„Participate NOW!“ – Kunstverein Eulengasse: Ein Ateliergespräch per Zoom mit Andrea Blumör
Andrea Blumörs Frauen-Porträt-Serie
Im Rahmen des Jahresprogramms „Participate Now!“ des Frankfurter Kunstvereins Eulengasse erläuterte die in Offenbach arbeitende Künstlerin Andrea Blumör in einem Zoom-Gespräch die Hintergründe zur Entstehung ihrer neuen Frauen-Porträt-Serie. Mit ihren Arbeiten wäre die Künstlerin eigentlich gerade auf der größten unabhängigen Kunstmesse Griechenlands in Athen unterwegs. Nun nimmt sie mit anderen Künstlern von Eulengasse auf der digitalen Plattform der Independent Art Fair Athen teil, die am 14. Mai eröffnet, Online-Meetings inklusive. Bericht über ein Zoom-Hintergrund-Gespräch, das im Vorfeld stattfand. Von Petra Kammann
Andrea Blumör ©, „Mary Farley“, alias Martha Farlee / Harley / Harvey, Tempera/Öl auf LW, 61 x 40 cm, 2018; Bildschirmfoto: Vládmir Combre de Sena
Was macht ein Kunstverein, wenn die Voraussetzungen für eine Ausstellung nicht mehr gegeben sind wie in Corona-Zeiten? Für die Eulengasse kommt hier das Jahresthema „Participate Now!“ gelegen. Flugs haben die quicken Ausstellungsmacher Harald Etzemüller und Vládmir Combre de Sena den Weg zu neuen Ufern und gemeinsam mit den Mitgliedern neue Formate der Kommunikation gesucht.
So haben die beiden Eulengassenverantwortlichen ein Zoomgespräch mit den beiden Künstlern und GesprächsleiterInnen Andrea Interschick und Daniel Scheffel entwickelt. Gedacht ist dieses neue Medium, „um Arbeiten der anderen Künstler von Eulengasse besser kennenzulernen, weiter zu entwickeln und untereinander zu kommunizieren“, so der Künstler Daniel Scheffel, einer der Initiatoren dieses Formats.
Die Zoom-Runde v.l.n.r.: Andrea Interschick, Vladimir Combre de Sena, Petra Kammann, Andrea Bumör, Harald Etzemüller, Daniel Scheffel
Andrea Interschick, die ihren Arbeitsraum im Atelier Frankfurt hat und außerdem an der Akademie für Malerei Berlin studiert, berichtet von den dortigen fruchtbaren Gruppenbildbesprechungen, die sie gerne auf die Veranstaltungen von Eulengasse übertragen würde, nämlich, die Arbeiten der anderen Künstler einzuschätzen, um das eigene Profil zu schärfen und durch ein Feedback mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen und darüberhinaus den Mitgliedern von Eulengasse eine gewisse Orientierung zu geben.
Wer kennt das nicht, dass man den eigenen Arbeiten gegenüber oft genug blind ist? Ein solches Zoom-Meeting kann gewissermaßen Coaching und Korrektiv zugleich sein, damit künstlerische Arbeiten auch sachgerecht bewertet werden, indem man seine Überlegungen und Urteile begründet. Davon profitieren alle. Denn anders als in Twitter-Kommentaren soll in solchen Hintergrundgesprächen um konstruktive Formulierungen gerungen werden, die den Künstlern einerseits Rückendeckung geben und ihnen die Chance bieten, Missverständnisse auszuräumen und ihren eigenen Weg konsequent weiterzuverfolgen.
Wichtig für ein solches Zoom-Meeting mit mehreren Teilnehmern ist eine gute Vorbereitung auf das Gespräch, für das zunächst einmal eine halbe Stunde vorgesehen ist (das jedenfalls ist die Gratis-Variante). Alle Gesprächsteilnehmer sollten gleichzeitig eingeloggt und startbereit sein, was bisweilen technische Probleme aufwirft, da die Datenübertragung gerade aus Atelierräumen oft nicht so reibungslos verläuft. Und dann geht es in medias res.
Es ist erst einmal ungewohnt – für mich war es allemal ein Experiment – , zu Menschen zu sprechen, die man nur auf dem Bildschirm vor sich sieht und deren Hintergrund man sich nur unvollkommen vorstellen kann. Alle GesprächsteilnehmerInnen sind ständig auf kleinen Fensterchen mit ihrem Gesicht im und mit ihrem Hintergrund präsent. Derjenige, der gerade spricht, wird groß herausgehoben. Alle stellen sich dann kurz und knapp vor. Im Gespräch mit mehreren sollte niemand dem anderen ins Wort fallen, wie es häufig in TV-Talkshow-Runden der Fall ist. Hier sollte man sich beispielsweise durch Handzeichen verständigen, bevor man sich zu Wort meldet, so die hilfreiche Ansage von Daniel Scheffel. Diesmal werden die neuen Arbeiten von Andrea Blumör vorgestellt, die sie jeweils einmal in die Kamera hält bzw. von ihrem Laptop hochlädt und einblendet.
