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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Gelungene Verbindung von Einst und Jetzt: Das neue Jüdische Museum, so persönlich wie multiperspektivisch

Ein erster Rundgang vor der Eröffnung des neuen Jüdischen Museums mit einem Besuch bei Mirjam Wenzel

Von Petra Kammann

An der Baustelle hinter dem Frankfurter Theater wird noch gewerkelt, aber die letzten Bauzäune fallen, denn am 21. Oktober 2020 eröffnet das neue Jüdische Museum, dessen markanter heller Bau, eine gelungene Kombination aus dem traditionellen Rothschild-Palais und dem zeitgenössischen Lichtbau von Staab Architekten, schon jetzt die Blicke magisch anzieht. Im Innern der Gebäude treffen wir dann auf die vielfältigen Exponate aus mehr als 800 Jahren jüdischer Geschichte in Frankfurt, aus dem Bereich der Zeremonialkultur, der Bildenden Kunst sowie der jeweiligen Familiengeschichten, nicht nur die der Bankiersfamilie Rothschild, der bürgerlichen Kaufmannsfamilie um Anne Frank oder der aus Osteuropa stammenden Familie des Autors Valentin Senger („Kaiserhofstraße 12“). Die umfangreiche Dokumenten- und Fotosammlung zur deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur in der Dauerausstellung wurde medial völlig neu aufbereitet.

Das Jüdische Museum – ein stimmig-elegantes Ensemble zweier Gebäudetrakte, des renovierten Rothschild-Palais und des neuen Lichtbaus von Staab Architekten, verbunden durch Ariel Schlesingers Skulptur „Untitled“ (2019); alle Fotos: Petra Kammann

Schon von weitem strahlt das Ensemble des sorgfältig renovierten einstigen Rothschild-Palais und des schräg angeschnittenen neuen Museumstrakts von Staab Architekten helle Freundlichkeit aus, sowohl vom Süden, vom Mainufer her, als auch vom Norden, von den Wallanlagen. Mit dem „Bertha-Pappenheim-Platz“ wurde zwischen der alten Rothschild-Villa am Mainkai und dem Erweiterungsbau hinter dem Theater ein weiterer Vorplatz aufgespannt, an dem auch der neue repräsentative Haupteingang des Jüdischen Museums liegt, der die Besucher offen empfängt.

Das frisch renovierte Rothschild-Palais am Untermainkai 

Schon der gemeinsame gebrochen weiße Außenputz der beiden so unterschiedlichen Gebäude schafft eine stimmige Verbindung. Dabei wird der Blick gleich auch auf eine Nahtstelle zwischen ihnen gelenkt, die durch einen ungewöhnlich natürlich aussehenden Baum, dessen Zweige mit einem zweiten Baum verknäuelt sind, markiert ist. Ragen die Wurzeln des einen Baumes in die Luft, so sind sie beim anderen gleichsam im Boden verankert. Die Aluminium- Skulptur des israelischen Bildhauers Ariel Schlesinger aus dem Jahre 2019 trägt zwar den Titel „Untitled„, doch legt das verschränkte Baumdouble nahe, dass es symbolisch für Verbundenheit und Entwurzelung der Geschichte der Juden stehen könnte…

Immer mit dem offenen Blick nach vorn: Prof. Dr. Mirjam Wenzel. Sie leitet das älteste Jüdische Museum der Bundesrepublik seit 2016

Mirjam Wenzel, die Direktorin des Hauses, sieht noch weitere Parallelen. Sie überträgt die Verbindung von Tradition und Moderne zwischen den beiden Häusern auch auf die Art der künftigen Ausstellungen im Hause – die Dauerausstellung inklusive: „Wir versuchen immer wieder neue Zugänge und Bezüge zu knüpfen zwischen Tradiertem und Zeitgenössischem, um diversen Zielgruppen gerecht zu werden. So haben wir zum Beispiel auch eine Kinderspur durch die Ausstellung gezogen. Dabei sprechen wir auch plakativ das Publikum mit Fragen an wie: Was bedeutet dieses oder jenes Gebot für Dich? Was ist Dir heilig? Wir wollen natürlich historisches Wissen vermitteln, aber unsere Fragen reichen bis in die Zukunft. Wir erzählen Geschichte in persönlichen Geschichten und muten dabei unseren Besuchern zu, sich persönlich mit Fragen auseinanderzusetzen und mit eigenen Fragen aus der Ausstellung herauszugehen.“

