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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Open air-Soiree mit Cello solo: Bettina Kessler spielt Werke von Bach und Kodály

Von Erhard Metz

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ – die alte sprichwörtliche Weisheit bestätigte sich unlängst wieder einmal im Park zwischen den Gästehäusern der Frankfurter Goethe-Universität. Zum vierten Mal hatten Professor Jürgen Bereiter-Hahn, Vorsitzender des Stiftungsrats der „Stiftung zur Förderung der internationalen wissenschaftlichen Beziehungen der Johann Wolfgang Goethe-Universität“, und die Konzertpianistin, Musikcoachin und Konzertorganisatorin Viviane Goergen zu einer musikalischen Veranstaltung eingeladen – trotz bedenklichster Wetterlage unter freiem Himmel mit dem vorgeschriebenen Abstand zwischen den Gästen, der Corona-Pandemie geschuldet. Am Ende gab der „Wettergott“ dazu seinen Segen.

Cellistin Bettina Kessler im Park der Universitätsgästehäuser

Die beiden aufgeführten Werke für Cello solo – von Johann Sebastian Bach die Suite Nr. I G-Dur BWV 1007, vielleicht die bekannteste des sechs derartige Kompositionen umfassenden Zyklus, und die Sonate für Violoncello solo h-moll Op. 8 von Zoltán Kodály – gehören zum Anspruchsvollsten, was die Literatur für dieses Instrument zu bieten hat. Es war ein Wagnis und eine Herausforderung, sie im Freien vor einem noch dazu weit auseinander sitzenden Publikum aufzuführen. Mal raschelte das Blattwerk der nahen Bäume im Luftzug, mal entführten auffrischende Winde die Klänge in diese oder jene Richtung im weitläufigen Gartenpark. Als sich das mehrstimmige Geläut einer wenn auch etwas entfernteren Kirche in die musikalische Komplexität der Kodály-Sonate einmischte, konnte dem Lauschenden der Schreck in die Glieder fahren – doch Bettina Kessler, in tiefer Konzentration auf ihr souveränes Spiel, ließ sich nicht im geringsten aus der Ruhe bringen. „Natürlich habe ich die Glocken gehört“, schmunzelte sie nach dem Konzert. Festzustellen bleibt, dass man die Aufführung eines derart komplexen, bis in die höchsten Lagen des Instruments und in säuselnde Pianissimi führenden Programms doch gerne noch einmal in einem geschlossenen Konzertsaal erleben möchte.

Unter Cellisten kursiert der Spruch: Wenn die Solosuiten von Johann Sebastian Bach das Alte Testament der Celloliteratur sind, dann ist die Solosonate op. 8 von Zoltán Kodály das Neue Testament. Da mag viel Wahres daran sein, setzt aber voraus, dass sich dieser musikalischen Testamente eine hoch inspirierte, virtuose Interpretin annimmt, wie dies in der Person von Bettina Kessler der Fall ist und wie sie es bereits im März 2019 in einer Konzertreihe im Frankfurter Holzhausenschlößchen unter Beweis gestellt hat.

Zu den sechs Suiten für Cello solo von Johann Sebastian Bach schrieb der „Cello-Papst“ Pablo Casals: „Sie sind die Quintessenz von Bachs Schaffen, und Bach selbst ist die Quintessenz aller Musik.“ Dem kann nichts weiter hinzugefügt werden. Vielleicht noch unsere sehr persönliche Auffassung, dass diese Werke den (ebenfalls sechs) Sonaten und Partiten für Violine solo des Meisters allein schon im Blick auf das immense und raumgreifendere Klangspektrum des größeren Instruments überlegen sind. Autographen der sechs Suiten sind nicht überliefert; heutige Notenausgaben beruhen weitgehend auf Abschriften von Anna Magdalena Bach. Ob Bach die Suiten – und dann vermutlich mit wie damals gebräuchlich am Arm gehaltenem Instrument – auch selbst gespielt hatte, ist in der Musikwissenschaft umstritten, wird aber als wohl wahrscheinlich angenommen.

