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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Jeder für sich und beide zusammen. Ein unvergleichliches Duo: Andreas Scholl und Tamar Halperin

Die musikalische Kommunikation ist immer ein Mysterium

Die israelische Pianistin und Cembalistin Tamar Halperin und der Countertenor Andreas Scholl sind auf den großen musikalischen Bühnen der Welt zuhause. Sie arbeiten jeder für sich und gemeinsam. Das Gespräch mit den beiden Musikern in ihrem Haus in Kiedrich handelt vom Leben im Rheingau, von den Herausforderungen, von der Bedeutung des Publikums, von musikalischer Kommunikation, von den Höhen und Tiefen eines Musikerdaseins in Zeiten der Pandemie.
Ein Bericht von Petra Kammann

Musikalisch und privat ein Duo – die israelische Pianistin und Cembalistin Tamar Halperin und der Countertenor Andreas Scholl – hier privat; Foto: Petra Kammann

 

Sie haben ein altes Winzerhaus in Kiedrich gekauft und umgebaut; Foto: Petra Kammann

Das Hoftor steht offen. Auf dem Parkplatz von Kiedrich treffe ich schon auf Tamar Halperin, die gerade mit großen Einkaufstüten aus dem Supermarkt kommt. So gehen wir gemeinsam auf das schöne alte Winzerhaus zu, in dem sie, ihr Mann Andreas Scholl und ihre fünfjährige Tochter Alma wohnen.

Das Scheunentor, hinter dem sich früher eine Straußwirtschaft befand, steht offen. Und von der anderen Seite wird gerade Alma nach Hause gebracht, die wie eine kleine Prinzessin, mit einer Freundin angehüpft kommt. Sie waren gerade im Tanzkurs, der endlich wieder stattfindet.

Ganz bei sich: der Countertenor Andreas Scholl in Kiedrich; Foto: Uwe Kammann 

„Als Musiker kann man wohnen, wo man will“, sagt der stattliche Countertenor Andreas Scholl, der uns im Hof des einstigen Weinguts empfängt. „Was man braucht, ist vor allem einen Flughafen in der Nähe. So kam ich auf die Idee, mit meiner Familie nach Kiedrich zu ziehen, wo ich schon als Kind gespielt, in der Straußwirtschaft ausgeholfen und bei den Chorbuben gesungen habe“, sagt er.

Mehrfach begegnet er hier in dem kleinen traditionsbewussten Rheingauer Dorf ehemaligen Chorbuben, die ihm „Gude, wie geht’s Andreas?“ auf der Straße zurufen. Immerhin waren dort nicht nur er, sondern sein Großvater, sein Vater, sein älterer Bruder, seine beiden Schwestern schon Chormitglieder. Seine Schwester Elisabeth war sogar die erste weibliche Sängerin im Chor und wurde auch professionelle Sopranistin. Sie wohnt heute wenige Schritte vom Haus entfernt. Das gefällt dem ansonsten weltreisenden Sänger am Dorfleben gut.

Direkt dem Kirchhof der gotischen Basilika St.Valentin angegliedert – das Chorstift; Foto: Petra Kammann

Das gemeinsame Singen im traditionsbewussten Kiedricher Knabenchor, den es bereits seit dem 14. Jahrhundert gibt, habe ihn in seiner Entwicklung natürlich sehr geprägt. Es sei äußerst gemeinschaftsbildend gewesen. Jeden Tag außer samstags gab es um 5 Uhr Gesangsstunden und jeden Sonntag ein Choralhochamt. Die meisten seien aber schon um 3 oder 4 Uhr nachmittags dagewesen, weil vorher noch gemeinsam Tischtennis oder Fußball gespielt wurde. Damals konnten wirklich so dicke Freundschaften entstehen, von denen Scholl noch heute zehrt. Undenkbar heute, da die Kinder allein schon in der Schule viel stärker belastet sind. Deshalb finden heute die Chorstunden nur noch 2-3 x wöchentlich statt.

Dennoch ist das allsonntägliche Singen gregorianischer Gesänge während des lateinischen Hochamts eine große Kiedricher Besonderheit geblieben; wenn auch in einer speziellen Rheingauer Version mit Mainzer Dialekt, die weicher klingt und einen anderen Ambitus, d.h. Tonumfang, hat als die streng lateinische Gregorianik.

