„Kleine Fluchten“ vor Corona
Abwegige Entdeckungen auf historischen Wegen. Auf den Spuren der Siegfriedsage in Lorsch. Von Usci Hoffmann-Volz
Was tun, wenn Corona immer noch herrscht, Museen, Cafes, Läden und Restaurants zwar ein bisschen offen, aber eben auch nicht wirklich, weil sie keine sozialen Orte der Begegnung und Nähe sind und wenn man, wie ich, zur Gruppe der Gefährdeten gehört und nicht einmmal seine Enkel sehen darf, was dann? Am Anfang stand das Aufräumen, der Vorsatz, endlich den Keller auszumisten, all das, was man schon seit Jahren glaubte, tun zu müssen. Aber das Wetter war zu schön, wir gingen raus, weg von daheim.
Der Zufall führte Usci Hoffmann-Volz nach Lorsch, hier die Torhalle; Alle Fotos: Michael Volz
Nachdem wir die erste Woche Frankfurts leergefegte Straßen erlaufen, uns an klare blaue Himmel ohne Flugzeuge und Smog erfreut hatten, zog es uns, meinen Mann und mich, in die nähere Umgebung. Erst der Vilbeler Wald mit Bärlauch, dann der Vilbeler Wald in Bärlauchblüte, was ganz besonders hübsch war, dann Taunus, und schließlich die menschenleeren Weinberge des Rheingaus. Nach einigen wunderschönen Wanderungen kamen viele auf diese Idee… An einem Wochenende wurden Taunus und Rheingau dann gesperrt und wir sahen uns nolens volens nach neuen Zielen um.
Beim Aussortieren fiel mir wieder ein „Hessen sehen und erleben. Ein Mitmach- und Entdeckungsbuch vor allem für Kinder und Jugendliche“ in die Hände, herausgegeben vom Hessendienst der Staatskanzlei aus dem Jahr 1985.
Auf Seite 169 fand ich „Die Siegfriedstraße“, auf Seite 171 „Die Nibelungenstraße“. Siegfried und die Nibelungen sind aus der Schulzeit noch so ungefähr im Gedächtnis. Siegfried ist doch der mit dem Drachenblut und dem Lindenblatt. Die Nibelungen wiederum waren intrigant, verlogen, hinterhältig, machthungrig, und Hagen von Tronje hat Siegfried ermordet. Und das alles in Hessen?
Ja, und zwar im Odenwald. Beide Sagen starten in Worms. Von dort verlagert sich das dramatische Geschehen dann rasch in den südlichen Odenwald, beginnend in Lorsch, einer ehemaligen Kurpfalz, in deren Mitte die berühmte Tor- oder Königshalle steht, Eingang zu einem von Karl dem Großen 763 gegründeten Kloster, wo er im Jahre 800 zum Kaiser gekrönt wurde. Hier soll Siegfried übrigens auch begraben sein.
Weltkulturerbe in Lorsch, einer Stadt im Kreis Bergstraße – bekannt durch das Weltkulturerbe des Klosters Lorsch
Die Fahrt geht weiter durch wunderhübsche Dörfer und Landschaften. Alles ganz ruhig und friedlich. Kaum Menschen zu sehen. Man bleibt daheim, d.h. in nächster Umgebung.
Grasellenbogen ist unser zweiter und für Siegfried wichtigster Stopp. Denn hier befindet sich, hoch oben im Wald, der Siegfriedbrunnen, wo er gemeuchelt wurde. Bereits auf dem Parkplatz stößt man auf die erste von 10 Tafeln, die mit Wort und Bild in die Nibelungensage einführt. Schon nach 50 Metern geht’s dann rein in den ziemlich unwegsamen Wald und steil bergauf.
