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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Stadtschreiber: Anja Kampmann geht, Anne Weber kommt

Verabschiedung und Neueinzug ins Berger Stadtschreiberhaus

Text und Fotos: Renate Feyerbacher

Schlüsselübergabe von Anja Kampmann (re) an Anne Weber (li)

Thomas Melle, geboren in Bonn 1975, Romancier („Die Welt im Rücken“ 2016), Theaterautor, Übersetzer) übergab den Schlüssel zum Stadtschreiberhäuschen an Clemens Meyer. Das war am 31. August 2018. Der Leipziger Autor, Jahrgang 1977, der mit der Verfilmung seines Buches „Als wir träumten“ (2006), auf sich aufmerksam machte, erhält in diesem Jahr den Klopstock-Preis. Er übergab den Schlüssel des Stadtschreiberhauses in Bergen-Enkheim ein Jahr später an Anja Kampmann.

Clemens Meyer am Stadtschreiberhaus

Das Werk der 1983 in Hamburg Geborenen, die dort und am Literaturinstitut Leipzig  studierte, ist bisher schmal. Das viel beachtete Erstwerk von Anja Kampmann ist der Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ 2016 und 2018 der Roman „Wie hoch die Wasser steigen“, von dem die Jury sagte, er sei nicht einfach ein Roman, „sondern ein großes Gedicht.“

Kulturdezernentin Ina Hartwig schätzt Anja Kampmann „als eine der interessantesten deutschsprachigen Nachwuchsautorinnen.“ Auf der Pressekonferenz kündigte die junge Schriftstellerin ihr 3. Buch an, einen Gedichtband, der im Frühling erscheinen wird. Ein Gedicht bringt sie mit Corona in Verbindung, wie sie sagt. Üblicherweise reist sie viel, wird derzeit aber gebremst.

So hat ihr Corona auch die Zeit in Bergen-Enkheim vermasselt. Erst spät konnte sie ins Stadtschreiberhaus ziehen, Veranstaltungen fielen aus, der Kontakt zu den Menschen vor Ort war so gut wie nicht möglich. Einige Veranstaltungen sollen nun nachgeholt werden und natürlich will sie ihre Erfahrung, die sie in Bergen-Enkheim machte, möglichst realistisch schildern und nicht versuchen, sie auf eine andere Ebene zu heben.

Am 28. August war abermals Schlüsselübergabe: diesmal an Anne Weber. Nur wenige Leute hatten sich eingefunden und wurden von Renate Müller-Friese, Ortsvorsteherin von Bergen Enkheim, die den Abend moderiert, begrüßt.…. Kein Berger Markt, kein Festzelt auf dem Marktplatz. Nur 250 Personen durften unter die Platanen kommen und mussten sich vorher anmelden. Auf das Zusammensein im kleinen Garten des Stadtschreiberhauses vor der Schlüsselübergabe mit traditionell wunderbarem Pflaumenkuchen musste verzichtet werden.

Zum Fototermin mit Anne Weber war die Presse geladen, um das Anschrauben des Schildes zu fotografieren.

Anne Weber am 28. August schreibt und schraubt sich ins Stadtschreiberhaus in Bergen-Enkheim ein

Feuilletonfrankfurt hatte die in Offenbach geborene Schriftstellerin Anne Weber, bereits vorgestellt. Es zog sie mit 18 Jahren direkt nach dem Abitur am Gymnasium in Büdingen nach Paris, wo sie seither wohnt.

Corona habe als Thema keinen unmittelbaren Einfluss auf ihr Schreiben gehabt, sagt sie, wohl aber in ihrer eigenen Wahrnehmung der Realität. Die Frage nach Distanz mache Angst. Kampmann betont dagegen: „Ohne Distanz gibt es keine Kunst.“

Anne Weber machte deutlich, dass es beim Schreiben nicht aus ihr heraussprudele, sondern sie stets den Schritt in eine Form suche. Am liebsten schreibe sie nachts, getragen von dem Wissen, dass im Nebenzimmer ein lieber Mensch liegt. Sie habe den Umweg über die Fremdsprache, das Französische, dazu gebraucht. Ihr erstes Buch auf Französisch sei zwar abgelehnt worden, beim zweiten aber habe es geklappt. Dann schrieb sie in Deutsch.

In ihrem Buch „Ahnen – ein Zeitreisetagebuch“ (2015) geht sie auf poetische Weise dem Leben und Wirken ihres Urgroßvaters nach, der in der Nähe von Posen Jurist, Pfarrer, Schriftsteller und Philosoph war. Der Weg ihrer Nachforschungen geht weiter zu ihrem Großvater und Vater, beide verstrickt im Nationalsozialismus.

Ihr zuletzt erschienenes Buch widmet sie der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir: „Annette ein Heldinnenepos“. Wer aber ist diese Anne Beaumanoir, die bald 97 Jahre alt wird und im letzten Jahr in Berlin den 1. Teil ihrer Erinnerungen vorstellte: „Wir wollten das Leben ändern – Leben für Gerechtigkeit“? Im zweiten Band von 2020 geht es um die Zeit zwischen 1954 und 1965. Da beschäftigt sie sich mit dem „Kampf für die Freiheit“, die 1962 in Algerien erreicht wurde.

Anne Beaumanoir wird 1923 in der Bretagne geboren, als Jugendliche wird sie Mitglied der kommunistischen Résistance, rettet zwei jüdische Jugendliche – wird in Yad Vashem geehrt. Nach dem Krieg setzt sie ihr Medizinstudium in Marseille fort, wird Professorin für Neurologie, heiratet und wird Mutter zweier Söhne.

Wegen eines Zwists tritt sie aus der Kommunistischen Partei aus, setzt sich für die algerische Befreiungsbewegung ein, wird verraten, ist erneut schwanger und wird 1959 von einem französischen  Militärgericht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Die Folge: Flucht nach Tunis, Trennung von der Familie, Beteiligung am Aufbau des algerischen Gesundheitssystems, 1965 Flucht nach Genf nach dem Militärputsch, wo sie bis zur Rente Leiterin einer Klinik für Neurophysiologie ist, schließlich Rückkehr nach Frankreich.

Anne Weber hat Anne Beaumanoir, die in einem Dorf in Südfrankreich wohnt, bei einem kleinen Dokumentarfilmfestival kennen gelernt und später mehrfach besucht. Sie war fasziniert von der kleinen mutigen Frau. Von „Liebe auf den ersten Blick“ erzählt Weber bei einem Gespräch im Deutschlandfunk. An ein Buch über sie habe sie dabei zunächst nicht gedacht. Als aber der Entschluss dann feststand, habe Anne Beaumanoir sie auch unterstützt.

Als sie das Manuskript dann gelesen habe, habe Anne Beaumanoir zu ihr gesagt: „Das ist ja ganz toll, aber das bin eigentlich nicht ich. Das ist Deine Annette.“ Und das, so Anne Weber, obwohl ich mich sehr eng daran gehalten hatte, was sie mir von ihrem Leben erzählt hat und was ich darüber wissen konnte.“ Als Heldin hatte Anne Beaumanoir sich nicht sehen wollen. Anne Weber wiederum habe es widerstrebt, aus dieser Frau eine Romanfigur zu machen.

„Annette, ein Heldinnenepos“ wurde soeben auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gesetzt. In einer der begeisterten Kritiken heißt es: „Ein Leseglück von Anfang bis Ende.“ (Süddeutsche Zeitung)

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