Tamar Halperin genießt das Familienleben in Kiedrich; Foto: Petra Kammann

Für die zarte Pianistin und Cembalistin Tamar Halperin, die in Tel Aviv aufgewachsen ist und in New York an der renommierten Julliard School ausgebildet wurde, sieht das zwangsläufig etwas anders aus. Bevor sie gemeinsam das Winzergut erworben hatten, lebten die beiden in Basel, wo sie sich an der Schola Cantorum Basiliensis kennengelernt hatten. Tamar Halperich empfindet es fast als exotisch, heute in einem so bilderbuchähnlichen Dorf zu leben. Natürlich ist es das komplette Gegenteil zu einer Stadt am Meer mit viel Sonne, wo sie aufgewachsen ist und weswegen sie hier im „Norden“ anfangs ständig erkältet war. Natürlich sei es für Sie das Leben im Dorf zunächst ungewohnt gewesen. Aber da beide Musiker auch ständig in der ganzen Welt auf Konzertreisen unterwegs waren, empfand sie es auch als entspannend und beglückend.

Heute genießt sie es, sich hier ihrer kleinen Tochter in ganz anderer Weise widmen zu können, als es woanders möglich wäre. „Selbst der Lockdown war hier für uns als Familie ein Segen. Wir haben nie soviel Zeit mit unserer Tochter verbringen können, nie so lange Zeit erlebt, wo keiner von uns den Koffer gepackt hat und weggefahren ist. Und wir konnten jetzt immer mit Alma zusammen singen. Und sie ist auch bei mir im Studio und malt oder tanzt, während ich übe“, sagt Tamar. Hinzukommt, dass die nächsten erreichbaren Städte gar nicht so weit entfernt sind. Mit dem Auto ist sie ganz schnell in Eltville, in Mainz, in Wiesbaden oder auch in Frankfurt. Und schließlich kann sie heute dank der sozialen Netzwerke auch noch die Verbindung zu ihren Freunden in Tel Aviv, New York, Basel, Paris und Berlin weiter aufrecht erhalten.

Das Innere der Kiedricher Basilika St.Valentinus mit dem berühmten Lettner von 1490; Foto: Petra Kammann

Als besonders, nämlich als ihre „künstlerische Heimat“, empfindet die promovierte Bach-Spezialistin die frühe Musik und die von Johann Sebastian Bach. So ist sie auch häufig in der wunderbaren Kiedricher Basilika anzutreffen, sei es, weil sie dort für die Hochzeit ihrer Freunde spielt oder ihren Mann Andreas begleitet, wenn er dort singt. Auch wenn sie sich nicht in der christlichen Lehre auskennt, so empfindet sie die Kirche als besonderen Ort und Bestandteil einer echten Gemeinschaft. Im übrigen ist im Ort selbst durchaus ein Teil jüdischer Geschichte präsent. Gleich gegenüber von ihrem Haus befindet sich ein Fachwerkhaus, welches früher das Bethaus der Juden des Ortes war. Mit den Geschichten des Ortes hat sich auch ihr Mann Andreas beschäftigt.

Das einstige jüdische Bethaus liegt gegenüber; Foto: Uwe Kammann

Schon sein Großvater habe ihn auf die jüdische Tradition des Ortes aufmerksam gemacht, auf die ehemalige Judengasse, die am Haus entlanglief, vor allem aber habe der ihm viel über den damals bekannten Schriftsteller Gerson Stern erzählt, der  hier bis 1937 auf einem eigenen Obstgut in Haus Sönneck lebte und unter den damaligen politischen Bedingungen sein Haus schnell und billig verkaufen musste, um noch nach Palästina emigrieren zu können. Nach Zwischenaufenthalten in Köln und Frankfurt gelang es dem Schriftsteller und seiner Familie 1939 noch, Deutschland zu verlassen.

In Palästina schrieb Stern dann einen Roman, der von einem jüdischen Winzer in einem Weindorf handelt, „in dem mein Großvater sogar namentlich als Lehrer Scholl erwähnt wird“. Heute ist Sterns Nachlass auf zwei Orte verteilt. Der Hauptteil liegt in der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem, den Andreas Scholl sich ansah: Theaterstücke, angefangene Gedichte, Liebesbriefe an seine Frau, Rechnungen von Kiedricher Handwerkern etc. . . Scholl will der Schriftstellerin Ursula Krechel davon berichten, wenn er sie demnächst bei der Akademie der Wissenschaft und Künste in Berlin treffen wird. Soviel zum Rahmen ihres Wohnsitzes. Nun aber zur musikalischen Herausforderung der beiden unterschiedlichen Musiker.