Gott sei Dank sind alle 100 Meter weitere Tafeln positioniert. Zeit und Muße, sich etwas zu erholen und wieder atmen zu können. Wir haben viel gelernt: über starke Frauen, über Brünhild, die Dänin, über Arroganz und Naivität, über Kriemhild, Siegfrieds Gattin und Stickerin des verhängnisvollen Kreuzes zwischen dessen Schulterblättern. Rachsucht, auch Kriemhild, und vor allem den hinterhältigsten Betrug, den von Hagen von Tronje. Und wiederum Kriemhild…
Irgendwann, mittendrin, gab’s eine Bank und eine Diskussion, wieso Brünhild, intelligent und stark, nicht gemerkt haben soll, dass sie gleichzeitig gegen einen schlappen sichtbaren und einen unschlagbaren unsichtbaren Helden kämpfte. Sie hat ihre Zweifel und hängt deshalb ihren neuen Gatten Gunther in der Hochzeitsnacht an einen Kleiderhaken, um dann in der zweiten Nacht im Dunkeln Siegfrieds Charme zu erliegen, im Glauben, es sei der schwache Gunther.
Allein die “verhornte Haut“ Siegfrieds, als Ergebnis seines Bades im Drachenblut, hätte ihr zu denken geben müssen. Ich hätte es vermutlich b,emerkt. Sie brauchte mehr als ein Jahrzehnt dazu. Ihr Wissen verdankt sie vor allem der Eitelkeit Kriemhilds.
Am Brunnen angekommen, Erleichterung. Das Wasser plätschert sanft, Tische und Bänke vorhanden, aber besetzt, mindestens vier weitere Tafeln. Jetzt weiß man wirklich fast alles und glaubt es beinah sogar, denn am Brunnen steht ein mittelalterliches Sühnekreuz, das ein Mörder oder dessen Familie am Ort der mörderischen Tat errichten musste, um Blutrache zu vermeiden. Hier also hat Hagen seinen Speer in Siegfrieds verwundbare Stelle mit dem von seiner Gattin gekennzeichneten und vom Lindenblatt verdeckten Kreuz gerammt?
Sollte Hagen allerdings das Sühnekreuz errichtet haben, so hat es in diesem Fall nichts genutzt. Am Ende waren alle tot, gemeuchelt von Kriemhild und ihrem Gefolge. Sie selber wurde von Dietrich von Bern erschlagen, nachdem sie ihren Bruder Gunther und Hagen persönlich erledigt hatte. Und ihr liebender Gatte Etzel oder Attila der Hunnenkönig, trägt ihren Leib in die brennende Burg und wird sogleich von herabstürzenden Balken erschlagen.
Das Himbächl-Viadukt, das nach Amorbach führt…
Die Siegfriedstraße endet schließlich im eher barocken, bayrischen Amorbach. Auf dem Weg dorthin kann man das Himbächel-Viadukt, eine 200 Meter langen und 42 Meter hohen Eisenbahnbrücke aus Sandstein, besuchen. Unter dem Berg, auf dem das Jagdschloss der Herren von Erbach-Fürstenau steht, verläuft der Krähberg-Tunnel, einer der längsten Eisenbahntunnel Deutschlands. Unterwegs trifft man auf Reste des Limes, römischer Villen, von Wachtürmen und Badehäusern.
Die Burgruine Wildenberg aus der Stauferzeit
Und dann, schon knapp hinter der bayrischen Grenze, die Burgruine Wildenberg, eine extrem große und gut erhaltenen, um 1200 erbauten Burgaus aus der Stauferzeit, von den Herren von Dürn, Schutzvögten des Klosters Amorbach. Wolfram von Eschenbach soll hier übrigens einen Teil des Parzifal geschrieben haben.
Viel Geschichte auf einmal… Abends waren wir erschöpft, denn auch Wildenberg ist nur via eines sehr steilen Waldweges erreichbar. Aber dennoch glücklich und gut gelaunt studierten wir anschließend bei einem Glas kühlen Wein noch mal das Entdeckungs- und Mitmachbuch „Hessen sehen und erleben“. Das taugt eben nicht nur für Kinder und Jugendliche…