„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ im Historischen Museum
Rassismus und Kolonialismus aus der Sicht Betroffener
Von Hans-Bernd Heier
Für viele Menschen gehört Rassismus zur alltäglichen Lebensrealität. Andere erfahren ihn erst gar nicht und haben Schwierigkeiten, Rassismus als solchen zu erkennen. Unter dem Namen eines Ratespiels aus Kinderzeiten „Ich sehe was, was Du nicht siehst – Rassismus, Widerstand und Empowerment“ spürt die Stadtlabor-Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt die vielen Facetten des Rassismus im Alltag auf. Parallel dazu zeigt die Bildungsstätte Anne Frank die Sonderausstellung „Hingucker? Kolonialismus und Rassismus ausstellen“.
Black Lives Matter-Demonstration im Juni 2020 in Frankfurt; Foto:© Ardavan Safari
Mit der Rassismus-Ausstellung greift das Historische Museum eine ebenso aktuelle wie hoch komplexe Thematik auf. Das belegen beispielsweise die erschütternden Ereignisse in Hanau und Halle sowie die weltweiten „Black Lives Matter“-Demonstrationen nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in Minneapolis, USA. Doch was bleibt, wenn der Aufschrei verhallt ist?
Mit-Kuratorin Ismahan Wayah erläutert das breitgefächerte Rahmenprogramm; Foto: Hans-Bernd Heier
Wie äußert sich Rassismus in unserem Alltagsleben? Kai Klose, Hessischer Minister für Soziales und Integration, brachte es in seinem Video-Grußwort auf den Punkt: „Rassismus beginnt, wo Menschen aufgrund ihres Aussehens, ihrer vermeintlichen Herkunft oder einer Religionszugehörigkeit ausgegrenzt oder diskriminiert werden. Mit dem Förderprogramm „Wir“ unterstützt das Land Hessen die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Kultur“.
Dass Rassismus Menschen nach vermeintlichen biologischen oder kulturellen Zuschreibungen bewertet, sei Denken der kolonialen Vergangenheit. „Als Erbe der kolonialen Vergangenheit manifestieren sich diese Zuschreibungen bis in unser heutiges Denken. Sie schreiben sich in unserer Sprache fort und beeinflussen unsere Handlungen. Rassismus kann in gewalttätigen Übergriffen gipfeln – dann ist er nur allzu offensichtlich. Doch in der Regel wirkt er subtil“, sagt Susanne Gesser, Leiterin von „Frankfurt Jetzt!“ Aus diesem Grund stellt die Stadtlabor-Ausstellung die Frage, wer „sieht“ die vielen Facetten des Rassismus.
„Reflexion über Mikroaggressionen“; Foto: Hans-Bernd Heier
Die Präsentationen im Historischen Museum machen dezidiert die Lebensrealitäten des gewachsenen Alltagsrassismus sichtbar, und zwar aus der Perspektive der Betroffenen. Während in öffentlichen Diskussionen zu Rassismus und Kolonialgeschichte ihre Sichtweise kaum Beachtung findet, stehen Schwarze, People of Color, Sinti*ze und Rom*nja sowie Menschen mit Migrationsgeschichte und Fluchterfahrungen im Mittelpunkt dieser eindrucksvollen Schau.
Neben verschiedenen Formen von Rassismus und deren Auswirkungen auf Betroffene, zeigt die Ausstellung vielfältige „Selbstermächtigungsstrategien“ (Empowerment) im Kampf gegen Rassismus. „Die Ausstellung blickt aus mehreren relevanten Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands, auf die daraus resultierenden Strukturen und auf ihr Nachwirken bis heute. Sie zeigt, wie Menschen Widerstand leisten und was sie in ihrer Identität und in ihrem Kampf bestärkt. Es geht um gesellschaftliche Anerkennung, um Sichtbarkeit und Sichtbarmachung, um Sprechen und Gehört-werden und um eine kritische Selbstreflexion weißer Menschen und der Institution Museum“, so Gesser.
Die Stadtlabor-Beiträge – ein neues partizipatives Ausstellungsformat – sind in enger Zusammenarbeit zwischen dem Museum und Expert*innen aus unterschiedlichen aktivistischen und migrantischen Initiativen Frankfurts entstanden. Sie sind äußerst vielfältig, meist politisch und sehr persönlich. Den Beteiligten geht es um gesellschaftliche Anerkennung, um Sichtbarmachung des „Mikro-Rassismus“ (z. B.: Wo kommst Du her?), um Gehört-werden und auch um kritische Selbstreflexion weißer Menschen.