Tamar Halperin schätzt das Leben in Kiedrich; Foto: Petra Kammann

Im Unterschied zu seiner Frau, deren pianistisches Pensum bei täglich vier bis fünf Stunden liegt, spielt das tägliche Üben der Stimme bei dem Sänger eine weitaus geringere Rolle. Die Herausforderungen liegen für ihn woanders, beim Auftritt im Konzert selbst und bei den „Erwartungen, die man an sich selbst hat, wo man vermeintlich Publikum zu spüren glaubt, denn alles was man tut, wird bewertet. Da quält sich jeder mehr oder weniger, aber auch in der extremen Form der Unregelmäßigkeit. Die Schwierigkeit liegt für uns Sänger eher darin, in einem Marathon ohne Ziellinie eine Balance zu finden. Hinzukommt, dass man sich immer wieder selbst motivieren und begeistern muss, weiterzumachen, auch, wenn man nicht weiß, wo das Ende der Zielgeraden liegt.“ Natürlich ist das präsente Publikum jeweils ein hohes Stimulans.

Seit fast 30 Jahren ist Scholl auf den großen Bühnen unterwegs und hatte allen Erfolg, den ein Sänger haben kann. Nun ist er nach Monaten des Lock Down von seinem ersten Konzert aus Krakau zurückgekehrt, wo er im Krakauer Sanktuarium, einer Art zweitem Rom, das Lieblingslied von Johannes Paul II. auf Polnisch gesungen hat. Normalerweise passen dort 2000 Leute in den großen Saal, unter Corona-Bedingungen waren aber nur 400 zugelassen. Natürlich leidet Scholl unter dem derzeit abwesenden Publikum. Dass es bald wieder anders sein könnte, ist auch in naher Zukunft noch nicht absehbar.

Der Erfolg hat ihn nicht abgestumpft und er stellt sich unaufhörlich Fragen: „Wann höre ich auf? Ich will so lange singen, wie es geht. Ich habe eine Ziellinie, und weiß, bis dahin muss ich durchhalten. Ich laufe immer weiter und muss so lange laufen, wie es geht.“ Ebenso wichtig wie die sängerische Karriere ist für ihn aber auch das Leben selbst. „Natürlich müssen wir auch leben, um vom Leben erzählen zu können. Der Musiker, der nur noch für seinen Beruf lebt, der hat nichts mehr zu erzählen, wenn er nicht ab und zu auch mal mit seinen Freunden eine Wurst grillt, Streit und Versöhnung und manche Dramen des Alltags erlebt. Auch davon kündet die Musik. Das Leben ist für ihn „food for music“ sagte er neben seiner Frau, mit der er meist Englisch spricht.

„Die musikalische Kommunikation ist immer ein Mysterium“

Ob es für ihn einen Unterschied gibt, wenn er als Sänger in einer Passion auftritt oder in einer Oper wie zuletzt in der Frankfurter Oper in „Rodelinda“ von Händel, will ich wissen.

Andreas Scholl hat noch eine halbe Professorenstelle am Mozarteum in Salzburg, Foto: Uwe Kammann

Für ihn seien es zwar verschiedene Genres, aber die Fragen, die er sich stellen müsse, seien für ihn die gleichen, lediglich die Antworten seien andere. Sein Gesangslehrer, Richard Lewitt, habe ihm mal gesagt: „You are not a singer you are a singing actor.” („Du bist nicht nur ein Sänger, sondern auch ein singender Schauspieler“). Und das müsse man eben auch in einer „Johannespassion“ sein. Wenn alle Jünger Jesus verlassen, und die Sopranistin singt: Ich folge Dir gleichfalls mit freudigen Schritten, dann singt sie das stellvertretend für alle Anwesenden und will damit sagen: ,Lass‘ mich nicht los. Zieh mich mit dir.‘ Wer einen solchen Satz stellvertretend singt, weiß, dass am Ende auch das Kreuz auf ihn wartet. Und das muss man spielen, spüren und authentisch rüberbringen.“

