Ohne Eltern aus Nazideutschland vertrieben – Denkmal für die Kindertransporte in den Jahren 1938/1939 in Frankfurt geplant
„Danach kam nichts mehr. Kein Brief, kein Lebenszeichen.“
von Renate Feyerbacher
Es war vor über zwei Jahrzehnten, es könnte die Feier zur Gründung der DZ-Kunstsammlung gewesen sein, da bot ich einem älteren Ehepaar, das nachts um 23 Uhr im Regen nach Basel fahren wollte, mein Gastzimmer an. Es nahm an. Das Paar war wie ich auch Gast in der DZ-Bank, die eine der 1993 gegründeten Kunstsammlungen mit Schwerpunkt fotografisches Bild beherbergt. An dem Abend wurden Fotografien von internationalen Künstlern*innen präsentiert. Die Namen des Paares erfuhr ich erst später, per Telefon oder Brief, das weiß ich nicht mehr, denn das Paar war schon sehr früh nach Basel aufgebrochen. Ich wusste also nicht, wen ich beherbergt hatte.
Collage Buch-Prospekt Vera Isler-Leiner; Foto: Renate Feyerbacher
Es waren die international aktive Schweizer Künstlerin und Fotografin Vera Isler-Leiner (1931-2015) und ihr Mann, der Schweizer Literaturwissenschaftler und Journalist Manuel Isler.
1998 zeigte die Frankfurter Galerie Arte Gianni ihre eindrucksvollen großformatigen Porträtstudien berühmter Künstler. Faszinierend. Furore hatte Vera Isler-Leiner bereits mit dem Bildband „Schaut uns an“, Porträts von Menschen über 80, gemacht.
Die Künstlerin und ich, wir blieben in Kontakt, und 2000 wurde mir von ihrem Berliner Verlag ihre Autobiografie „Auch ich…“ zugeschickt.
Da erfuhr ich, dass Vera Isler-Leiner Kind jüdischer Eltern war. In Berlin geboren, wurde sie bereits 1936 – da war sie fünf – samt ihren Schwestern Adele, 11, und Judith, 9 Jahre alt, von ihren Eltern in die Schweiz geschickt. Die Eltern hatten sie aus Nazideutschland hierher gebracht. Geplant war die gemeinsame Emigration in die USA.
Die Eltern hatten die Visen bereits und warteten auf die Visen für die Kinder, ohne die sie nicht auswandern wollten. Bevor die Papiere da waren, wurden die Eltern nach Polen abgeschoben und 1942 wahrscheinlich im deutschen Vernichtungslager Belzec – im Osten von Polen, an der ukrainischen Grenze – ermordet. Dort hatten die Nazis innerhalb von zehn Monaten fast eine halbe Million Menschen vergast.
„Mir, als die Jüngste von uns Dreien, konnten meine Eltern die Liebe, die ich dringend brauchte, nicht mehr genügend lange zeigen, sie konnten sie mir schlicht nicht mehr geben. Liebe, die man braucht zum Leben, zum Überleben und auch, um sie später anderen geben zu können. [..] Ich frage mich manchmal: „Kann ich überhaupt richtig lieben? Ganz und total?| Ich glaube nicht. (Zitiert aus „Auch ich..“ S.87 /88)
Ab Sommer 1942 kam nichts mehr. „Kein Brief, kein Lebenszeichen.“
Familie Leiner hatte früh gehandelt, ihre Kinder in die Schweiz geschickt und so gerettet. Sehr viel mussten sie dafür zahlen. Viele andere jüdischen Familien suchten verzweifelt nach Exilländern, die bereit waren, ihre Kinder aufzunehmen. Kaum ein Land war jedoch dazu bereit. Fatal erinnert die damalige Situation an heute. 8000 Kinder, viele ohne Begleitung der Eltern, vegetieren in den Flüchtlingslager im südlichen Europa, weil die Länder Europas nicht bereit sind, sie aufzunehmen.
Spätestens seit der Pogromnacht im November 1938 wurde der Weltöffentlichkeit klar, was die jüdische Bevölkerung in Nazi-Deutschland zu erwarten hatte. Großbritannien war das Land, das innerhalb von acht Monaten 9.347 Kinder aufnahm. Die Eltern von etwa 60.000 Kindern und Jugendlichen bemühten sich um die Ausreise. Aber nur etwa 20.000 wurden durch sogenannte Kindertransporte, die Kinder und Jugendliche auch in die USA, in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, Schweden und die Schweiz brachten, gerettet.
