100. Geburtstag 2020 von Marcel Reich-Ranicki: Erinnerung an einen großen Abend in Köln
Das Leben, die Literatur und der Film
Berührende Filmpremiere der Verfilmung der Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki, „Mein Leben“, im Kölner Cinenova 2009.
von Petra Kammann
(damals …IN RHEINKULTUR)
Und am Ende ein kleiner Nachtrag über ein Gespräch zwischen der Literaturkritikerin Ina Hartwig und Salomon Korn, langjähriger Freund und Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde, im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum, über Literaturkritik allgemein und über den Literaturkritiker Reich-Ranicki im besonderen
Hier der der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 2009 bei der Premiere mit Matthias Schweighöfer, der ihn als jungen Mann und Katharina Schüttler, die seine Frau Tosia spielt, Foto: Petra Kammann
Applaus für den Kritiker und Verneigung vor dem Leben von MRR in Köln, Foto: Petra Kammann
Transkription des Artikels oben:
DAS LEBEN
DIE LITERATUR UND
DER FILM
Fabelhaft! Marcel Reich-Ranickis Autobiographie
in der gelungenen Verfilmung mit hervorragenden Schauspielern
von Dror Zahavi ist am
- und 15. April auf ARTE und ARD zu sehen
Bei der Premiere in Köln: großer Bahnhof. Vom
Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-
Brockhoff über den Geschäftsführer der Filmstiftung
NRW, Michael Schmid-Ospach, bis
zur WDR-Programmdirektorin Verena Kulenkampff.
Und auch Heinrich Breloer, Schöpfer
des großen Kinoerfolgs „Buddenbrooks“, erwies seine
Referenz. Alle wollten sie bei dieser Premiere des
Films dabei sein, der den schlichten Titel trägt: „Marcel
Reich-Ranicki: Mein Leben“ – und dabei natürlich
dem Autor selbst die Ehre geben.
Kann man solch’ eine Reflexion über das eigene Leben
in einen Film umwandeln, lassen sich die Worte, die
doch zugleich beschreiben und analysieren und kommentieren,
und – dies vor allem – dem auf sein eigenes
Leben zurückblickenden Autor wesensverwandt
F I L M
48 …in R(h)einkultur | 1/2009
FOTOS: WDR THOMAS KIST, DIRK PLABÖCK / PETRA KAMMANN
sind, in Bilder fassen, gar zu einer Bilderfolge werden?
Der WDR ging das Wagnis ein, mit tatkräftiger Unterstützung
auch der Filmstiftung NRW und des Kultursenders
ARTE, um daraus ein Ereignis für die ARD zu
machen. Für den Fernsehfilmchef des WDR, Gebhard
Henke, der bei der FAZ für Reich-Ranicki schrieb, ist
das Experiment der medialen Anverwandlung mehr
als gelungen – ein Urteil, dem die Premierengäste im
Kölner Cinenova Arthouse-Center mit viel Beifall zustimmten.
Die Erfolgsfaktoren? Da ist zunächst der Autor Michael
Gutmann, der die 500 Seiten der Autobiographie in
ein kongeniales Drehbuch verwandelt hat. Das ist der
Regisseur Dror Zahavi, der, „mit brennendem Herzen,
besonnener Klugheit und phantastischen Schauspielern
einen großartigen Film“ geschaffen hat, so Henke.
Und, da sind die Produzentin Katharina Trebitsch
und Benjamin Benedict, die in enger Zusammenarbeit
mit der verantwortlichen WDR-Redakteurin Barbara
Buhl das stete Gespür für das subtile Zusammenspiel
hatten, das ein Film erfordert – ein in sich kompliziertes
Teamwork, das die besten Energien vieler
Beteiligter zusammenbringen muss, wo der Buchautor
am Schreibtisch ganz mit sich alleine ist.
Was, ja was wäre gewesen, wenn Marcel Reich-Ranicki
diesen Film – ganz wie bei der Zurückweisung des
Deutschen Fernsehpreises im vergangenen Herbst –
„nicht angenommen“ hätte, wie Michael Schmid-
Ospach launig auf diese unvergessene und viel zitierte
Aktion anspielte? Auch der Kulturstaatssekretär
kam übrigens darauf zurück, gleichsam mit doppeltem
Ausrufezeichen die MRR-Verurteilung des Fernsehens
(„alles Blödsinn“) unterstützend: „Ich teile Ihre
Auffassung vollinhaltlich“. Was den Geschäftsführer
der Filmstiftung natürlich nicht daran hinderte,
ein Fernsehen zu loben, das eben auch Filme wie diesen
ermöglicht und hervorbringt, dass damit auch Teil
einer Kultur ist, die Nachdenklichkeit kennt und fördert
und nicht, wie es viele vorschnell festschreiben,
fortlaufend der seichten Unterhaltung huldigt.