Das offene lichte Foyer hinter dem repräsentativen Haupteingang

Aber nochmal zurück zum Haupteingang des Jüdischen Museums, bevor es in die Dauerausstellung (die gerade noch aufgebaut wird) ins Rothschild-Palais geht, um schnell einen Blick ins Innere des neuen Gebäudes zu werfen. Durch diesen Haupteingang werden nämlich künftig auch die Besucher, nachdem sie die Sicherheitskontrolle passiert haben, in das großzügige Foyer – eine Art Verteil-Zentrum für die verschiedenen Anlaufstationen – gelangen. Markant sind hier die offenen Durchblicke und Fenstereinschnitte, die den Blick sowohl nach außen, zur Stadt hin, wie auch zur bestehenden Villa freigeben.

Zur Linken des Kassenbereichs liegt der Veranstaltungsraum

Während der aus Beton gegossene Gebäudekörper außen den hellen, mit dem angrenzenden Altbau korrespondierenden Putz bekommen hat, sind die hochwertigen Betonwände im Innern „nackt“ geblieben. Das bringt die Einschnitte für die lichten Fensteröffnungen besonders gut zur Geltung. Sie wirken in der Weite des Foyers anregend und transparent. Dazu flutet auch noch das natürliche Licht von oben in das Innere des Gebäudes – ganz so, wie es in den alten Museen üblich war, wo das Licht ideal die Gemälde von oben beleuchtete.

In dem aus Beton gegossenen fünfeckigen Erweiterungsbau soll auch künftig im Gegensatz zum historischen Rothschild-Palais die Gegenwart im Mittelpunkt stehen, davon ist die äußerst präsente Direktorin Mirjam Wenzel überzeugt. So habe das Museum sein Angebot an die Öffentlichkeit um einen Veranstaltungsraum, um einen Wechselausstellungsbereich, eine Bibliothek, ein Café oder koscheres Deli ergänzt, das nicht nur die beiden Häuser verbinde, sondern auch die Besucher zum Verweilen einlade. Insgesamt hat der Neubau die Nutzungsfläche des Rothschild-Palais um etwa 3500 Quadratmeter Grundfläche erweitert.

Außerdem wurde in den Altbauten des äußerst sorgfältig renovierten Rothschild-Palais die frühere Größe der Dauerausstellungsfläche nach der Sanierung sogar mehr als verdoppelt, ganz abgesehen davon, dass alle Bereiche heute außerdem schwellenlos zugänglich sind, was die Besucherzahl zweifellos in Zukunft in die Höhe treiben dürfte. Während man sich in der ehemaligen hochherrschaftlichen Rothschild-Villa von Treppe zu Treppe ,hocharbeitet‘, wird man im neuen Gebäude gleich ganz auf dem Groundfloor offen empfangen.

Blick von der Bibliothek auf die Stadt Frankfurt

Durch die präzise gesetzten Öffnungen im Eingangsbereich des neuen Gebäudes gewinnt man den Eindruck, gleich in mehrere Ebenen hineinschauen zu können – sowohl in den übersichtlichen Museumsshop in der unteren Zwischenebene, als auch eine Etage höher in das frei zugängige Museumscafé, das koschere Deli mit angrenzender Terrasse, schließlich zur anderen Seite neben der Kasse hin in den geräumigen Veranstaltungssaal, in dem die Debatten stattfinden sollen.

Hinzukommt, dass die zueinander versetzten Geschosse, welche die Organisation der unterschiedlichen lichten Höhen des Foyers ermöglichen, ebenfalls ein Gefühl von Großzügigkeit und Weite vermitteln. Sie bilden dadurch auch die Angleichung der Ebenen an das Untergeschoss der bestehenden Villa am Untermainkai 14/15.

Einzig in die Ausstellungshalle, wo gerade die Ausstellung „Die weibliche Seite Gottes“ aufgebaut wird, die ab dem 23. Oktober zu sehen sein wird, geht es eine Treppe tiefer. Da ist der Einblick derzeit noch versperrt. Später gibt es an dieser Stelle die gezielte Ticketkontrolle, speziell für Ausstellungsbesucher*innen.

Auch Treppen schaffen Verbindungen: eine der elegant geschwungenen Treppen zwischen Alt-und Neubau

Das Jüdische Museum im Rothschild-Palais am Untermainkai 14/15 widmet sich auf drei Etagen mit seiner neuen Dauerausstellung der jüdischen Geschichte und Kultur seit der sogenannten Jüdischen Emanzipation. Es möchte auf attraktive Weise die Geschichte des jüdischen Lebens in Frankfurt von der Aufklärung und Emanzipation, über Vertreibung, Shoah und Nachkriegszeit bis zur Gegenwart vermitteln und Einblicke in das Leben von Jüdinnen und Juden geben, welche die kulturelle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt Frankfurt entscheidend geprägt haben.