Natürlich ist die Interaktion und Bewegung in der Oper doch, allein schon des Bühnengeschehens wegen, eine andere, entgegne ich. „Ja schon, aber in der Oper hat man einen Regisseur, der einem sagt: Du sollst das, was Dir mitgeteilt wurde, was Dich in Angst und Schrecken versetzt, darstellen, während man im Oratorium selbst herausfinden muss, wie Bach es gemeint haben könnte. Das kann man natürlich auf unterschiedliche Weise interpretieren und auf verschiedene Weise das Publikum überzeugen. Es hängt mit der Sängerpersönlichkeit zusammen.“

Ob nicht auch speziell für den Sänger die Verletzbarkeit in emotionalen Momenten eine Rolle spiele, will ich von ihm wissen. „Ich bin der Geschichtenerzähler und muss mir dessen bewusst sein, dass ich zur emotionalen Bewegung des Publikums beitrage, wenn ich singe, gleich ob es weinen oder lachen soll. Das ist meine Aufgabe als Vermittler, was nicht heißt, dass ich mich innerlich distanziere. Was aber durchaus vorkommen kann, sind Momente, in denen man vor Glück weinen könnte, wenn man eine Arie singt und man sieht, wie dabei die liebsten Musikfreunde mitschwingen.“

Andreas Scholl; „Erbarme dich“ aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach

Liegt darin nicht auch eine Gefahr, in solchen Momenten loszulassen, weil einem dann das Publikum entgleitet? „Mein Gesangslehrer sagte kurz vor seinem Tod: Versuch nichts auszudrücken, sondern in einen Zustand zu kommen, in dem man keine Ambitionen hat und nichts mehr ausdrücken will. Und dann ist es manchmal so ein Spiel, dass man am liebsten vor Glück weinen möchte, es aber nicht zulassen darf, damit es nicht über eine gewisse Grenze geht. Und manchmal kommt es beim Publikum auch gar nicht so stark an, wie man glaubt. Umgekehrt gibt es Momente, in denen ich mich gar nicht so stark mit der Musik verbunden fühle, das Publikum aber zu Tränen gerührt ist. Die musikalische Kommunikation ist immer eine Gratwanderung und ein Mysterium. Ob etwas mit mehr Ambition und noch mehr Ideen funktioniert, ist keine Garantie dafür, dass man das Publikum überzeugt. Das Publikum spürt, wenn einer zu viel will. Es gibt also durchaus den Oper- oder Bühnenaffekt, der von der Reinheit der Emotion ablenkt. Da wird dann zwar etwas zur Kunst, reflektiert aber das Leben nicht. Erst, wenn ich etwas so spiele, wie es Menschen aus dem richtigen Leben kennen, beginnt eine erfolgreiche Kommunikation.“

Spielt die Höhe seiner Stimme dabei auch eine wichtige Rolle? „Sicher, manche lachen auch beim Gesang des Countertenors. Und man sieht es ihnen an, was sie denken: Was macht der Typ, warum muss der so hoch singen? Dann schaut man einfach nicht mehr ins Publikum und versenkt sich mehr in sich. Man muss sich von den Gedanken, die einem im Kopf herumgehen, befreien. Körperliches Unwohlsein oder Persönliches, das einen beschäftigt, weil man sich gerade kurz vor dem Auftritt im Streit am Telefon getrennt hat, kann dann keine Rolle mehr spielen, man darf einfach nicht mehr daran denken. Man muss auf der Bühne frei sein und kann nur dem Publikum zu verstehen geben: ich bin jetzt ganz für Euch da. Das ist immer ein Kraftakt.“

Detail aus der Ticketkollektion der Konzerte und Konzertreisen, welche die beiden nach Australien, Korea, Singapur, in die USA, nach Kolumbien, Brasilien, Kanada, Moskau und etliche andere Orte führten; Foto: Uwe Kammann

Zwangsläufig gibt es viele Momente, die ein Live-Erlebnis beeinträchtigen können, wenn der Sänger nicht disponiert ist, denn sein Instrument ist nun mal die verletzbare Stimme. Im Hals kratzt es, der Sänger wird vom Bühnenlicht geblendet, er spürt den Luftzug von der Klimaanlage, um nur einige Beispiele zu nennen. Da ist sehr viel Disziplin und Kraft gefragt. So kommt es, dass Andreas Scholl auf Konzertreisen häufig wie ein Mönch lebt, abends allein auf seinem Hotelzimmer isst, nicht viel redet und am Konzerttag den ganzen Tag im Zimmer bleibt, ab und zu ein bisschen Emser Sohle inhaliert, nur damit die Stimmbänder immer gut befeuchtet sind.

