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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Deutscher Buchpreis. Die Finalisten(4): Deniz Ohde, „Streulicht“

Ein Kellerkind der Düsternis

von Simone Hamm

Vier der sechs Autor*innen, die für den Deutschen Buchpreis nominiert wurden, waren der Einladung zur Lesung ins Frankfurter Literaturhaus gefolgt: Anne Weber („Annette, ein Heldinnenepos“), Deniz Ohde („Streulicht“), Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabrik“) und Bov Berg („Serpentinen“). Simone Hamm hat „Deniz Ohde, „Streulicht“ (Suhrkamp) für FeuilletonFrankfurt gelesen.

Deniz Ohde las im Literaturhaus, Foto: Petra Kammann

Die namenlose junge Frau ist nicht aus Schaum, sondern aus Ruß geboren, aus dem Kochsalz in der Luft, aus dem Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus dem dunklen Fluss, der Stickstoff und Nitrat mit sich führt.

Die Luft wird eine andere, je näher sie sich wieder der Industrieanlage nähert, je näher sie wieder dem kleinen Ort kommt, an dem sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Wer hierher kommt, überschreitet die Schwelle in eine andere, düstere Welt.

Ihre Sandkastenfreunde Pikka und Sophie aus der nahegelegnen Eigenheimsiedlung heiraten. Sie wollten nie fort aus diesem Ort. Sie hatten den Reitstall und das Ballett und den Partykeller. Sie haben in der naheliegenden Stadt studiert und leben in Pikkas Elternhaus.

Die Ich-Erzählerin hingegen hat sich am Ort immer fehl am Platz gefühlt, nie richtig zugehörig. Dieses Motiv der Andersartigkeit, des Sich-fehl-am-Platze-Fühlen durchzieht den ganzen Roman. Ihr bleibt nur, vom Rande aus genau zu beobachten.

Und was sie sieht, sind Menschen, die im Schatten leben.

Ihr Vater ist Industriearbeiter, hat 40 Jahre lang Aluminiumbleche in Lauge getunkt. Ihre Mutter kommt aus der Türkei, wollte weg von ihrer gewalttätigen Mutter.

Der Vater hortet Nippes, alte Fernsehzeitschriften, kauft viel zu viel Brot ein. Der unter ihnen wohnende Großvater verkommt im Dreck. Die Mutter bahnt sich mit dem Staubsauger einen kleinen Pfad durch den Unrat. Die Ich-Erzählerin guckt Privatfernsehen.

Die Lehrer, die Mutter ihrer Freundin Sophie, alle sind herablassend zu ihr, werten sie ab. Weil sie zudem noch still und schüchtern ist, bleibt unbemerkt, was sie kann. Ihre Lehrer trauen ihr nicht zu, dass sie es aufs Gymnasium schafft.

Klaglos macht sie die Mathehausaufgaben für Pikka, der auf die höhere Schule geht, und versucht, ihm Englisch beizubringen. Nicht eine Minute lang kommt sie auf die Idee, dass sie doch eigentlich auch aufs Gymnasium gehört.

Ein Mitschüler schlägt sie nieder, ruft „Kellerkind“ und noch ein anders Wort mit K. Noch versteht sie es nicht. Denn das ist ihr doppeltes Außenseitertum: sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, ihre Mutter ist Türkin. Selten begegnet sie solch brutalem Rassismus, solch hybridem Klassenbewusstsein. Meist sind es nur Kleinigkeiten, die sie verunsichern. Welcher Hoody ist angesagt, welcher Lippenstift, welches Geschirr?  Da darf man nichts falsch machen. Irgendwann abonniert sie die „ZEIT“. Sie trägt jetzt die ZEIT –  Umhängetasche, die das Werbegeschenk war.

„Wenn ihr die ganze Zeit, eure blöden Sendungen guckt“, sagt Herr Kaiser und blickt die Ich-Erzählerin an, „werdet ihr nie Vokabeln lernen, weil Euer Hirn verstopft ist.“ Das verunsichert die junge Frau, sie sitzt in ständiger Anspannung im Klassenraum.

Sie schildert den langen Weg durch die verschiedenen Schulen, in denen man ihr nur Steine in den Weg legt. Niemals wehrt sie sich. Sie kennt ja nichts anderes. Deniz Ohde hat auch einen Roman über Lehrer geschrieben, wie sie nicht sein sollten, über ein Bildungssystem, das etliche junge Menschen ausgrenzt.

Angespannt ist sie auch zu Hause, wo der Vater hinter der geschlossenen Wohnzimmertür tobt. Die Familie empfängt keine Gäste, niemanden. Sie ist niemals wütend, irgendwie versteht sie sogar die Wut des Vaters, der Sachen auf den Boden wirft, damit sie zerbrechen.

Einmal gibt Deniz Ohde doch einen Hinweis darauf, wie ihre Hauptperson heißt. Die Mutter, so heißt es, spräche das i im Vornamen lang aus, dann klinge es weniger fremd. So wird aus Deniz Denise.

Deniz Ohde hat für ihre biografische Geschichte eine ganz eigene Sprache gefunden. Eine kühle und zugleich düstere Sprache. Da ist kein Licht, allenfalls Streulicht, das Licht, das auf Aerosole, Staubpartikel, ruhige Flächen fällt und sich bricht.

Sie hat einen vollkommen unsentimentalen Bildungsroman geschrieben. Einen Herkunftsroman, so ganz anders als andere Herkunftsromane. Ihre Beschreibungen sind hyperrealistisch. Distanziert erzählt sie von der Unfähigkeit der Eltern, ihre Gefühle auszudrücken. Und gerade dieser kühlen distanzierten Beobachtungen wegen ist der Roman so außergewöhnlich, so mitreißend, so berührend.

Deniz Ohde: Streulicht. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 284 S., geb., 22,– €

 

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