Zur Historie: Welches Selbstverständnis entwickelten jüdische Bürger*innen im 19. Jahrhundert? Welche Veränderungen zog der Wandel der jüdischen Tradition in eine Religion nach sich? Welche Folgen hatte die nationalsozialistische Herrschaft für Jüdinnen und Juden in Frankfurt? Um diese und etliche weitere Fragen kreist diese Dauerausstellung, welche Kunst und Kunsthandwerk, persönliche Aufzeichnungen, Fotografien und Filme, historische Dokumente und Alltagsgegenstände zum Gegenstand hat und die zu weiteren Fragen einladen. Was die Bedeutung der Juden in Frankfurt speziell angeht, erläutert die offene und dynamische Direktorin folgendermaßen:

Mirjam Wenzel erläutert die besondere Rolle Frankfurts

„Es gibt kaum eine andere deutsche Stadt, die eine so lange jüdische Geschichte hat, auch wenn diese unterbrochen ist. So gab es hier im Mittelalter zwar schon zwei Pogrome. Aber danach, in der Zeit der „Judengasse“, konnten die dort lebenden Juden weitgehend ihren Traditionen nachgehen und diese auch weiterentwickeln.“ Nachdem 1460 die Judengasse gegründet worden war, lebten dort zeitweise über 3.000 Menschen. „Frankfurt entwickelte sich damals wegen des Buchdrucks wirklich zu einem jüdischen Zentrum von europäischer Bedeutung, vor allem, was die Gelehrsamkeit angeht. Da Frankfurt ein Zentrum des Buchdrucks, auch des hebräischen Buchdrucks war, kamen Studenten aus ganz Europa hierher, um zu studieren. In dem abgegrenzten Bezirk der Judengasse herrschte darüber hinaus eine kulturelle und zivilrechtliche Autonomie.“

Das muss lange Zeit wohl so einigermaßen gut gegangen sein. Mit der europäischen Aufklärung aber war der christliche Antijudaismus keinesfalls beendet, die „Vorstellung des sich bereichernden Juden etwa setzte sich fort„, so Wenzel…, „was teils bis in die Romantik hineinreichte. Aus jüdischer Sicht hingegen bedeutet ,Haskala‘  (hebräisch: Bildung /Aufklärung), dass man zum Beispiel die hebräischen Texte der Bibel ins Deutsche übersetzt, weswegen Moses Mendelssohn, der eher in Berlin einflussreich war, als der erste Bibelübersetzer aus dem Hebräischen, auch als der erste jüdische Aufklärer galt, zumal er in seinen philosophischen Beiträgen den Spagat zwischen Tradition und Erneuerung, zwischen Altem und Neuem anstrebte.“

Die Haskala war eine besondere Spielart der jüdischen Aufklärung. Sie versuchte, am ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert einen Brückenschlag zwischen dem jüdischen Glauben einerseits und dem aufklärerischen Rationalitätsanspruch andererseits herzustellen. Tatsächlich entwickelte etwa der erste akademisch ausgebildete jüdische Maler Moritz Daniel Oppenheim, ein Protagonist der jüdischen Emanzipation, in der Bildenden Kunst eine eigenständige Bildsprache, die das christliche Blidprogramm leicht veränderte und dadurch eine jüdische Teilhabe an der kunstgeschichtlichen Tradition ermöglichte., sagt Wenzel.

Nach dem ,Ghettozwang‘ begann dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Eingliederung mit der Anerkennung der Jüdinnen und Juden als gleichberechtigte Staatsbürger. Da fingen sie an, sich – wenn zunächst auch noch eher in der Umgebung der Judengasse,  zunehmend aber in der Stadt, anzusiedeln. So wurden sie ziemlich schnell Teil der sich entwickelnden bürgerlichen Frankfurter Gesellschaft. Sie pflegten das Mäzenatentum, bauten mit an einer modernen urbanen Stadt und an den Sozialen Bewegungen. Sie engagierten sich wirtschaftlich, kulturell, finanziell und vor allem auch in Wissenschaft und Forschung. Insofern beginnt mit der Emanzipation der Juden historisch dann auch die erste frankfurtspezifische Dauerausstellung im Rothschild-Palais.