Einmal wurde wegen seines hohen Fiebers eine ganze Tournee der Accademia Bizantina kurzfristig abgesagt. Das Orchester hatte ob der Tatsache ganze 5 Konzerte als Einkommen verloren. Da lastet schon eine große Verantwortung auf dem Sänger. „Sich dessen bewusst zu sein, dass, wenn ich nicht singe, meine Freunde ohne Arbeit sind, ist ein Alptraum. Daher trage ich seit vielen Jahren und lange vor Corona schon im Flieger die Maske. Auch versuche ich, bei Langstreckenflügen möglichst, immer schon eine Woche vor Ort zu sein, um erst gar nicht in eine solche Situation zu geraten.“

Andreas Scholl begeisterte sich schon als 17-jähriger für die Technik von Tonstudios; Foto:Petra Kammann

Die Pandemie, der Verweis auf den kompletten Ruheraum, war für den Sänger ebenso wie für seine Frau, die Cembalistin und Pianistin, dann ein ziemlicher Absturz. Und das nicht nur aus finanziellen Gründen, weil etliche Konzerte abgesagt wurden. „Uns wurde dadurch ein Teil unserer Persönlichkeit genommen. Denn das kollektive Erleben ist Teil unserer Arbeit. Wenn einem das fehlt, so ist das für die Seelenbalance überhaupt nicht gut. Wir vermissen vor allem auch den Austausch mit Kollegen, von ihnen stimuliert und herausgefordert zu werden, vor allem, mit besseren Leuten zu musizieren, als man selbst es ist. Nur so kann man sich weiterentwickeln. Und das gemeinsame Erleben von Musik ist etwas ganz Zentrales.“ Gerne hätten die beiden ihrer musikalischen Tochter in dieser Phase den ersten Geigenunterricht ermöglicht. Natürlich fehlte auch Alma die Stimulation und die Auseinandersetzung mit anderen Kindern.

Beide Musiker sehen, wie stark derzeit der Kultursektor unter Druck steht. „Ich hoffe, jetzt noch im September Konzerte geben zu können. Es ist ein Pokerspiel: Wer springt als nächstes ab? Und vielleicht gibt es doch gar keine 2. Welle. Und dann sind im September oder Oktober die Säle plötzlich wieder offen. Die Veranstalter müssen die Säle auf jeden Fall füllen, die Programmzusammenstellung wird bis zum Schluss offen gehalten. Das gilt auch für das für die Region so systemrelevante Rheingau Musik Festival, an dem nicht nur die Musiker, sondern auch Gastronomen und Hoteliers hängen. Da sorgen schon uneigennützig Musiker mit ihren kostenlosen Internet-Konzerten dafür, dass wenigstens das System erhalten bleiben kann, weil sie wollen, dass es das Festival auch in Zukunft gibt.

Tamar Halperin übt täglich um die 5 Stunden im Tonstudio; Foto: Petra Kammann

Tamar Halperin hätte in dieser Zeit mit ihrem Satie-Programm zum Beispiel einen Klavierabend in der Elbphilharmonie gehabt, die abgesagt wurde. Sie hatte sich mit ihrer letzten CD einer zeitgemäßen Interpretation von Erik Satie gewidmet. So wurden die Highlights aus dem Programm im hauseigenen Tonstudio mit Video aufgenommen und für die Menschen gepostet, die das Konzert nicht wahrnehmen konnten. Neben dem Flügel, dem Cembalo und dem Klavier stehen inzwischen vier Kameras, ein Video-Mischpult bereit, und ein Streaming-Programm ist installiert.

