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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Deutscher Buchpreis: Die Finalisten (3) Anne Webers „Heldinnenepos“

Vier der sechs Autor*innen, die für den Deutschen Buchpreis nominiert wurden, waren der Einladung zur Lesung ins Frankfurter Literaturhaus gefolgt: Anne Weber („Annette, ein Heldinnenepos“), Deniz Ohde („Streulicht“), Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabrik“) und Bov Berg („Serpentinen“). Simone Hamm hat „Annette, ein Heldinnenepos“ (Matthes & Seitz) für FeuilletonFrankfurt gelesen.

Anne Weber las im Frankfurter Literaturhaus; Foto: Petra Kammann

Auf einer Podiumsdiskussion lernt Anne Weber Annette Beaumanoir kennen und ist fasziniert von der Lebensgeschichte der alten Dame. Annette stammt aus einer einfachen bretonischen Fischerfamilie und ärgerte sich schon in der Schule darüber, dass die beiden Mitschülerinnen, die in der ersten Reihe sitzen, so ganz unterschiedlich behandelt werden. Dem Mädchen aus gutem Hause lässt die Lehrerin viel mehr durchgehen als dem aus armen Verhältnissen.

Annettes Gerechtigkeitsempfinden wird durch diese Erfahrung immer stärker. Sie wird zur Kommunistin. In der Résistance kämpft sie gegen die Besatzer, rettet jüdischen Kindern das Leben, wechselt Namen, Häuser, Städte. Ihr ebenfalls im Widerstand arbeitender Jugendfreund wird entdeckt und ermordet.

Dieser Heldin hat die in Frankreich lebende Autorin Anne Weber ein Buch gewidmet, ein ganz besonderes. Es ist kein Roman und keine Biographie, kein gereimtes Gedicht – es ist ein Epos. Auch das Satzbild ist ein besonderes. Kein Blocksatz, sondern Flattersatz, Zeilen unterschiedlicher Länge.

Anne Weber ist ein Wagnis eingegangen und  – um es gleich vorwegzunehmen – die selbstgestellte Herausforderung, im 21. Jahrhundert ein Held(innen)epos zu schreiben, könnte nicht besser gemeistert werden.

Weber hat ein grandioses, ein unvergleichliches Buch geschrieben, ein Epos, das sie zugleich bricht. Sie sich nähert Annette Beaumanoir auf ihre ganz eigene Weise. Mal ist sie tief beeindruckt, dann wieder distanziert, mal wendet sie sich an die Leser, stellt sich selbst Fragen, dann wird sie ironisch.

Nach dem Krieg heiratet Annette, die Medizin studiert, einen Arzt, mit dem sie zwei Söhne hat. Doch sie hat immer noch Augen und Ohren für die Entrechteten, sie will mehr sein als „nur“ Ärztin. Sie engagiert sich im algerischen Befreiungskampf, schleppt Koffer voller Geld durch Frankreich.

Sie wird verraten. Auf ihre Taten stehen zehn Jahre Gefängnis. Da ist Annette mit dem 3. Kind schwanger, einer Tochter, und sie gibt vor, krank zu sein. So kommt sie aus der Untersuchungshaft. Es gelingt ihr, nach Algerien zu fliehen.

Sie ist krank vor Sehnsucht nach ihren Kindern, arbeitet in Tunis weiter für die Unabhängigkeit Algeriens, später im Gesundheitsministerium des unabhängigen Algerien. Sie hat Freunde, Liebhaber, und sie ist eine sich aufopfernde Ärztin.

Wie weit, so fragt Anne Weber, darf der persönliche Verzicht gehen? Wie weit ein Befreiungskampf ? Wann wird daraus Terrorismus? Sie zitiert Camus, der sich gegen Bombenanschläge ausspricht und sie lässt Annette Beaumanoir über Sartres Gegenposition reflektieren. Weiß Annette mehr, als sie wissen will?

Annette Beaumoir ist enttäuscht vom unabhängigen Algerien – sie hat nicht ihr Leben aufs Spiel gesetzt, damit eine nach Macht gierende Clique die andere ersetzt. Nachdem Präsident Ben Bella, mit dem sie eng zusammen gearbeitet hat, 1965 gestürzt worden ist, kehrt sie zurück nach Europa, zunächst nach Genf, wo sie als Leiterin einer neurologischen Klinik arbeitet und abwartet, bis sie amnestiert wird. Erst dann kann sie wieder nach Frankreich zurück.

„Man schaut zurück – Annette selbst steht

neben sich und schaut zurück aus weiter Ferne –

und glaubt da etwas zu durchschauen, was früher noch

im Nebel lag. Dank unseres Wissen über das, was

längst vergangen ist, aber für Damalige noch in der

Zukunft liegt, glauben wir uns befähigt mitzureden,

den Kopf zu schütteln, anzuprangern. Für den, der

mittendrin ist, liegen die Wege allesamt im Nebel.“

Ich hätte gern noch mehr über Annette Beaumonair erfahren, über die Zeit, als sie wieder in Europa lebt. Das Heldinnenepos hat mich tief in seinen Bann gezogen, ich hätte es immer weiterlesen können. Doch für diese Zeit hält  die Autorin nur ganze sechs  Seiten bereit, wird ganz knapp. Dass Annette Beaumonair zwei ihrer drei Kinder überlebt, das ist AnneWeber nur einen einzigen Satz wert. Eine trauernde Mutter ist keine Heldin.

Annette Beauvoir ist eine Frau, die niemals aufgibt. Immer wieder kämpft sie. Und so endet Anne Webers Heldenepos mit Camus‘ Betrachtung des Sysiphos. Man habe ihn sich als einen glücklichen Menschen vorzustellen…

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