Hilfe und Unterstützung kam in Frankfurt von mehreren jüdischen Einrichtungen, die mit dem Ausland korrespondierten, die Zusammenstellung und die Begleitung der Transporte organisierten und für die finanzielle Abwicklung sorgten. Oft musste eine Bürgschaft vorgelegt werden, um zum Transport zugelassen zu werden. Körperlich und geistig behinderte Kinder hatten keinerlei Chance. Auch die Ansprüche der Pflegefamilien musste berücksichtigt werden. Mädchen ab dem Alter von sieben Jahren waren gut zu vermitteln, aber Jungen ab zwölf hatten es schwer.
Die drei Mädchen der Leiner-Familie aus Berlin konnten zusammen bleiben, aber Geschwister anderer Familien aus Frankfurt und anderswo wurden oft getrennt. Eltern mussten nämlich entscheiden, welches Kind sie fort schicken. Viele der Kinder, die ins Ausland gelangten, sahen ihre Eltern nie wieder.
Entwurf für das Kinderdenkmal: „The Orphan Carousel“ von Yael Bartana, Visualisierung: Studio Yael Bartana
Nun soll in Frankfurt mit einem Denkmal an diese Kindertransporte erinnert werden. Die England-Transporte gingen von Frankfurt, Sammelpunkt für Süddeutschland, vom Hauptbahnhof aus. Um tränenreiche Abschiede zu verhindern, durften die Eltern nicht einmal mehr mit zum Bahnhof kommen.
Andere Städte wie zum Beispiel Berlin am Bahnhof Friedrichstraße und Hamburg Bahnhof Dammtor erinnern bereits an dieses unfassbare Geschehen. Die lebensgroßen Kinder- und Jugendlichenfiguren dort schuf der israelische Bildhauer Frank Meisler (1925-2018), der selbst durch einen Kindertransport aus Danzig gerettet wurde.
Zur neunköpfigen Jury des Denkmal-Wettbewerbs, an dem sich namhafte, internationale Künstler*innen beteiligten, gehörten unter anderem Kulturdezernentin Ina Hartwig, Franziska Nori, die Leiterin des Kunstvereins, sowie die Künstlerin und ehemalige Städel-Schülerin Tamara Grcic. Die Jury entschied sich für „The Orphan Carousel“ der israelischen, zeitweise in Berlin lebenden Künstlerin Yael Bartana.
Planungsdezernent Mike Josef und die Journalistin und Autorin Bärbel Schäfer, die Schutzherrin des Kindertransport-Denkmals, waren ebenfalls in die Entscheidung eingebunden.
Bärbel Schäfer am 12.2.2020; Foto: Renate Feyerbacher
„Wir haben hart gerungen, der Wettbewerb brachte ein breites Spektrum unterschiedlicher und künstlerisch sehr starker Entwürfe. Yael Bartana gelingt es in ihrem Beitrag, die komplexe Geschichte der Kindertransporte auf ein allgemein bekanntes Spielgerät herunter zu brechen.“ Die Jury überzeugte Bartanas Stringenz und Mut zur Reduktion.
„Das Karussell kann von den Passant*innen als solches in einer schwerfälligen Form verwendet werden, lässt sowohl eine reflektierte Annäherung als auch ein kindliches Erkunden zu und lädt zu einen permanenten Perspektivwechsel zwischen Gegenwart und Geschichte, Eltern und Kindern, Rettung, Verlust und Zivilisationsbruch ein“, begründet Franziska Nori, Vorsitzende der Jury, die Entscheidung.
Yael Bartana; Foto: Itai Neeman /Stadt Frankfurt
Yael Bartana, die ein beachtliches künstlerisches Schaffen aufweist, hat ein Spielgerät für die Kreuzung Gallusanlage / Kaiserstraße entworfen. Es beruht auf der Replik eines drehbaren Karussells aus den 30er Jahren. Der Blick kann von dort aus auf den Hauptbahnhof gerichtet werden.
Ich finde es großartig, dass das Karussell benutzt werden darf, allerdings dreht es sich sehr langsam. Kinder werden fragen, was es mit den Texten: „Auf Wiedersehen, Mutter“, „Auf Wiedersehn, Vater“, „Auf bald, mein Kind“ auf sich hat. Den Erwachsenen gibt es die Gelegenheit, den heutigen Kindern von dem Unfassbaren von 1938 /39 zu erzählen und so die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten..
„Das Kunstwerk ist auch ein Statement der Stadt, sich gegen den wachsenden Antisemitismus zu stellen und die Geschichte der Shoah im Rahmen des mahnenden Gedenkens in Frankfurt im Stadtbild zu verankern“, heißt es in einer Presseerklärung der Stadt.
Die heute in den USA lebende Lee Edwards, 1923 in Frankfurt geborene Liesel Carlebach, sie hatte das Glück, mit einem der letzten Kindertransporte nach England zu gelangen, sie hatte sich schon vor Jahren ein solches Denkmal in ihrer Heimatstadt gewünscht. Bleibt zu hoffen, dass sie es noch erleben wird.