In der Dauerausstellung: Symbolische Darstellung der Verdienste der Familie Rothschild zu Beginn der Industrialisierung 

Denn: „Auch die Liberalisierung ist eine typische Frankfurter Geschichte, so waren zum Beispiel Jüdinnen und Juden am Paulskirchen-Parlament beteiligt. Frankfurt ist auch die Stadt des Journalisten und Literatur- und Theaterkritikers Ludwig Börne (1786  – 1837), der sich publizistisch enorm engagiert hat. In Frankfurt wurde die jüdische Gemeinde sogar so liberal, dass es zur Gemeindespaltung kam und die Konflikte zwischen Strömungen lautstark ausgetragen wurden. Die israelitische Gemeinde, die ihre Gottendienste in der Hauptsynagoge abhielt, war sehr liberal. Deshalb spaltete sich eine Gemeinschaft ab, die der Orthodoxie anhing und diese neu beleben wollte –  die sogenannte Austrittsgemeinde. So entstand die Synagoge an der Friedberger Anlage, an deren Stelle heute der Bunker steht.“

Blick in das renovierte Musikzimmer des Rothschild-Palais

Geschichten über Geschichten werden in der Dauerausstellung in Szene gesetzt, auch die jüdischer Künstler, z.B. Moritz Daniel Oppenheim (1800 − 1882), dessen Werk sowohl religiöse, literarische und historische Sujets wie auch Allegorien und Porträts umfasst. Mit den „Bildern aus dem altjüdischen Familienleben“ wurde er weltberühmt. Als Porträtist eines selbstbewussten jüdischen Bürgertums, das nach den napoleonischen Kriegen entstand, aber immer noch rechtlichen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt war, profilierte er sich schließlich.

Seine Porträts prägten auch das öffentliche Bild des jüdischen Bürgertums, angefangen von der Bankiersfamilie Rothschild, über Intellektuelle wie Heinrich Heine und Ludwig Börne oder den Philologen Jakob Weil. Sie veranschaulichen bürgerliche Tugenden, Zurückhaltung und Respekt, betonen häufig auch Werte wie Bildung und Kultur.

 Im Zentrum der beiden Säle: Moritz Daniel Oppenheim, Moses mit den Gesetzestafeln, München, 1817/18, Öl auf Leinwand, 197 × 130 cm, Dauerleihgabe der Adolf und Luisa Haeuser Stiftung für Kunst und Kulturpflege, Frankfurt am Main © Jüdisches Museum Frankfurt“, Foto: Petra Kammann

350 Gemälde Oppenheims sind insgesamt dokumentiert. Etwa ein Drittel seines Werks gilt als verschollen. Viele der Gemälde gelangten nach 1933 mit den jüdischen Emigranten ins Ausland. Die bedeutendsten Sammlungsbestände befinden sich heute daher im Jewish Museum New York und dem Israel Museum in Jerusalem.

Im Rhein-Main-Gebiet haben das Museum Schloss Philippsruhe in Oppenheims Geburtsstadt Hanau sowie das Jüdische Museum Frankfurt in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Sammlungen seiner Werke aufgebaut. In der neuen Dauerausstellung sind Oppenheims Bilder aus unterschiedlichen Schaffensphasen in zwei Räumen zu sehen.

Zu den bedeutenden jüdischen Künstlern zählt auch Jakob Nussbaum (1873 − 1936), einer der wenigen weithin bekannten deutschen Impressionisten, worauf die Chefkuratorin der Dauerausstellung Sabine Kößling besonders stolz ist. Seine Werke, vor allem Porträts, Stillleben und Landschaften, wurden bereits im Jahr 1900 in der renommierten Berliner Galerie Bruno und Paul Cassirer in einer Gruppenausstellung mit den französischen Impressionisten Claude Monet, Camille Pissaro und Alfred Sisley ausgestellt.

Chefkuratorin Sabine Kößling zwischen zwei impressionistischen Stadtansichten von Jakob Nussbaum,

Kößling erläutert auch die neu angelegten Vitrinen zu einzelnen Frankfurter Persönlichkeiten, die nicht nur ,Flachware‘ zeigen. An solchen Stationen sind etliche Biographien zu entdecken. Da lässt sich neben den unterschiedlichsten Gegenständen an der Vitrine ein schmales I-Pad als Familienalbum aufklappen, auf dem wir anschaulich aufbereitet die Geschichte der einzelnen Persönlichkeiten verfolgen können. Da erfahren wir u.a., dass Nussbaum in Frankfurt zu den beliebtesten Malern gehörte, 1932 eine Berufung als Lehrer an die Frankfurter Städelschule erhielt,  jedoch 1933 als Jude entlassen wurde. So wanderte er dann in das Britische Mandatsgebiet Palästina aus, ließ sich am See Genezareth nieder, wo er wenige Jahre später dann starb.

