Kultur und Corona
Pandemie als Kulturereignis?
von Gunnar Schanno
Es gibt Sachbezeichnungen, die erschließen sich in ihrer Schlagkraft nur den Gegenwärtigen. Das im Kontext medizinisch-wissenschaftlicher Forschung gewählte Wort „Corona“ ist eine solche Benennung. Semantisch steht das Wort für Kranz. Im Fall des Corona war die kranzförmige Umfassung einer Virusart der Anlass für diese Namensgebung, die nun um die Welt geht, in alle Vokabulare Eingang gefunden hat, milliardenfach in den Netzwerken aufrufbar ist, Angst und Schrecken einhergehen lässt. Das Coronavirus ist eher populärer Sammelbegriff für eine aus Mutationen stammenden Virenfamilie, mit ihrem sich geradezu kriminell gebärdenden Familienmitglied, dem Covid-19, inzwischen erforscht, beschrieben in all seinen physio- bis psychologischen, ökonomischen bis politischen Auswirkungen. Es soll hier eine Überlegung sein, warum besagtes Coronavirus auch eine kulturelle Dimension hat…
Hafenpark hinter der EZB: Absperrungen sollen verhindern, dass die Kontaktsperre in freier Natur auch eingehalten wird, Foto: Petra Kammann
Das Virus ist ja nicht gänzlich aus der Art geschlagen. Es hatte sozusagen Brüder, von denen einer bereits mit destruktiver Energie um das Jahr 2003 über Grenzen hinweg aus seiner Entstehungsstätte nicht nur in benachbarte Regionen, sondern in die Welt ausbrach.
Da nun zum wiederholten Male die ganze Welt dabei ist, mit dem aggressiv-bösartigen Verwandten, namens Covid-19, ihre Erfahrungen zu machen, so fragt sich, warum sie, im Sinne der Weltgemeinschaft, nicht fragt nach den Bedingungen des Entstehens, der Genese, des Ursprungs, genauer: dies alles hinterfragt. Denn „die Welt“ kennt viele Antworten auf die Fragen nach dem Virus. Warum also stellt sie allein Fragen nach Gegenmaßnahmen, seine Arretierung, Festnahme, seine Fesselung bis zur erhofften Vernichtung und Unschädlichmachung, auch im Versuch, sich vor ihm bis zur Selbstauflösung in Sicherheit zu bringen? Zunächst freilich, weil nicht richtiger und wichtiger ist als den Sieg, über die kleinen wie zerstörerischen Übeltäter inmitten des menschlichen Organismus davonzutragen.
Täglich erfahren wir etwas über Ausbreitung des Corona-Virus aus dem Robert-Koch-Institut
Was aber hindert die mit dem Virus ringende Weltgemeinschaft daran, gegen die Verursachung zu wirken, Maßnahmen zu ergreifen, auf dass ein zur Pandemie ausgreifendes Virengebilde erst gar nicht einen Raum in der menschlichen Habitat, und schon gar nicht die Habitat von Rachen- und Lungenraum erobern kann? Ist es eine aus altem Kulturverständnis heraus zu verstehende Scheu davor, des Virus Entstehen und Mutieren ermöglichende Traditionen in fernen Regionen in Frage zu stellen? Ist es eine Art Akzeptanz gegenüber möglichen Entstehungsformen, die auch gewissermaßen ein über Jahrhunderte hin kulturbildendes Lebensgefühl bis heute verfestigt hat?
Aus der Not entstanden, haben sich, mit Blick auf ostasiatische Gesellschaften, Ernährungsformen erhalten, die auch ihren Reiz im sinnlichen Erleben, im Lebendigen, im Rohfleischlichen, im organisch Sensuellen zeigen, im Beziehungsrituellen zwischen Mensch und Tier zu erkennen sind. Will man gegen solcherlei Traditionshaltung erst gar nicht eine öffentlich gezeigte Vorwurfshaltung aufkommen lassen? Es muss nicht allein die Furcht vor ostasiatischer Machtentfaltung und ökonomischen Abhängigkeiten sein.
Es scheint auch im Traditionsbestand jener Gesellschaften, für eine Reihe von Nahrungsprodukten sozusagen die Lebendtier-Nahrungskette nicht in Schlachthöfen enden zu lassen, sondern beim Konsumenten, beim Käufer, beim Endverbraucher an der heimischen Herdstelle. Da mag auch die kulturspezifische Haltung hineinspielen, dass über eine Anzahl von fleischlichen Nahrungsmitteln vom ersten bis zum letzten Moment bestimmt werden kann, bis in die häusliche Stätte der Zubereitung zur Speise. Hüten wir uns, sogleich versteherisch zu rufen, das sei doch schließlich legitimer Teil der Tradition. Ja, das ist sie, so wie auch das Essen mit Stäbchen als kulturelle Besonderheit unterscheidet vom Essen mit Messer und Gabel. Doch sind diese unterschiedlichen Kulturmerkmale zu niemandes Schaden.
