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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Deutscher Buchpreis: Die Finalisten (2) Thomas Hettches Roman „Herzfaden“

Vier der sechs Autor*innen, die für den Deutschen Buchpreis nominiert wurden, waren der Einladung zur Lesung ins Frankfurter Literaturhaus gefolgt: Anne Weber („Annette, ein Heldinnenepos“), Deniz Ohde („Streulicht“), Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabrik“) und Bov Berg („Serpentinen“). Der Autor Thomas Hettche war nicht bei der Präsentation der Finalisten im Frankfurter Literaturhaus. Sein  Roman „Herzfaden“ über die Augsburger Puppenkiste ist aber durchaus lesenswert und preiswürdig, findet Simone Hamm, die das Buch für FeuilletonFrankfurt gelesen hat.

v.l.n.r.: Anne Weber, Deniz Ohde, Dorothee Elmiger  und Bov Berg lasen im Literaturhaus; Foto: Petra Kammann

Eine Insel mit zwei Bergen

Lummerland ist eine winzige Insel mitten im weiten, endlosen Ozean,  das Meer eine blauschimmernde dünne Klarsichtfolie, die von unten beleuchtet wird und sich mittels eines Gebläses hebt und senkt, als gäbe es Wellen. Dort leben Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer. Sie sind Marionetten. Die fernsehschauenden Kinder warteten Sonntag für Sonntag sehnsüchtig auf die Vorstellung der „Augsburger Puppenkiste“.

Thomas Hettche erzählt in „Herzfaden“ die Geschichte der „Augsburger Puppenkiste“, die Geschichte des Gründers Walther Oehmichen und seiner Tochter Hannelore. Eine Marionette, so Oehmichens Überzeugung, sei viel mehr als eine Holzpuppe an Fäden. Der wichtigste Faden einer Marionette sei der Herzfaden, er mache uns glauben, sie sei lebendig, denn er sei am Herzen der Zuschauer festgemacht.

Zunächst ist Hettches Roman ein Kinderbuch, rot gedruckt. Ein zwölfjähriges Mädchen, dass sich viel zu alt fürs Marionetten Theater fühlt, setzt sich nach der Vorstellung mit seinem iPhone neben eine kleine Tür im Foyer. Neugierig öffnet sie die Tür und gelangt auf einen Dachboden, wo sich Marionetten versammelt haben. Das Mädchen schrumpft und wird ebenso klein wie eine Marionette. Zwischen Prinzessin Li Si und dem alten Storch sitzt eine wunderschönen Frau im cremefarbenen Kleid und raucht elegant, Hannelore Marschall, die Tochter Walter Oehmichens, seine Nachfolgerin.

Sie hatte einst einen bösen Kasperl geschnitzt, er wird zu einer allegorischen Figur, versetzt die Marionetten in Angst und Schrecken. Auch das Mädchen fürchtet ihn und weiß doch nicht warum. Der Kasperl beinhaltet all das, was verdrängt worden ist nach dem Krieg. In der Kunst. Im Leben.

Blau gedruckt ist die reale Geschichte der Puppenkiste. Hettches Roman beginnt zu Kriegszeiten während Bombennächten und Deportationen. In einer eindringlichen Szene besucht Hannelore ein Haus, in dem jüdische Bewohner leben, denen die Flucht nicht mehr gelungen ist. Oehmichen ist kein Nazi, leistet aber auch keinen nennenswerten Widerstand.

Immer wieder wechseln sich die phantastische „rote“ Geschichte mit der realen „blauen“ ab, immer mehr nähern sie sich einander an, bis sie zusammenfließen. Das ist klug und poetisch und politisch zugleich.

Vor allem schildert Hettche die Geschichte der „Augsburger Puppenkiste“ in der Nachkriegszeit.

Das ist schon großartig gemacht, wie da nach einer Aufführung des kleinen Prinzen alle zusammenstehen: Der Schriftsteller Erich Pätzhold, dessen Bücher verbrannt wurden und der in die USA emigrierte, der Literaturwissenschaftler und SS-Mann der ersten Stunde Hans Egon Holthusen, der Grafiker und Autor Max Unhold, Präsident der „Münchner Neuen Secession“, die 1936 von den Nazis aufgelöst wurde, die Schriftstellerin Ina Seidel, die zu den 88 Schriftstellern gehörte, die das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterschrieben hatten.

Thomas Hettches Roman kann man natürlich nicht lesen, ohne an Heinrich von Kleists „Marionettentheater“ zu denken. Bei Hettche werden Kunst und Leben, Marionette und Mensch, Vergangenheit und Gegenwart, Märchen und Reales eines.

Die vollkommene Grazie, so heißt es bei Kleist, sei  dem Menschen nach dem Sündenfall aufgrund des seither existenten reflektierenden Bewusstseins unmöglich. Der Marionette fehle dieses Bewusstsein. Ein Mensch müsse „wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen“.

Millionen von Deutschen, Kinder wie Erwachsene haben der Augsburger Puppenkiste zugesehen, haben sich verzaubern lassen von den unschuldigen Marionetten.

Thomas Hettche hat die deutsche Nachkriegszeit in einem wunderbar poetischen Roman aufgearbeitet, ganz leicht und sehr vielschichtig zugleich.

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