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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Senckenbergs historische Dioramen“ von Udo Becker erschienen

Großartige illusionistische Schaukästen der Natur

Von Hans-Bernd Heier

Dioramen sind echte Kunstwerke mit langer Geschichte und gehören weltweit zu den Hauptattraktionen in Naturkundemuseen. Wie ein Bühnenbild stellen sie die Tier- und Pflanzenwelt eines Ökosystems dreidimensional und naturgetreu nach und schaffen so die Illusion eines realen Lebensraumes. In dem gerade erschienenen Buch „Senckenbergs historische Dioramen“ gibt der Zoologische Präparator Udo Becker einen faszinierenden Einblick in die Entstehung dieser einzigartigen Naturszenen im Frankfurter Naturmuseum, die zum großen Teil bis heute zu sehen sind. Dabei rollt er nicht nur die Geschichte der Dioramen auf, sondern stellt auch die Techniken bei deren Aufbau und Präparation vor.

© 2020 E.Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung und Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

Das Wort „Diorama“ bezeichnet eine Erfindung des Franzosen Louis Daguerre zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ursprünglich war ein Diorama ein großformatiges, lichtdurchlässiges Bild („Durchscheinbild“), bei dem das Motiv auf einem halbtransparenten Bildträger, z. B. geöltes Papier, beidseitig, detailgetreu bemalt war, beispielsweise auf der einen Seite in Tages- und deckungsgleich auf der anderen Seite in Nacht-Darstellung. Durch wechselnde Beleuchtung von Vorder- und Rückseite können damit zum Beispiel Bewegungen und Tageszeiten effektvoll simuliert werden. Diese mit dem Panorama verwandte Technik wird heute noch auf Theaterbühnen angewendet.
Sogenannte Dioramen sind häufig in naturkundlichen und technischen Museen zu finden. Allerdings haben die naturgetreuen Lebensraum-Nachbildungen sowie die maßstabgerecht verkleinerten Darstellungen archäologischer, historischer, religiöser, ethnologischer Szenen oder technischen Anlagen mit dem ursprünglichen „Durchscheinbild“ nur noch wenig gemein. „Geblieben ist das Ziel, mittels eines perspektivisch gemalten Hintergrunds und einer vorgelagerten, abgestimmten Landschaft beim Anschauen eine gewisse Illusion von Originalität zu erzeugen“, schreibt Udo Becker in dem profunden Senckenberg-Buch.

Das Ostafrika-Diorama von 1908 war das erste im neu erbauten Senckenberg Naturmuseum; die Szenerie im Hintergrund malte der Heddernheimer Künstler Carl Nebel

Durch die fachkundige Veränderung des Maßstabs vom Vorder- zum Hintergrund, den scheinbar nahtlosen Übergang von plastischen Landschaftselementen in den gemalten Hintergrund und geschickte Beleuchtung kann laut Wikipedia „eine fast perfekte Illusion von räumlicher Tiefe und Wirklichkeitsnähe erreicht werden – eine Art dreidimensionaler Trompe-l’œil-Malerei, die den Betrachter einem Riesen gleich auf die Welt blicken lässt“. In vielen Naturkundemuseen gibt es lebensgroße Dioramen, bei denen präparierte oder rekonstruierte Tiere in ihrem Biotop nachempfundenen Kulissen präsentiert werden. Das weltgrößte Diorama befindet sich im Disneyland in Anaheim, Kalifornien; es stellt den Grand Canyon dar.

Christian Kopp (rechts) und August Koch beim Präparieren des Elchs für das Diorama „Frankfurter Urlandschaft“; Foto: Otto Emmel

Auch im Naturmuseum Senckenberg erwiesen sich die dreidimensionalen, naturgetreuen Nachbildungen von Fauna und Flora als große Besuchermagneten. Bereits im Oktober 1908 konnten Besucher*innen das erste Diorama im neu erbauten Museum an der Senckenberganlage bestaunen und wie durch ein großes Fenster in eine ferne Welt blicken. Auf weit gespreizten Beinen trinkt ein Giraffenjunges an einer Wasserstelle, beschützt von der Mutter und dem riesigen, fast viereinhalb Meter großen Giraffenbullen, der in einiger Entfernung wartet. Antilopen und Gazellen umringen die Gruppe, Affen klettern umher, ein Waran liegt in der Abendsonne. Am Horizont leuchten die schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo-Massivs.

Die Präparatoren Adam und August Koch vollendeten 1910 das Diorama „Arktische Gruppe“; Foto: Senckenberg

Dem „Ostafrika-Diorama“ folgten 1910 das Diorama „Arktische Gruppe“, das das Tierleben im Grönländischen Eismeer zeigte, sowie 1935 die „Frankfurter Urlandschaft“ und 1936 das „Riesenelch-Diorama“. Diese eindrucksvollen Momentaufnahmen der Tier- und Pflanzenwelt existieren heute leider nicht mehr – sie wurden im zweiten Weltkrieg zerstört. Die von 1936 bis 1942 nach und nach eröffneten zehn kleineren Dioramen „Tiere der Heimat“ wurden nach dem Krieg wieder aufgebaut und sind heute mit fünf neu gestalteten Lebensgruppen in ähnlicher Weise im Senckenberg Naturmuseum zu sehen.