Der Aufbau der rund 20 Minuten Spielzeit erfordernden Suite für Violoncello solo Nr. I G-Dur BWV 1007 ähnelt im Grundprinzip demjenigen der fünf anderen des Zyklus mit einem Prélude und nachfolgenden Tanzsätzen. Dem überaus harmonischen, bei allem Wechsel zwischen gegriffener und leerer Saite spieltechnisch noch keine übermäßig großen Herausforderungen bergenden Prélude in G-Dur folgen eine Allemande (G-Dur), die Courante (G-Dur), die Sarabande (G-Dur), ein Menuett I (G-Dur) sowie ein Menuett II (g-moll) und abschließend die Gigue wieder in G-Dur, die für den Hochbarock klassische Folge von Tänzen also (obwohl diese zu Bachs Zeiten bereits nicht mehr praktiziert wurden), die in ihrem Wechsel zwischen gravitätischer Würde und tänzerischer Lebensleichtigkeit dem Cellisten nunmehr ebenso große Sensibilität wie virtuos-meisterliche Fähigkeiten in Grifftechnik und Bogenführung abverlangen.

Die Suche nach der Interpretation der Suite – ebenso wie die der fünf anderen dieser Reihe – gehört zum wahrscheinlich kaum jemals vollendbaren Lebenswerk eines jeden Cellisten. Bettina Kessler scheint uns – mit ihrem ruhig-konzentrierten, in sich lauschenden Spiel, dass keinen im heutigen Musik- und Eventbetrieb leider fast schon üblich gewordenen aufgesetzten Show-Effekten Raum gibt – im Sinne dieser Erkenntnis auf einem guten Weg zu sein.

Wir sehen in den Kompositionen des Meisters für Soloinstrumente, sei es für Orgel, Klavier, Violine oder Violoncello, in ihrer Reinheit und ihrem Anspruch auf Absolutheit eine Öffnung in kosmische, universelle Dimensionen. Nicht ohne Grund sprach Albert Schweitzer, wenn auch mehr im Blick auf die Kantaten und Oratorien, in der Folge des schwedischen Bischofs Nathan Söderblom von Johann Sebastian Bach als dem fünften Evangelisten.

Die Komposition der geradezu monumentalen Sonate für Violoncello solo h-moll Op. 8 von Zoltán Kodály (1882-1967) im Jahr 1915 – dem Ersten Weltkrieg geschuldet wurde sie erst 1918 uraufgeführt – fiel in die Zeit, in der Pablo Casals begonnen hatte, die sechs Suiten von Johann Sebastian Bach für Cello solo auf der Bühne für ein Konzertpublikum zu erschließen. Das Violoncello zählte zu den von Kodály bevorzugten Instrumenten, und er nahm mit seiner Sonate gewiß Bezug auf das Bachsche Werk für Cello solo. Aber erst dem berühmten Cellisten János Starker (1924-2013) blieb es vorbehalten, 1939 als Fünfzehnjähriger das Werk dem Komponisten vorzuspielen, der sich mit der Darbietung als künftiger „Bibel für die Interpreten“ zufrieden zeigte. Starkers anschließende Einspielungen der Sonate erwiesen sich als Referenzaufnahmen – legendär und wegweisend für die künftigen Generationen von Cellisten. Aber erst seit den 1980er Jahren fand das Werk Eingang in ein größeres cellistisches Repertoire. Der weltweit auf allen großen Konzertbühnen vertretene Cello-Virtuose Daniel Müller-Schott soll die Sonate als den „Mount Everest“ der Cello-Literatur bezeichnet haben.

Die rund dreißigminütige Sonate mit den Sätzen Allegro maestoso ma appassionato, Adagio con gran espressione und Allegro molto vivace forderte den damaligen wie auch den heutigen Interpreten bis dahin Ungewöhnliches ab wie Pizzicati mit den Fingern der linken Hand bei gleichzeitigem Bogenspiel der rechten, den Einsatz des Daumens auf dem Griffbrett, das Spiel in extrem hohen Lagen am Ende des Griffbretts und darüber hinaus, ein Pizzicato-Glissando oder ein Sul ponticello, der Führung des Bogens dicht am Steg zur Erschließung neuartiger Klangmöglichkeiten. Kodály nutze, so staunte bereits János Starker, das gesamte Cello von der Spitze bis zum Boden. Die Komposition erfordert – ähnlich wie die fünfte Bach-Suite für Cello solo – eine Skordatur, hier der beiden tiefen C- und G-Saiten des Instruments um einen Halbton nach H und Fis, um ihm erweiterte harmonische und dynamische, ja orchestral anmutende Möglichkeiten zu erschließen. Wie bei Kodálys Freund Béla Bártok finden oft Elemente der ungarischen Volksmusik Eingang in das kompositorische Werk, hier besonders im Finalsatz Allegro molto vivace.