Das Fernsehen ist tatsächlich zu großen Leistungen
imstande, auch solchen, wie sie den Beifall von Marcel
Reich-Ranicki finden würden, wenn er denn mehr übrig
hätte für jene Welt außerhalb der Bücher. Wobei,
nebenbei erinnert, er ja als schneidig-polternder Kritiker-
Dompteur im unvergessenen „Literarischen Quartett“
des ZDF durchaus dem medialen Affen Zucker
gegeben hat, und er sich dem Fernsehen auch sonst
nicht verweigert hat: Das zeigten beispielsweise auch
seine Aufgeschlossenheit und seine Zusammenarbeit,
als Lutz Hachmeister und Gerd Scobel vor drei Jahren
das MRR-Leben in einem differenzierten Dokumentarfilm
über ihn, „Ich Reich-Ranicki“, nachzeichneten.
Hier, im Zahavi-Film, ist das Dokumentarische weitgehend
nur im Stoff angelegt – in fiktionaler Anverwandlung
der Lebenserinnerungen Reich-Ranickis.
Vielleicht das Erstaunlichste an dieser Verfilmung der
Biographie: die Art, wie Matthias Schweighöfer sich
diese Lebensgeschichte – die ja vor allem eine Geschichte
des Überlebens ist, ein persönlicher Triumph
(aber kein triumphaler) über die Nazi-Barbarei – in
seiner Darstellung zu eigen macht, wie glaubwürdig
er Reich-Ranicki verkörpert, ihm ein junges Gesicht
und eine eindringliche Stimme gibt.
In der Beschränkung auf die Jugendjahre liegt natürlich
ein dramaturgischer Kunstgriff. Denn auf diese
Weise verdichtet sich die Geschichte, die aus einer
Rahmenhandlung entwickelt wird: Vier Jahre nach
Kriegsende wird Marcel Reich-Ranicki, damals polnischer
Vizekonsul, von London aus nach Warschau geschickt,
wo ihm die herrschenden Kommunisten ideologische
Entfremdung vorwerfen, ihn im Gefängnis
verhören lassen und ihm die Parteimitgliedschaft entziehen.
Daraus lassen sich, auch mit dem klassischen
Mittel der Erzählstimme aus dem Off, die Linien der
Kinder- und Jugendjahre ziehen – mit der Leidenszeit
im Warschauer Ghetto, den Überlebensängsten im
Versteck, der Liebesgeschichte mit seiner Ehefrau Teofila
(Tosia), dem Übergang in die Nachkriegszeit.
Sehr dicht sind viele dieser Szenen, welche sinnlich
über Bilder und Worte verstehen lassen, was diesen
jungen Mann umtrieb, mit welcher Leidenschaft er die
Literatur zu seiner Welt machte, so intensiv, wie es
vielleicht kein anderer Kritiker je getan hat. Unterdrückung
in den jungen Jahren seines realen Lebens,
das ihn – den 1920 geborenen polnischen- Juden, der
KÖLN: EIN BLITZGEWITTER
Marcel Reich-Ranicki wurde bei seiner Ankunft in Köln von
Journalisten und Bildreportern bestürmt.
Barbara Feiereis (WDR) begleitete ihn zur Veranstaltung
in Berlin zur Schule ging, dort eigentlich Theaterkritiker
werden wollte, dann jedoch nach Polen deportiert
wurde, ab 1940 dann die schrecklichen Verhältnisse
des Warschauer Ghettos erleben musste -, prägte. Freiheit
dann im souveränen Ausmessen des Reiches der
Literatur: ein ungeheurer Bogen. Ein Bogen, der selbst
unermesslich scheint. Aber Gutmann als Autor und
Zahavi als Regisseur schaffen es, all diese Momente
der stets existentiellen Unbdedingtheit situativ zu verdeutlichen
und in die richtigen Bilder umzusetzen.
Wobei nicht nur Matthias Schweighöfer als Marcel
Reich-Ranicki und Katharina Schüttler als Ehefrau Tosia
diese Lebensphasen überzeugend darstellen, sondern
auch die weiteren Darsteller die menschlichen
Konstellationen sehr glaubhaft machen – von Vater
(Joachim Król) und Mutter (Maja Maranow) bis zum
verhörenden Kommissar (Kriytsof Kawalerowicz).