Zirkus Hagenbeck lockte vormals mit der Zurschaustellung exotischer Menschen; Foto: Hans-Bernd Heier
Mit mehr als 60 Beteiligten wurde die nachdenklich stimmende Schau in einem zehnmonatigen Prozess erarbeitet. Die 27 Ausstellungsbeiträge sind in vier Ausstellungsbereiche gegliedert:
- Rassismus – existiert strukturell, institutionell und im Zwischenmenschlichen. Er tritt in unterschiedlichen Formen und als Diskriminierung in den verschiedensten Lebensbereichen auf. Rassismus kann sehr subtil sein und sich in sogenannten Mikroaggressionen zeigen. Die Stadtlaborant*innen betrachten Rassismus auf der Basis ihrer eigenen Positionierung.
- Kolonialismus versus postkoloniale Gegenwart – postkoloniale Perspektiven betonen, dass die Epoche des Kolonialismus bis in die Gegenwart hinein nachwirke. Immer noch funktioniere die Welt den betroffenen Menschen zufolge nach kolonialen und rassistischen Denkmustern. Sie fordern deshalb eine Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus. Sie wollen zum einen Verbrechen sichtbar machen und zum anderen die Geschichtserzählung um Perspektiven von Betroffenen erweitern.
Prominenter Flüchtling; Foto: Hans-Bernd Heier
- Postkoloniale Grenzregime und Flucht: Die Stadtlaborant*innen thematisieren das Leben zwischen Grenzen: die Lebenssituation von Geflüchteten und von Menschen mit Migrationsbiografien. Die Ausstellung präsentiert unterschiedliche Perspektiven auf Flucht und Zuwanderungsgeschichten. Im Fokus stehen die Themenfelder Identität und Zugehörigkeit, Aufnahme und Abschiebung, Integration und Ausschluss.
Plakate gegen die Abschiebungspolitik; Foto: Hans-Bernd Heier
- Empowerment und Widerstand – Empowerment bedeutet (Selbst-)Ermächtigung, der Zugewinn von Selbstbestimmung. Diese Prozesse sind vielfältig und spielen sich auf unterschiedlichen Ebenen ab. Die Beteiligten zeigen, wie einzelne Menschen und Gruppen sich selbst ermächtigen, beispielsweise durch Gründung von Vereinen oder Initiativen oder mit stimmstarken Demonstrationen. In ihren Beiträgen betonen sie den Wunsch, ihre spezifischen Lebensrealitäten sicht- und hörbar zu machen.
Zu allen vier Ausstellungsbereichen hat das Museumsteam jeweils eine Kontextebene hinzugefügt mit Begriffsklärungen, Zitaten von Aktivist*innen und auch einigen Museumsobjekten. An vier Stationen ist zudem ein ausstellungsbegleitendes Glossar über einen QR-Code abrufbar. Das Glossar bietet Definitionen und Erklärungen zu themenspezifischen Begriffen, die sich durch die Ausstellung ziehen.
Das Museumsteam des HMF zeigt „Respekt!“; © HMF; Foto: Susanne Thimm.JPG
Rassismus-kritische Museumsarbeit ist für eine Kultureinrichtung in der Großstadt wie Frankfurt, in der Menschen aus 170 verschieden Nationen leben, ganz essentiell. Mit der Neueröffnung 2017 hat das Historische Museum Frankfurt sein Konzept überarbeitet. „In seiner Neukonzeption ist das Leitbild: Multiperspektivität, Diversität und Inklusion zentral und die Repräsentation sowie das Empowerment von Minderheiten sind ein wichtiges Anliegen. So soll sich die Vielfalt der Stadtgesellschaft in den Ausstellungen, den Sammlungen und der Vermittlung widerspiegeln“, erläutert Museumsdirektor Dr. Jan Gerchow.
So gehört das HMF zusammen mit weit über 50 Frankfurter Kulturinstitutionen und Kunstschaffenden zu den Erstunterzeichner*innen der „Frankfurter Erklärung der Vielen“ und hat sich damit gegen Rassismus, Homo- und Transphobie, Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit ausgesprochen. Mit dieser Erklärung betont es die Bedeutung von demokratischer und künstlerischer Freiheit sowie Pluralität.
Die vielseitige Schau „Ich sehe was, was Du nicht siehst – Rassismus, Widerstand und Empowerment“, die zum Nachdenken und zum kritischen Diskurs einlädt, ist bis zum 28. Februar 2021 im neuen Ausstellungshaus des Historischen Museums Frankfurt zu sehen.
Weitere Informationen unter:
www.historisches–museum-frankfurt.de