Die Biographie von Jakob Nussbaum wird an der Hör-und Sehstation anschaulich

Die Ausstellung thematisiert auch das Wiederentstehen jüdischen Lebens nach der Shoah in persönlichen Geschichten. Immer werden dort aktuelle Fragen aufgegriffen und in interaktiver Frageform an die Besucher*innen herangetragen, wie etwa: Wie wollen wir zusammenleben? Wie gehen wir mit Traditionen um? Welche Rolle spielt für uns das familiäre Gedächtnis?

1994 wurde am Jüdischen Museum auch das Ludwig Meidner-Archiv gegründet. Ausgangspunkt und Anlass war der Erwerb des künstlerischen Nachlasses des deutsch-jüdischen expressionistischen Künstlers Ludwig Meidner (1884–1966), dem hier auch ein Extra-Raum gewidmet ist. Es war der Auftakt zu einem weiter zu erforschenden Themenkomplex „Kunst im Exil“.

Exilkunst: Blick in das Ludwig Meidner-Archiv

Der letzte Raum der Ausstellung zeigt Objekte und Dokumente aus dem Besitz der Familie von Anne Frank. Er war bei meinem Rundgang ebenso wenig fertig wie der mit der Geschichte der ostjüdischen Familie Senger.

Im Frank Zentrum wiederum werden die vereinten Nachlässe, Fotos, Briefe, Postkarten und Einladungsschreiben sowie Gemälde, Möbel, Porzellan und Bücher – der Frankfurter jüdischen Familie Frank sowie der mit ihr verwandten Familien Elias, Cahn und Stern präsentiert.

Sie erzählt vom Leben im Ghetto, von der jüdischen Aufklärung und Emanzipation wie auch von der Erfahrung von Krieg, Flucht, Exil und vom Trauma der Shoah. Aber auch von Süßkind Stern, der in der jüdischen Gemeinde des 17. Jahrhunderts ein hohes Ansehen genoss. Auch er gehörte zu den Vorfahren der Franks. Sein Porträt ist das älteste Bildnis eines Frankfurter Juden.

„Im Falle der Familie Frank haben wir die Leihgaben aus dem Besitz der Familie. Es ist eine einmalige Chance, Objekte aus dem Familienbesitz zu zeigen. Im letzten Raum unserer Dauerausstellung ist daher etwa die Schreibmaschine von Annes Vater, Otto Frank, zu sehen, auf der seine zweite Frau, Fritzi Frank, zehntausende Briefe tippte, mit denen Otto den Lesern des Tagebuchs seiner Tochter antwortete. Da Anne Franks Tagebuch weltweit gelesen wird, rechnen wir damit, dass sich auch asiatische Besuchergruppen für diesen Teil der Ausstellung interessieren„, begründet Mirjam Wenzel die Entscheidung, dieser Familie besonders viel Raum zu gewähren.

Natürlich stand bei allen konzeptionellen Überlegungen die Frage im Raum, wie man sich in einer Dauerausstellung den Frankfurter jüdischen Persönlichkeiten nähern können sollte, aber auch, wie man eine gerechte Auswahl treffen könnte. Kurzum: Man brauchte echte Auswahlkriterien. Natürlich war es Mirjam Wenzel ein Bedürfnis, die Persönlichkeiten, die durch den Bruch des Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten sind, wieder in Erinnerung zu rufen und ihnen zu huldigen. Bei der Fülle eine echte Qual der Wahl. In der Dauerausstellung werden die Geschichten der einzelnen Personen ausführlicher behandelt, bei denen die Quellenlage gut war. Zwangsläufig ist aber auch der Platz begrenzt.