Andrea Blumör gibt der „Geschichte von unten“ ein Gesicht – nein, gleich mehrere Gesichter
Die Künstlerin Andrea Blumör
Blumör erläutert zunächst einmal den Hintergrund zur Entstehung ihrer Porträt-Serie. Die so unterschiedlichen Frauen wirken ausgesprochen modern und selbstbewusst, sie zeigen ihr Gesicht auf einem fast monochromen Hintergrund und schauen einen direkt an. Dazu gehört ihre verblüffende Vorgeschichte. Blumör schildert, wie sie sich auf die Spurensuche von Frauen aus dem 18. Jahrhundert gemacht hat, die in den Geschichtsbüchern nicht vorkommen. Dazu hatte sie sich eigens intensiv mit der History from below, wie es in den USA heißt, auseinandergesetzt, welche den Blick auf die Geschichte aus der Sicht derer richtet, die nicht die Möglichkeit hatten, Geschichte zu schreiben.
Ausgehend von dem weit verbreiteten Namen Mary, dem wichtigsten Namen im England des 18. Jahrhunderts, hat Blumör sich daraufhin in Archiven umgesehen, Einsicht in Gerichtsakten, Versicherungspolicen und Zeitungsartikel genommen, um sich den Schicksalen dieser unbekannten Frauen des 18. Jahrhunderts anzunähern. Da das hohe Gericht in London seine Gerichtsakten gerade digitalisiert hatte, recherchierte sie unter dem Suchbegriff „Mary“ 1700 – 1799″ und sie wurde dort mehr als fündig. Sie stieß dabei auf 1.400 Frauen namens Mary und auf Frauenschicksale, die einander ähneln .
Ihre ursprüngliche Vermutung war, dass es sich vielleicht um Hausangestellte gehandelt haben könnten, die etwa wegen kleiner Diebstähle zum Beispiel verurteilt wurden, was aber nicht belegt war. Sie war überrascht, dass Frauen, die durch Kleinkriminalität auffällig geworden waren, in die Verbannung geschickt wurden und oft auch noch zusätzlich sieben Jahre Frondienste ableisten mussten. Diese Frauen, die sich häufig auch gegen Ungerechtigkeiten auflehnten, „hätten sich als verwandte Rebellinnen eigentlich treffen und kennenlernen können“, so Blumör. Und sie zeigt zunächst anhand der Viten von fünf dieser Frauen deren Schicksal auf, aus dem sie dann ihr gemaltes Porträt entwickelt hat, zum Beispiel:
Mary Farley alias Martha Farlee / Harley / Harvey
Andrea Blumör ©, „Mary Farley“, alias Martha Farlee / Harley / Harvey, Tempera/Öl auf LW, 61 x 40 cm, 2018
Die Künstlerin erläutert das Porträt der in Irland geborenen Mary Farley, alias Martha Farlee / Harley. Sie taucht in unterschiedlichen Versionen auf und wurde gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Province of Carolina/USA in die Verbannung geschickt. Innerhalb des ersten Jahres ihrer Zwangsarbeit gelang es ihnen, mit drei weiteren Gefangenen zu fliehen. Sie trafen dann auf John Vidal, einen Piraten, der zum Kapitän ernannt wurde. Gemeinsam kaperten sie ein kleines Schiff und segelten auf Flüssen und entlang der US-amerikanischen Küste. Ein Jahr später jedoch wurden sie gefasst und 1726 der Piraterie angeklagt. Zwei der Männer wurden gehängt. John Vidal wurde zwar verurteilt, aber später begnadigt. Marys Ehemann konnte fliehen und Mary wurde entlassen.
Mary Read
Andrea Blumör ©, „Mary Read“, Tempera/Öl auf LW, 61 x 40 cm, 2019
Mary Read wiederum ist im Umland von London geboren. Ihre Mutter hatte von ihrem Seefahrer-Ehemann einen Sohn, der im Kindesalter starb. In einer weiteren Schwangerschaft bekam sie ein Mädchen, während ihr Ehemann auf See blieb. So wuchs Mary zunächst als Junge auf, wurde später Seefahrer und Soldat in Flandern, wo sie in der Infanterie und Kavallerie kämpfte. Nach Kriegsende heuerte sie auf einem niederländischen Schiff an, das in die Karibik fuhr.
