ist der DAM-Preis mit seinem gedruckten Spiegelbild, dem Jahrbuch, wieder eine Fundgrube, mit immer neuen Facetten fürs Entdecken, fürs Vergleichen, fürs Weiterdenken. Wobei ein Teil des Preises – weil er gleichsam außer Konkurrenz läuft – besondere Beachtung verdient: jener von Bauten, die deutsche Architekten im Ausland errichtet haben. Diesmal sind es besonders zwei gegensätzliche „Export“-Beispiele, die besonders beeindrucken.
Da ist einmal eine so einfache wie in ihrer Formensprache klare Schule in Harare, der Hauptstadt von Simbabwe. Ein Land, wie es im Begleittext heißt, „zwischen Versprechen und Misserfolg, Aufbau und Zerstörung“; mit einer Arbeitslosenquote von 90 Prozent – und entsprechendem Bedarf an der Grundlage zu einer Wende, nämlich elementarer Bildung. Hier hat der in Berlin angesiedelte Verein „Ingenieure ohne Grenzen“ ein L-förmiges Schulgebäude auf sandigem Gebiet errichtet, mit einem wunderschönen Sichtmauerwerk mit stilprägenden Bögen und ganz reduzierten Schmuckelementen, die gar nicht als solche gedacht sind, weil sie sich aus der Funktion von Lüftungsschlitzen ergeben. Das Ganze, in all’ seiner materiellen und handwerklichen Sorgfalt, steht natürlich im Kontrast zu den kargen Häuschen der Stadtrandsiedlung, doch provoziert die Schule nicht mit unnahbarem Luxus. Die in der Umgebung hergestellten Ziegel schaffen eine natürliche Verbindung zum Ort, in dem die Rising Star School, so jedenfalls das bisherige Fazit, als neuer zentraler Raum des Lebens „angenommen“ wurde.
GMP VON GERKAN MARG UND PARTNER, Südbahnhof, Hangzhou / China; Foto: Christian Gahl
Das zweite Beispiel ist – wenn denn die Bilder mehr als nur eine oberflächliche Anschauung transportieren – von überwältigender Schönheit. Es ist der neue Bahnhof der chinesischen Metropole Hangzhou, die bereits über zwei Stationen verfügt. Als Großform hat das deutsche Büro gmp von Gerkan Mark und Partner eine seitlich fast völlig geschlossene Dachhülle über einem Sockelgeschoss entworfen, eine strenge, kastenförmige Figur, die gleichsam zu schweben scheint, mit ihrem Weiß zusätzliche Leichtigkeit gewinnt. Man kann in der ruhigen, symmetrischen Grundkonzeption einige Ideen des neuen Berliner Flughafens erkennen, kann sich schnell einnehmen lassen von dieser Einladung zu langen und kurzen Reisen, die in einer waagerechten Kathedrale beginnen. Es ist nicht der einzige gmp-Bahnhof in China – ein anderer zeigt klassisch geschwungene Hallenschiffe -, und auch er ist wieder ein eindrucksvoller Beleg für die erstaunliche Kompetenz und Kontinuität dieses Büros, dessen Ruhm und Erfolg einst mit dem Tegeler Sechseck-Flughafen begann und das auch mit dem Berliner Hauptbahnhof bewiesen hat, mit welch’ überragender technischer Eleganz sie Massenmobilität zu einem jederzeit neuen Erlebnis machen können.
Wer diese Ausstellung vielleicht ja doch, trotz gegenwärtiger Coronasperre, in Augenschein nehmen kann; wer, was ja leicht ist, sich in das „Deutsche Architektur Jahrbuch 2021“ vertieft: Der kann nur zum Schluss kommen, dass es so schlecht nicht bestellt ist um Architektur in Deutschland (mit Plus-Schwerpunkten in Berlin und im Südwesten) und aus deutschen Büros. Und er wird sich eine Frage stellen: Was in aller Welt hat den so verdienstvollen DAM-Direktor geritten, als er kürzlich auf eine Frage zu den Möglichkeiten der Architektur befand, es gehe bei Architektur nicht um die Qualität, sondern „um die Symbole dahinter“, es gehe um ihren symbolischen Wert. Vielleicht war diese Einlassung nur auf die Paulskirche gemünzt, weil ihre Zukunft zur Debatte stand. Doch es klang merkwürdig allgemein.
Was jetzt die lange und die kurze Liste des DAM-Preises zeigen: Architektur kann sehr unterschiedliche Bilder, Eigenschaften und Positionen realisieren und im wortwörtlichen Sinne verkörpern. Mit einer Vielfalt, die staunen macht, mit Überraschungen, die alles andere transportieren als Standardlösungen und Langeweile. Eine Feststellung, die mit einer menschlichen Grundeigenschaft verbunden ist: Neugier.
2021 Deutsches Architektur Jahrbuch/
German Architecture Annual 2021
Yorck Förster, Christina Gräwe,
Peter Cachola Schmal (Hg.)
Dom Publishers
€ 38.00