In „Senckenbergs historische Dioramen“ ist der langjährige Zoologische Präparator Udo Becker der spannenden Entstehungsgeschichte der realitätsnahen Lebensraumdarstellungen nachgegangen. Diese stellen ein kostspieliges Gemeinschaftswerk von im Museum beschäftigten Präparatoren, Wissenschaftlern Fachkräften sowie ausgewählten Landschaftsmalern dar. Er erläutert detailliert die Entscheidungsprozesse der beteiligten Direktoren und Mitarbeiter*innen vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse, schildert die Herkunft der Exponate und die Arbeit der Präparatoren und Künstler. Anekdoten machen die beeindruckende Geschichte der Dioramen lebendig. So erfahren die Leser*innen, dass sich die Präparationswerkstatt für die Arbeit am Giraffenbullen des Ostafrika-Dioramas als zu niedrig erwies. Kurzerhand wurde ein Loch in die Decke geschlagen, so dass der Kopf der Giraffe vom oberen Raum präpariert werden konnte.

Für das heutige „Wölfe-Diorama“ wurden zwei Tiere aus dem alten Rudel von Präparator Hans Pape neu gestaltet und um ein weiteres Exemplar ergänzt. Heinz Woelcke malte den Hintergrund; Foto: Senckenberg/Tränkner

Außergewöhnlich ist auch die Geschichte des Dioramas „Frankfurter Urlandschaft“. Dieses zeigte die Umgebung am heutigen Standort des Senckenberg Naturmuseums vor mehreren tausend Jahren – einen sumpfigen See, an dessen Uferzone Elche und Biber lebten. Im Vordergrund waren die Skelette eines Auerochsen und eines Wildhundes zu sehen, die im Morast versunken waren. Die rund 11.000 Jahre alten Skelette wurden 1914 bei Ausschachtungsarbeiten neben dem heutigen Museum gefunden und sorgfältig geborgen.

Das Diorama „Rentiere“ zählte 1936 zu den ersten der Reihe „Tiere der Heimat“ und ist heute noch im Originalzustand zu sehen. Der Maler Wilhelm A. Lefèbre schuf den Hintergrund; Foto: Senckenberg/Tränkner

Ergänzt wird die packende Geschichte der Dioramen durch Info-Boxen zu den beteiligten Persönlichkeiten wie Präparatoren, Künstlern und Museumsdirektoren. Auch informiert Becker die Leser*innen über die Historie der Dioramen, die Entwicklung der Schausammlungsinhalte und die Ausstellungskonzeption in naturkundlichen Museen. Er erläutert die Präparationstechniken und schildert die Geschichte der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und des Frankfurter Senckenberg Naturmuseums. Historische Fotografien, zahlreiche Skizzen, Berichte von Zeitzeug*innen und eine umfangreiche Literatur- und Quellensammlung komplettieren den Band.

Annette Scheersoi, Professorin für Biologiedidaktik an der Universität Bonn, greift im Abschlusskapitel „Dioramen – Zeitzeugen oder zeitlos?!“ die Frage auf, welchen didaktischen Wert Dioramen naturkundlicher Museen in der heutigen Zeit haben. Ihr Fazit: „Dioramen stellen Bildungsangebote für Jung und Alt dar. Anstatt sie durch andere Präsentationsformen zu ersetzen, sollten sie ggf. restauriert und überarbeitet werden. Lernförderliche Dioramen zeichnen sich durch sorgfältig präparierte Tiere und Pflanzen aus, die in einer möglichst realitätsnahen Lebensraumnachbildung in Interaktion gezeigt werden. Sie lassen den Museumsbesuch zum Erlebnis werden und können durch die Einbindung in museumspädagogische Programme als zeitlose Zeitzeugen zukunftsweisend sein“.

Udo Becker absolvierte an der Senckenberg-Schule eine Ausbildung zum technischen Assistenten für naturkundliche Museen und Forschungsinstitute und erlernte anschließend den Beruf des Zoologischen Präparators, den er seit 1985 bei der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung ausübt.

Von Meeresforscher Pedro Martinez aus der Tiefsee gefischt: ein „Fangzahn“ (Anoplogaster cornuta)

Das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main ist eines der größten und bedeutendsten Naturkundemuseen in Europa. Auf einer Ausstellungsfläche von rund 6.000 m² werden mehrere tausend Exponate zu verschiedenen naturkundlichen Themen präsentiert. Bei Besuchern besonders beliebt, vor allem bei Kindern, sind die Dinosaurier-Skelette des Naturkundemuseums. Die neuen Dauerausstellungen „Tiefsee“ und „Meeresforschung“ bieten grandiose Einblicke in die Unterwasserwelt.

Senckenbergs historische Dioramen“ von Udo Becker, 132 Seiten, 106 Abbildungen, broschiert, ISBN 978-3-510-61417-2, Senckenberg-Buch 85, 14,90

EuroWeitere Informationen unter: www.senckenberg.de

Abbildungen: Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum

 

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