Als sie von Piraten gefangen genommen wurde, lief sie zu ihnen über. Als sich ihr Liebhaber einem Duell stellen musste, beleidigte sie den Herausforderer. Es kam zum Duell, sie ermordete den Mann und rettete so ihr eigenes und das Leben ihres Freundes. Kurz darauf traf Mary Read auf Anne Bonny und John Rackham. Sie stahlen ein Schiff in Nassau und rekrutierten eine neue Crew. Für einige Jahre waren sie auch die erfolgreichen Pirat*innen der Karibik.
Beide Frauen kämpften, als Männer (ver-)kleidet, als gleichrangige Mitglieder der Crew. Als 1720 überraschend ein Schiff des Gouverneurs von Jamaika sie angriff, waren die meisten Piraten zu betrunken, um zu kämpfen, nur einige, darunter Mary und Anne, kämpften erbittert weiter. Die Crew unterlag und wurde nach Jamaika gebracht, wo sie der Piraterie beschuldigt und im Hafen gehängt wurden. Mary und Anne, die angaben, schwanger zu sein, entgingen der Todesstrafe. Anne wurde später entlassen, während Mary im Gefängnis starb.
„Sarah“
Andrea Blumör ©, „Sarah“, Tempera/Öl auf LW, 61 x 40 cm, 2018
Sarah, im heutigen Nigeria geboren, wurde 1785 auf das Sklavenschiff „Hudibras“ aus Liverpool verschleppt. Vermutlich war sie eine Ibo-Prinzessin. „Sarah“ war der Name, der ihr vom Kapitän gegeben wurde, als er sie zu seiner Konkubine machte. Auf manchen Sklavenschiffen durften Frauen sich nämlich freier bewegen als ihre männlichen Mitgefangenen, welche die meiste Zeit in Ketten unter Deck lagen.
Sarah wurde in einem Aufstand auf dem Schiff zur wichtigsten Person, weil sie sich auf dem Schiff bestens auskannte. Dennoch: Der Aufstand missglückte. Doch konnte der Kapitän ihre Beteiligung nicht beweisen. Sie überlebte die Passage und wurde 1787 in Grenada als Sklavin verkauft.
Breffu
Andrea Blumör©, „Breffu“, Tempera/Öl auf LW, 61 x 40 cm, 2018
Breffu wiederum wurde in Akwamu im heutigen Ghana geboren. Sie selbst war eine Akwamu und gehörte damit zum Königshaus. Als Sklavin überlebte sie die Überfahrt auf die West Indies nach St. Jan, Danish West Indies, wo sie auf der Plantage von Pieter Krøyer als Sklavin auf einer Zuckerplantage arbeitete. Nach einem Signal vom Fort Frederickvaern ermordete sie die Plantagenbesitzer Krøyer und seine Ehefrau. Sie nahm die gesamte Munition mit und ermordete drei weitere Familienmitglieder des Plantagenbesitzers.
Zusammen mit anderen Akawamu bildete sie die Führung des Aufstandes. Nachdem alle Plantagenbesitzer ermordet oder geflohen waren, organisierte sie ein Leben nach dem Vorbild der Akwamu. Ein Jahr später, nachdem französische Truppen die dänischen unterstützten, wurde die Rebellion niedergeschlagen. Mit 23 weiteren Rebell*innen beging sie daraufhin 1734 im heutigen Antigua und Barbuda Selbstmord.
Adbaraya Toya
Andrea Blumör©, Adbaraya Toya,Tempera/Öl auf LW, 61 x 40 cm, 2019
Adbaraya Toya, auch Gran Toya und Victoria Montou, wurde in Dahomey in West-Afrika geboren. Adbaraya war eine Mino („our mothers“), eine Soldatin im weiblichen Regiment des Königreiches von Dahomey.
Sie wurde in die Sklaverei verkauft und überlebte die Überfahrt nach Saint-Domingue. In der Nachbarshütte gab es einen kleinen Jungen namens Jean-Jacques Dessalines, dem sie Selbstverteidigung und den Umgang mit Waffen beibrachte. Im Laufe der haitianischen Revolution wurde er der erste General unter Toussaint L´Ouverture und 1804 der erste Generalgouverneur der unabhängigen Republik Haiti. Dessalines nannte sie immer Gran Toya, Tante Toya. Adbaraya war Kommandantin während der Revolution und starb hochbetagt 1805 auf Saint Domingue (heute Haiti).