So lässt der Film die entscheidenden Jahre einer außergewöhnlichen
Lebens- und Liebesgeschichte anschaulich
und lebendig werden. Und damit lässt er
verstehen und nachempfinden, unter welchen Umständen
eine Karriere ihren Anfang genommen hat,
die tatsächlich einmalig ist in ihrer Ausprägung: aus
dem Ghetto entkommend zum medial hochpräsenten
Literatur-Papst“ zu werden, wie es als Bezeichnung
üblich wurde: brillant in der Rhetorik, leidenschaftlich,
streitbar, einflussreich in den Institutionen – so
als vorwärtstreibender Literaturchef der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung – und ebenso einflussreich
durch seine zahlreichen Auftritte als Einsprecher, ein
Vermittler, ein Groß-Kritiker, eine Instanz des öffentlichen
Lebens.
Und er, der große MRR, was sagte er nach der Premiere
in Köln (intern soll er nach der ersten Vorführungdas
Ergebnis als „fabelhaft“ beurteilt haben) ganz
schlicht: „Ich kann nichts sagen. Ich kann nur danken,
danken allen, die hier mitgewirkt haben. Ich danke
euch allen.“ Ein großer Abend. Petra Kammann
DEPORTATION UND FLUCHT
Marcel und Tosia gelingt die Flucht vor der Deportation.
Ein Schriftsetzer (gespielt von Sven Pippig) versteckt die beiden
in seinem Keller, wo sie tagsüber ausharren
…in R(h)einkultur | 1/2009 5 1
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Ein kleiner Nachtrag: „Meine Heimat ist die Literatur“
Dieses Zitat von Marcel Reich-Ranicki ist auf einer Gedenktafel vor dem ehemaligen Wohnhaus des Literaturkritikers und seiner Frau Teofila in der Gustav-Freytag-Straße 36 verewigt, wo das Ehepaar von 1974 bis zu seinem Tode lebte. Das Thema, welches mit dem Zitat verbunden ist, stand auch im Mittelpunkt eines sachlich sehr interessanten Gesprächs im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum zwischen Salomon Korn und Ina Hartwig über ihre Erfahrung mit Marcel Reich-Ranicki als Literaturkrikerin.
Währenddessen erinnerte ich mich an einen bewegenden Moment, als Reich-Ranickis Sohn Andrew noch zur Einweihung dieser Ehrenplakette vor seiner Frankfurter Wohnung kam. Leider gibt es den warmherzig klugen Wissenschaftler auch nicht mehr. Die Familie war dazu eigens aus England angereist. Auch hier waren Ina Hartwig und Salomon Korn präsent. So schloss sich ein wenig der Kreis.
↑ Die Kulturdezernentin und Literaturkritikerin Ina Hartwig (li) würdigte auch damals den wortgewaltigen und streitbaren Kritiker; hier mit Andrew Reich-Ranicki und Petra Roth bei der
Einweihung der Ehrenplakette in der Gutav-Freytag-Straße für Marcel Reich-Ranicki im Dezember 2016
↓ Salomon Korn (re), Der langjährige Freund und Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde, diskutierte 2020 im Gemeindezentrum mit Ina Hartwig, Fotos: Petra Kammann
Ina Hartwig hatte damals über ihren Besuch bei dem gefürchteten Literaturkritiker gesprochen. Im Gespräch mit Salomon Korn erläuterte sie ihre eigene Position, die theoretischer angelegt war, zollte dabei dem Kritiker MRR , der den Deutschen auf besondere Weise die deutsche Literatur nahebrachte, großen Respekt. Korn würdigte den wortgewaltigen und streitbaren Kritiker und den Menschen, der nicht nur in Frankfurt mit seiner Frau Teofila seine Wahlheimat fand, sondern auch von 1988 bis 1997 das Literaturforum aus dem Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum leitete.
Das Gespräch in der Jüdischen Gemeinde war angenehm differenziert. So wünschte man sich den / die / ein oder andere Zeitgenossen(in). Man muss nicht alles verherrlichen, um Position zu beziehen, man kann dem Gegenüber durchaus den nötigen Respekt entgegenbringen, auch wenn die Positionen nicht zwangsläufig die eigenen sind… Das von der Journalistin Shelly Kupferberg hervorragend moderierte Gespräch setzte einen Standard für mediale Auseinandersetzung.
Das sollte wirklich Schule machen… pk
Auch der Familienzusammenhalt der Reich-Ranickis ist/war vorbildlich