Die Apokalypse des Johannes von Albrecht Dürer (Albertina Wien)
Wir sprachen davon, dass zu den mächtigsten Ausprägungen der Kultur die Religion und die Kunst gehören, ganz allgemein auch Gestaltungsformen täglicher Lebensarten, die in langen Traditionen erfahrbar und sichtbar werden. So ist Nahrungsaufnahme seit Jägerzeiten nicht allein Akt der Lebenserhaltung mit zivilisatorisch-rational, technisch immer perfektionierteren Hilfsmethoden, sondern auch organisch-emotionales, rituelles Geschehen, des Zubereitens, des Speisens, ein Procedere weit über den Akt der reinen hungerstillenden Nahrungsaufnahme reichend.
Werden wir noch genauer: Es ist im touristischen Umfeld etwa von Asienreisenden zu hören, wie schauernd-schön es sei, durch Märkte geführt worden zu sein, das Treiben in den engen Händlerstraßen zu erleben zwischen Menschen und lebendem Getier, das krabbelnd, beißend, vielleicht blutend übereinander geschichtet für den Verkauf in ihren Behältern bereitgehalten wird. Nach alter Tradition ist es nicht selten Exotengetier, das für den menschlichen Verzehr lebend dargeboten wird. Alte Erfahrungen sind damit verbunden, allein das „lebend“ ermöglicht es ja, dass ein technisches „Kühlen“ oder sonstige Haltungsformen sich erübrigen, wie sie etwa Veterinärbestimmungen für deutsche Märkte vorschreiben.
In all den medienweiten Talkrunden bis zu tief in die Gesellschaft reichenden Gesprächsinhalte der Menschen ist die Coronakrise zum monothematischen Diskurs geworden. Da ist Einigkeit, dass es um nichts als die Maßnahmen für eine Beendigung der Bedrohung geht. Was aber ist aus dem Diskurs zusätzlich zu hören? Es ist eine eigentümliche Haltung in Akzeptanz, die eine festsitzende Vorstellung spiegelt von schicksalshaft hingenommenem Geschehen wiederkehrender Pandemien seit Heuschreckenplage, Pestepidemien, Spanischen Grippen, letztlich auch der Vorgängerpandemie unter damaliger Benennung als Sars-Virus, stammend aus jener Coronafamilie. Es waren Seuchen, die wie Gottesureile über die Menschheit kamen, wie unausweichliche Schicksalsschläge, wie unkontrollierbare, unabwendbare Folgen naturhaften Geschehens, das kulturprägend sich auch in der Kunst widerspiegelte.
Es gibt ein schönes Beispiel aus der Medizingeschichte, das in Analogie eine wunderbare Parallele herstellen könnte in der Metapher, die dafür geprägt wurde. Wie das Missgeschick bei Betreten eines virenhaltigen Raums dazu führt, mit der Corona-Atemwegserkrankung behaftet zu werden, so wurde einst von einer „maladie des champs maudits“ gesprochen. Gemeint war die auf Rinder- und Schafherden bezogene Erkrankung durch den Milzbranderreger, als sie auf jene „maudits“, also „verflucht“ genannten Champs, den Feldern oder Weiden, geführt wurden, unter denen die Bauern die unzählig vielen immerzu verendeten Tiere vergraben hatten. Louis Pasteur wurde gerufen, der den Zusammenhang herstellte, weil der Krankheitserreger nicht ausgerottet wurde durch das Verscharren der Tiere, sondern weiterlebte und an die Oberfläche gelangend die weidenden Herden wieder befallen konnte. Die Lage war klar. Es muss nicht berichtet werden, dass die Tradition des Vergrabens in die Champs maudits ihr Ende hatte.
Parks und öffentliche Orte sind derzeit nicht für größere Ansammlungen von Menschen zugängig, Foto: Petra Kammann
Wäre eine Verhaltensänderung, eine Umorganisierung in der Kette der Lebendtierhaltung, der Tiervermarktungskette eine Lösung? Wird man ermahnen, wünschen, kritisieren, fordern wollen und dürfen, dass in der Essens-, Produktions-, Zubereitungskultur, in alter Gewohnheit für unzählig viele Menschen eine Umstellung abverlangt werden könnte?
Irgendwie scheint, dass im öffentlichen Diskurs der auf globalisierte Vernetzung eingeschworenen Gesellschaft auch die altkulturelle Haltung verharrt, das Pandemische, wie es doch seit biblischen Schilderungen ein die Menschheit begleitendes Phänomen schon immer gab, für gegeben zu halten. Lebt noch der in alten Schriften geübte und in der Kunst visualisierte Vanitas-Gedanke fort, die Vergeblichkeit sich auch gegen Seuchen zu wehren? Es sind ja nicht die Seuchen selbst, der gegenüber Gegenwehr geübt wurde, es war das ungelöste Rätsel, das noch unaufgedeckte Geheimnis ihres Entstehens selbst. Und in heutiger Zeit lässt sich aus diesem wohl tiefsitzenden Kulturverständnis heraus durch die Bürgergesellschaft hindurch bis in Expertenkreise hinein noch immer hören, dass nach der Pandemie auch vor der Pandemie sei.