Übrigens war „Adbaraya Toya“ schon einmal in Berlin im Januar ausgestellt, wo es neben dem Text noch ein „Hand out“ gab: ein kleines Plastiktütchen mit verbranntem Tabak und einem kleinen Zettelchen mit dem folgenden Zitat: „Tain´t no fun, chile“, she told me. „But it´s a pow´ful lot o´easment. Smoke away trouble, darter. Blow ole trouble an´ worry ´way in smoke.“ Dieses Zitat stammt aus: Jacqueline Jones, Labor of Love, Labor of Sorrow – Black women, work and the family, from slavery to the present, basic books, NYC, 1985
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Die anschließende Diskussion rankte sich um das Thema Porträt und Selbstporträt. So war Andrea Interschick der Meinung, dass „ganz viel von der Person Andrea Blumör in den Arbeiten“ stecke, man sehe das politische Engagement der Künstlerin, die außerdem sehr viel in der Welt unterwegs war, unmittelbar den Bildern an. Außerdem seien die Frauen in der damaligen Zeit so eingebunden und gar nicht soweit von heute weg von den heutigen. Blumörs Einwand jedoch lautete zurecht, dass die von ihr porträtierten Frauen nicht etwa freiwillig unterwegs gewesen, seien, Mary Read einmal ausgenommen.
Harald Etzemüller wiederum betonte die Interdependenz dieser Werkserie, die, basierend auf echten Biographien, von der wechselseitigen Beschäftigung des gemalten Werks wie aus der niedergeschriebenen und interpretierten Geschichte entstanden seien. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, die erst später Texte zu ihren Werken passend formulieren würden, gehe das bei Blumör Hand in Hand. Blumör reist, beschäftigt sich mit dem Thema, mit der Geschichte, malt, kommt in so einen kreativen Kreislauf. Die bereits von Blumör formulierten Texte seien im übrigen eine wichtige Grundlage für die Präsenz auf der gerade anlaufenden Athener Online-Kunst gewesen, die wiederum Vlàdmir Combre de Sena grafisch sehr ansprechend gestaltet hat, und für die er von allen Gesprächsteilnehmern sehr gelobt wurde. Blumör bedankte sich für das Feedback zu ihren Arbeiten.
Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt
Mein Urteil: Solche Werkstattgespräche sind für die Künstler zweifellos wichtig. Den erläuternden Hintergrund von Seiten der Künstlerin fand ich in diesem Falle auch sehr hilfreich. Sie hat nicht nur die Geschichte intensiv recherchiert und abgebildet, sondern auch künstlerisch konzentriert umgesetzt. Wie stringent Andrea Blumör für die einzelnen Frauenschicksale des 18. Jahrhunderts die passenden modernen Gesichter gefunden hat, ist schlicht bemerkenswert!
Geschichte ist für die Künstlerin nichts Vergangenes, sondern ganz gegenwärtig. Das spürt man nicht zuletzt an der hohen Präsenz der jeweiligen Frauengesichter. Insgesamt sind im Laufe von zwei Jahren auf diese Weise 16 Arbeiten entstanden, in denen Blumör die Gesichter immer mehr zusammengesetzt und verdichtet hat, indem sie, zunächst einmal aufbauend auf einem Porträt, das sie im Internet vorfand, abmalte, und dann nach und nach verdichtete und ergänzte.
Vor allem Mary Read ist aus verschiedenen (Fahndungs-)Fotos auf der Leinwand entstanden. Aber auch andere Porträts haben nicht nur eine einzige Quelle, sondern sind Zusammensetzungen verschiedener Porträts. Der furchtlosen Mary Read hat sie eine zusätzliche Narbe ins Gesicht gemalt, einen „Schmiss“, der Marys Leben gezeichnet hat.
Technisch hat Blumör zudem auf eine raffinierte Grisaille-Technik zurückgegriffen, die vor 300 Jahren für Porträts üblich war, und sie hat Farben, bis auf die Hintergrundfarbe weggelassen, um sich auf das Wesentliche und die Tiefe des jeweiligen ausdrucksstarken Gesichts zu konzentrieren. Sie unterstreicht den Stolz und das Selbstbewusstsein dieser starken rebellischen Frauen, ohne deswegen in eine platte AgitProp-Malerei zu verfallen. So sind Züge der Gesichter ihrer Frauengestalten auch von Melancholie geprägt, die in einigen Fällen aus ihren in zwei verschiedene Richtung schauenden Augen oder aus einem desillusionierten, leeren Blick zum Ausdruck kommt.
Während Nanny aus Jamaica, die auf Geldscheinen oder auf Gedenkmünzen auftaucht, durchaus eine bekannte Persönlichkeit war, sind diese ausgesprochen starken Rebellinnen-Porträts von Andrea Blumör eben auch ästhetisch gelungene Bilder, für die es keine Vorlagen gab. Sie sind schlicht ihrer Phantasie entsprungen. Die sicher auch besondere Materialität und Haptik der herausragenden Porträts lässt sich gleichwohl auf der Online-Basis nur erahnen. Man würde sie gerne auch ganz real vor Augen und in Händen haben.
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