Personalisierte Gardarobenschränke machen mit jüdischen Persönlichkeiten vertraut

Dieser Frage näherte Mirjam Wiesel sich schließlich pragmatisch und generell. Und fand eine so pfiffige wie effektive Lösung schon gleich im Eingangsbereich des neuen Gebäudes: „Weil eine Ausstellung immer auch davon lebt, dass wir entsprechendes Material vorzeigen können, waren wir gezwungen, eine Auswahl zu treffen. So haben wir uns dazu entschieden, die Garderobenschränke gleich hinter dem Eingang nach jüdischen Persönlichkeiten zu benennen. Der Schlüssel, den man in die Hand nehmen wird, trägt daher den Namen einer Person. Auf der Rückseite des geöffneten Schließfaches steht dann eine knappe Biographie über die entsprechenden Person“. Eine kluge erste Annäherung, bei der man durchaus Entdeckungen machen kann

Da sich die Dauerausstellung über drei Etagen des Rothschild-Palais erstreckt und verschiedene Aspekte der jüdischen Geschichte und Kultur Frankfurts aus einer jeweils anderen Perspektive beleuchtet, sei es im historischen Kontext oder aus individuell-persönlicher Perspektive, so lässt sich das alles nicht in einem einzigen Besuch erfassen, denn es tut sich ein ganzer Kosmos auf. Nach der Eröffnung sollte man daher seine ersten Eindrücke unbedingt durch weitere Besuche vertiefen…

Nur ein kleiner Tipp für den Anfang: Da der Besuch des Jüdischen Museums in Frankfurt einer Bildungsreise gleichkommt, wurde entschieden, dass man auch etwas mit nach Hause nehmen kann. So erhalten alle Besucher*innen bei Museumseintritt ein besonderes Gadget: „MUSEUM TO GO“. Damit kann man Filme, Fotos oder weitere Informationen aus der Ausstellung mitnehmen und auf einer personalisierten Website nochmals abrufen. Auch auf diese Weise lässt sich das Ausstellungserlebnis nach dem Besuch noch einmal rekapitulieren und vertiefen.

→ Kulturdezernentin Hartwig unterzeichnet Restitutionsvertrag mit der Jüdischen Gemeinde Frankfurt

→ Masel Tov מזל טוב – Der Anbau des Jüdischen Museums in Frankfurt hat ein Dach über dem Kopf

→ Open House im Jüdischen Museum Frankfurt – Impressionen von der Baustelle

Weiterführende Infos

Prof. Dr. Mirjam Wenzel

Ein lebendiges, offenes und international vernetztes Museum, in dem die Vielfalt jüdischer Kultur und deren Geschichte erfahrbar wird – für diese Vision möchte Prof. Dr. Mirjam Wenzel ihr Team und die Öffentlichkeit begeistern. Seit 2016 leitet sie das älteste Jüdische Museum in der Bundesrepublik Deutschland und gestaltet dessen Zukunft.
Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Politik- und Theaterwissenschaft in Berlin und Tel Aviv und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität München. Von 2007 bis 2015 verantwortete sie die Vermittlung von jüdischer Geschichte und Kultur in digitalen und gedruckten Medien am Jüdischen Museum Berlin. Außerdem nimmt sie eine Gastprofessur 
an der Bauhaus Akademie in Dessau wahr.

Sabine Kößling

Sabine Kößling ist die Chefkuratorin der beiden permanenten Ausstellungen im Rothschild-Palais sowie im Museum Judengasse und leitet den Ausstellungsbereich des Museums. Sie studierte Judaistik und Neue deutsche Literaturwissenschaft und hat an mehreren jüdischen Museen Ausstellungen kuratiert. Interaktive Inszenierungen und Projekte für Kinder liegen ihr dabei besonders am Herzen.

AUSSTELLUNGSVORSCHAU

„Die Weibliche Seite Gottes“

 23.10.2020 – 14.02.2021

Die Ausstellung verbindet die kulturhistorischen Spuren von weiblichen Elementen in den Gottesvorstellungen der drei monotheistischen Religionen mit Darstellungen in der Bildenden Kunst. Sie spannt einen Bogen von antiken archäologischen Figurinen über mittelalterliche hebräische Bibelillustrationen, Madonnenbilder der Renaissance bis hin zu Interpretationen renommierter zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler.

Adresse

Jüdisches Museum Frankfurt
Bertha-Pappenheim-Platz 1
D-60311 Frankfurt am Main

Telefon: +49 (0) 69-212-35000
Telefax: +49 (0) 69-212-30705
E-Mail: info@juedischesmuseum.de

Ausstellungskatalog

Jüdisches Frankfurt. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart.
hrsg. von Mirjam Wenzel, Sabine Kößling, Fritz Backhaus
Katalog zur Dauerausstellung des Jüdischen Museums, 2020
Verlag C.H.BECK, ISBN: 978 3 406 74134 0

 

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