Wie die Bachschen Suiten erschließt auch die Kodály-Sonate, um auf die Bemerkung Starkers Bezug zu nehmen, das spielerisch-klangliche Universum des Instruments Violoncello, darüber hinaus aber auch ein Universum im Inhaltlich-Musikalischen. Es wäre müßig, dies verbal darstellen zu wollen, man muss die Sonate hören, sicherlich mehrfach, um in den Genuß solcher Erkenntnis zu gelangen. Ein Erlebnis wäre natürlich dabei, die Artistik des Cellisten auf dem Griffbrett und in der Bogenführung mit eigenen Augen aus der Nähe verfolgen zu können. Wollte Kodály mit seiner an die Grenzen des Möglichen gehenden Sonate allein eben diese Grenzen erreichen und überschreiten, bliebe die Komposition letztlich kaum mehr als ein L’art pour l’art in den Echokammern von Cellospezialisten. Sie vermag jedoch mit ihrer oft im Volkstümlichen wurzelnden Melodiösität, ihrer gelungenen Harmonik wie Disharmonik, ihrer Lyrik wie auch ihrer Leidenschaftlichkeit und Expressivität das Auditorium regelrecht mitzureißen.

Wer Bettina Kesslers virtuoses Spiel aus der Nähe beobachten konnte, dem konnte schwindelig werden ob des akrobatischen Balletts der Finger auf dem Griffbrett. Wiederum überzeugte die Musikerin in ihrer ruhigen Konzentration auf ihr Spiel, der innigen Verwobenheit mit dem Instrument. Wohltuend auch hier wieder der Verzicht auf effektheischende Körperbewegungen, Gesten und „Grimassen“ – jene Showelemente, wie sie im heutigen Musikbetrieb leider allzu oft anzutreffen sind.

Bettina Kessler, geboren 1988 in München, erhielt ihren erster Cellounterricht bereits im Alter von fünf Jahren. Sie studierte Violoncello bei den Professoren Conradin Brotbek in Stuttgart, Michael Sanderling in Frankfurt und Eberhard Feltz in Berlin, dem „Guru des Streichquartetts“, von dem sie wesentliche Impulse für ihre Arbeit in dieser musikalischen Formation empfing. Sie besuchte Meisterkurse u.a. bei Troels Svane, Wolfgang Boettcher und Eberhard Feltz und erhielt auf solistischer und kammermusikalischer Ebene mehrfach Preise bei nationalen und internationalen Wettbewerben. Sie war Stipendiatin u.a. des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Deutschen Stiftung Musikleben und wirkte bereits im Opern- und Museumsorchester Frankfurt sowie im hr-Sinfonieorchester mit.

2017 war sie als Cellistin Mitbegründerin des Malion Quartetts, das im Masterstudiengang „Kammermusik“ an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt bei Professor Tim Vogler studiert und dessen Assistentin sie wurde. Das Quartett erhielt im Juni 2018 ein Stipendium der Landesstiftung Villa Musica Rheinland Pfalz und gewann im November 2018 einen Wettbewerb der Polytechnischen Gesellschaft. Seit Mai 2019 ist das Ensemble ein Aspirant auf eine Förderung durch die European Chamber Music Academy.

Bettina Kessler beschreitet, da sind wir sicher, den richtigen Weg zwischen dem Solo- und dem Ensemble-Spiel, namentlich im von ihr mit initiierten, inzwischen deutschlandweit bekannten Malion Quartett. Nicht zuletzt findet ein jedes im jeweils anderen seine Begründung.

Nach den bisherigen drei überaus gelungenen Matineen in der Kooperation von Goethe-Universität und der Konzertorganisatorin Viviane Goergen bewirkte die Corona-Krise jetzt eine geglückte sommerliche Soiree unter freiem Himmel – geglückt nicht zuletzt auch deshalb, weil das Wetter, fast schon wider Erwarten, mitspielte. Das Publikum im bequemen Sessel erfreute sich des luftigen Abends wie des Klangzaubers, den Bettina Kessler über den Gartenpark breitete. Dachte es auch an die Sorgen und den Stress, den die umfangreichen Vorarbeiten bei Corona-Lage und die zweifelhafte Wetterlage den Veranstaltern bis zuletzt bereitet hatten?

Applaus und Blumen mit Corona-Abstand: Bettina Kessler, Viviane Goergen und Professor Jürgen Bereiter-Hahn

Fotos: Erhard Metz

→ Musikalische Matinee mit Jean Muller im Gästehaus der Frankfurter Goethe-Universität
→ Musikalische Matinee in der Goethe Universität mit der rumänischen Pianistin Maria Sintamarian
→ Musikalische Matinee mit Alexander Koryakin im Gästehaus der Frankfurter Goethe-Universität

 

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