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FeuilletonFrankfurt

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PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Deutscher Buchpreis: Die Finalisten (6) Dorothee Elmingers Collagen-Roman „Aus der Zuckerfabrik“

Zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse am 12. Oktober zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den deutschsprachigen „Roman des Jahres“ aus. Simone Hamm stellt in dieser Folge das Buch, der sechsten Finalistin Dorothee Elminger vor. Recherchebericht wollte die Autorin ihr Buch “Aus der Zuckerfabrik“ nennen.

Dorothee Elminger bei ihrer Lesung im Literaturhaus, Foto: Petra Kammann
Es ist ein mutiges Buch: ein Buch ohne Plot, ohne Handlung. Man könnte es eine Art Materialsammlung zum Thema Zucker nennen. Oder eine Textmontage. Oder ein Notizbuch. Doch all das wird „Aus der Zuckerfabrik“ nicht gerecht. Denn was Elminger aussucht, ist nicht postmodern beliebig. Alles hat seinen Platz. Und alles hängt mit der Gier nach Zucker zusammen.

In einem Film von Chantal Ackermann leckt die Schauspielerin Zucker aus der Tüte. Hastig stürzt sich der Ökonom Adam Smith auf den zum Tee gereichten Zucker.

Zucker ist natürlich viel mehr als Zucker. Er steht für Gier, Hunger, Lust, ökonomische Zwänge, Begehren, Sklaverei und Kolonialismus, Rassismus, Klassenkampf – und nicht für weniger.

Max Frisch fährt mit seiner jungen Geliebten nach Montauk, und der Ort, an dem die Verliebte ihr winziges New Yorker Appartement vergisst, wird zum Schauplatz  einer der schönsten Werke Max Frischs. Hier an der Küste Montauk war 1839 das Schiff Amistad gelandet. Hauptfracht waren Produkte, mit denen Zucker hergestellt wurde.

Nebenfracht waren Sklaven aus Sierra Leone. Sie sollten nach Kuba gebracht werden. Noch in kubanischen Gewässern enterten die Afrikaner das Schiff, wollten zurückfahren, kamen bis Long Island. Der Supreme Court hatte darüber zu entscheiden, ob der Sklavenaufstand rechtens war. Er gab den Sklaven die Freiheit zurück.

Walter Bruni hat Millionen im Lotto gewonnen, reiste nach Haiti und gab schnell sein Vermögen aus. Ihm gehörten zwei schwarze Frauenfiguren aus Holz oder dunklem Stein, die er versteigern lassen muss. 35 Franken bekommt er dafür. Er hat sie wahrscheinlich aus Haiti mitgenommen. Seitenweise wird aus seinen Erinnerungen zitiert.

Und schon ist Elminger bei Heinrich von Kleist und seiner Novelle: „Die Verlobung in St.Domingo“, über den dortigen Sklavenaufstand. Der war übrigens erfolgreich.

Elminger verbindet Fundstücke aus verschiedenen Texten und Filmen miteinander, Anspielungen, Zitate. Ihre Denk – und Schreibbewegungen sind immer verblüffend spannend.

Auch Biografisches lässt sie einfließen. Ihre große Liebe zu C., mit dem sie im Kopf Gespräche führt. Für den sie ihren Tagesablauf niederschreibt.

Etwa, wie sie Tränen vergießt, als sie am Pult der Baseler Oper eine Frau sieht, die das Orchester dirigiert. Sie träumt. Neben ihr liegt Max Frisch. Und schläft. Sie hört das Rollen der Wellen.

Sie beschäftigt sich mit Karl Marx‘ Kapital. Er zitiert darin spöttisch Edward Gibbon Wakefields Kolonisationstheorie, der ein profitables System von Menschen-, Kapital- und Warenexport propagierte, auf Kosten der Arbeitskraft der exportierten Siedler.

Das gefällt den Literaturkritikern natürlich, Anspielungen, die sie verstehen, historische Figuren, die sie kennen oder wenigstens googeln können. So kann man seine Bildung unter Beweis stellen.

Doch glücklicherweise kann man „Aus der Zuckerfabrik“ auch ganz anders lesen.

Ich habe das Buch nach der ersten Lektüre an irgendeiner beliebigen Stelle wieder aufgeklappt und genau da weitergelesen. Ich habe Seiten übersprungen, nach vorn geblättert und festgestellt, dass es auch so zu lesen ist – und neu und anders wird.

Ein ganz und gar ungewöhnliches Buch, das seine Leser herausfordert. Wer sich darauf einlässt, wer sich von Dorothee Elminger treiben lässt durch Welten und Zeiten, der wird reich belohnt.

Dorothee Elminger, Aus der Zuckerfabrik, Hanser Verlag

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Erleben Sie die Preisverleihung am 12. Oktober 2020 ab 18 Uhr live von zuhause aus  unter:

www.deutscher-buchpreis.de

 

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