Tamar Halperin spielt Timeline Satie, da isoliert sie die Stimmen von Klavierstücken Erik Saties und setzt sie neu zusammen

Natürlich ist die Art des Musizierens im Studio eine andere. Hier kann Tamar die Arbeit mit verschiedenen Klavieren, mit den im Ansatz so unterschiedlichen Instrumenten wie Cembalo und Klavier ausprobieren, denen man sich mental auch anders annähern muss. „Aus meiner Sicht sind das zwei komplett verschiedene Instrumente, so sei das „Wohltemperierte Klavier“ sehr komfortabel auf dem Cembalo zu spielen wie auch andere frühe Werke. Beim italienischen Barock fange es an, schwierig zu werden. „Früher habe ich das oft im Konzert gemischt, finde es aber immer schwieriger.“

Halperin zieht sportliche Vergleiche heran, um den unterschiedlichen Effekt der Instrumente zu erläutern: „Es ist ein bisschen wie der Unterschied zwischen Tennis und Pingpong. Wenn man ein World championship spielen will, dann reicht Pingpong allein nicht aus. Morgens spielt man Pingpong und abends Tennis. Wenn man dann gut in der Sache drin ist, ist es sehr schwierig zurückzukehren. Wenn man vom Klavier zum Cembalo zurückkommt, fühlt man sich wie ein Elefant, weil Cembalo viel feiner ist, einen anderen Anschlag hat. Aber beide Instrumente öffnen das Ohr für etwas anderes.“

Wie sie es denn empfindet, wenn zum Instrument zusätzlich eine Sängerstimme dazukommt, frage ich sie. Auch hier vergleicht die frühere Tennisspielerin das Phänomen mit einer Sportart: „Ich möchte diesen Vorgang mit einem Surf-Erlebnis vergleichen. Wenn ich auf dem Klavier Gesang begleite, dann verwende ich meine Energie darauf, mich der Wucht der herankommenden Welle, der Präsenz der Stimme, anzupassen, um darauf zu reiten. Wenn ich unabhängig zum Beispiel ein Klavierkonzert spiele, dann muss ich selbst die Welle erzeugen. Dann stoßen die Kollegen oder das Orchester dazu.“

Diskutiert wird die Art der Musik jeweils bei den Proben. In der Zusammenarbeit mit Andreas Scholl ist es für Tamar Halperin eine ganz besondere Komplizenschaft, da sie sich sehr schnell auch musikalisch miteinander verständigen können, wo es bei Kollegen ständig vieler Erklärungen bedarf. „Das geht bei uns fast wie von selbst.“ Es begann in Basel mit dem Verständnis von Barockmusik, auf das sich Halperin spezialisiert hatte und das sie miteinander teilen.

Inzwischen wurde auch Pop und Folk Musik Teil ihrer gemeinsamen Empfindung und musikalischen Freundschaft. Da begeistert sich Scholl zum Beispiel für den Pop-Sänger Sting, den er für einen kreativen Musiker hält, der für ihn auf besondere Weise mit „seinem“ langjährigen Lautinisten Edin Karamasov, mit dem er seit über 25 Jahren zusammenarbeitet, Lieder von John Dowland neu interpretiert hat.

Die beiden verbindet auch eine 13-jährige musikalische Partnerschaft; Foto: Petra Kammann

Beide, Tamar und Andreas, finden es beglückend, dass sie auf eine 13-jährige musikalische Partnerschaft, eine geradezu  telepathische musikalische Kommunikation zurückgreifen können. Das ermöglicht ihnen, sich im Konzert Freiheiten zu nehmen, weil jeder von ihnen weiß, dass der andere mitzieht. So sind gemeinsame Konzertreisen für die beiden auch sehr angenehm. Nicht immer ist jeder von beiden in seiner besten Form. Manchmal ist es das Lampenfieber, dann mal ein körperliches Unwohlsein. Auch ist es wunderbar, wenn man nach dem Konzert noch gemeinsam etwas essen kann und sei es in einer Kebab-Bude, sagt Andreas Scholl.

Nicht zuletzt ist auch die unmittelbare Nachbereitung eines Konzerts, bei der einem soviel durch den Kopf geht, so wichtig. Gemeinsam und im Einverständnis lässt sich eine traumatisch erlebte Szene leichter überwinden, wenn man anschließend darüber sprechen kann. Aber das ganz besondere Erlebnis bleibt das gemeinsame Auf der Bühne stehen, „und dabei zu erfahren, dass wir einander vertrauen können. Das ist ein sehr schönes Gefühl“.

Mögen den beiden emphatischen Musikern in naher Zukunft doch wieder weitere gemeinsame Auftritte und Konzertreisen beschieden sein.

 

Zu den Personen

Tamar Halperin (* 1976 in Tel Aviv) Die Cembalistin, Pianistin und Dirigentin Halperin, die in Israel aufwuchs und zunächst eine Karriere als Tennisspielerin verfolgte, studierte Musik an der Universität von Tel Aviv; sie setzte ihre musikalische Ausbildung an der Schola Cantorum Basiliensis fort; an der Juilliard School of Music in New York City promovierte sie über Johann Sebastian Bach.

Mit einem Repertoire, das fünf Jahrhunderte umspannt, ist sie mit Solisten wie Laurence Cummings und Idan Raichel sowie Orchestern wie dem New York Philharmonic Orchestra und dem English Concert Baroque Orchestra in Europa, Nordamerika, Israel, Japan, Korea und Australien aufgetreten. Als Cembalistin und Dirigentin zugleich hat sie mit dem Podium Festival Orchestra, The English Concert und dem Cape Town String Exchange Ensemble zusammengearbeitet.

Neben der Barockmusik, die im Zentrum ihrer Arbeit steht, widmet sich Halperin auch dem zeitgenössischem Repertoire. In Zusammenarbeit mit dem Jazzpianisten Michael Wollny nahm sie das viel beachtete Album „Wunderkammer“ auf, das 2010 den ECHO als bestes Klavieralbum erhielt. Mit Jim McNeely und der hr-Bigband entstand das Album „Wunderkammer XXL.“ Mit ihrem Ehemann, dem Kontratenor Andreas Scholl, veröffentlichte sie 2012 das Album „Wanderer“ mit Liedern von Haydn, Mozart, Schubert und Brahms.

Auf ihrem Album Satie (2016) isoliert sie die Stimmen von Klavierstücken Erik Saties und setzt sie neu zusammen, interpretiert auf teils unterschiedlichen Tasteninstrumenten (neben dem Flügel und dem Cembalo auch auf Glockenspiel, Hammondorgel, Wurlitzer und einem Computer). Im Trio BachSpace fusioniert sie mit dem Geiger Etienne Abelin und dem Audiodesigner Tomek Kolczyński die Musik Bachs mit Samples, Loops und Klängen an der Schnittstelle von Barockmusik und Electronica.

Als Ergebnis einer deutsch-israelischen Familienbegegnung entstand 2018 The Family Songbook, das einen großen stilistischen Bogen von Liedern verschiedener Kulturkreise umfasst.

Andreas Scholl, (*1967 in Eltville am Rhein) einer der bekanntesten Countertenöre der Welt

Von 1987 bis 1993 studierte er bei Richard Levitt und René Jacobs an der Schola Cantorum Basiliensis, 1992 wurde er mit als Laureat des Conseil de l’Europe und der Fondation Claude Nicolas Ledoux ausgezeichnet; darüber hinaus erhielt er Preise von der Ernst Göhner Stiftung und der Association Migros. Scholl lehrte Gesang an der Schola Cantorum Basiliensis. Zu seinen Schülern zählte Patrick Van Goethem.

Den Julius Cäsar in Händels Oper als eine seiner Paraderollen sang er unter anderem 2010 in der Salle Pleyel in Paris und 2012 bei den Salzburger Festspielen mit Cecilia Bartoli an seiner Seite.

Seit Oktober 2019 ist er Professor für Gesang am Mozarteum in Salzburg. 

Seit 2012 ist er mit der israelischen Pianistin und Cembalistin Tamar Halperin verheiratet.

Er trat mehrfach auf dem Rheingau Musik Festival auf. Und an der Oper Frankfurt war er  als Bertarido in Händels „Rodelinda“ zu hören, einer viel umjubelten Inszenierung von Claus Guth, dirigiert von Andrea Marcon

Auszeichnungen

1996: Baroque Vocal Prize bei den Grammophone Awards

1999: Prix de l’Union de la Presse Musicale Belge

1999: Echo – „Klassik Echo“ als bester Nachwuchskünstler des Jahres

2001: Edison Award der Niederlande

2002: Edison Award der Niederlande

2004: Vierteljahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik 1/2004

2005: Echo – „Klassik ohne Grenzen“ für eine eigene Komposition (Projekt mit Wolfgang Joop)

2006: Singer of the Year der UK Classical BRIT Awards

2009: Europäischer Solistenpreis

2015: Rheingau Musikpreis des Rheingau Musik Festivals

2016: Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz

2016: Hessischer Kulturpreis (zusammen mit seiner Ehefrau Tamar Halperin)

 

 

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