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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Viviane Goergen spielt Werke noch wenig bekannter Komponistinnen

Ein musikalischer Bogen von der Schweiz nach Paris

Von Erhard Metz

Von einem musikalischen Ereignis im Frankfurter Bechstein Centrum im vergangenen Monat gilt es heuer zu berichten, wobei die geneigte Leserschaft dem Chronisten die zeitliche Verzögerung nachsehen möge. Damen, die sich der Musik verschrieben haben, Komponistinnen des späten 19. und frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts, standen im Vordergrund dieses Ereignisses, welches einen musikalischen Bogen von der Schweiz nach Paris spannte. Die renommierte Konzertpianistin Viviane Goergen brachte eine Auswahl aus deren kompositorischem Schaffen einem gespannt lauschenden Publikum zu Gehör.

Viviane Goergen im Frankfurter Bechstein Centrum am mächtigen D-Flügel, dem „Flaggschiff“ des weltberühmten Hauses

Von der Schweiz nach Paris? Sehr wohl, zum einen, weil Viviane Goergen (mit der luxemburgischen) die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzt und ihr Konzert mit der Komposition einer gebürtigen Schweizerin begann, zum anderen, weil eben jene Komponistin in Paris zu Erfolg und Ansehen kam, wie auch die meisten der anderen Komponistinnen einen biografischen Bezug zu Paris oder zumindest zu Frankreich aufweisen. Und wegen dieses schweizerischen Bezugs begrüßte der Schweizer Generalkonsul in Frankfurt am Main, Dr. Urs Hammer, das Auditorium im bis auf den letzten Platz besetzten Saal und verwöhnte es zum Abschied mit einem Schluck Schweizer Wein und einem Kanten Schweizer Käse, beide vom Köstlichsten ihrer Art.

Es schien, dass Viviane Goergen, die mit einem Repertoire von Beethoven bis zu Komponisten der Gegenwart auf eine internationale Karriere als gefeierte Konzertpianistin zurückblicken kann, die vor der Königin der Niederlande und dem Kaiser von Japan musizierte, Trägerin des „Ordre du Mérite“ des Großherzogtums Luxemburg, sich nach den Strapazen des Konzertbetriebs auf das von ihr gegründete „Zentrum für Musik und Konstruktives Denken“ konzentrieren werde. In Seminaren und Einzelberatungen trainiert sie mit hochbegabten Solisten ein aus der Ruhe und Konzentration heraus freifließendes Musizieren, das diesen erlaubt, optimale musikalische und interpretatorische Leistungen vor dem Publikum oder einer Jury zu vollbringen. Darüber hinaus entwickelt und betreut sie eine Reihe hochbegabter Schülerinnen und Schüler wie beispielsweise den eine Weltkarriere antretenden Pianisten Jean Muller. Ihre eigenen Hauskonzerte sowie die Konzerte, die sie in Kooperation mit der Goethe Universität Frankfurt organisiert und in denen sie brillante Nachwuchspianistinnen und -pianisten vorstellt, sind sehr begehrt.

Schließlich spielte sie in jüngerer Zeit erneut zwei CDs ein: mit Werken von zu Unrecht eher weniger bekannten Komponistinnen, von denen im folgenden zu handeln sein wird, sowie von Lyonel Feininger und Kurt Dietmar Richter.

Doch nicht genug mit alledem, sie „will es noch einmal wissen“, wie man so sagt, und ihre in langer Lebensleistung ausgereiften, virtuosen pianistischen und interpretatorischen Fähigkeiten wieder einmal live vor einem größeren Auditorium darbieten. Jetzt im Bechstein Centrum überzeugte sie am herrschaftlichen D-Flügel ein kundiges wie andächtiges Publikum mit ihrem facetten- und nuancenreichen, sich von erhabener Wucht und Dynamik bis in ferne und feinste Klangsphären erstreckenden Spiel.

Es ist ein Erlebnis, ihre Versenkung in die Klangwelten jener Komponistinnen, zu deren Wiederentdeckung sie persönlich einen erheblichen Beitrag geleistet hat, mitempfinden zu können, ihre sich dem Publikum mitteilende Körpersprache zu verfolgen und das musikalische Geschehen in einem ganz unmittelbaren Vis-à-vis mit der Künstlerin zu verinnerlichen.

Ihr Konzert leitete Goergen mit „Buccoliques pour Piano“: „Chant pastoral – Calme sans lenteur“ und „Jeux de Nymphes – Capricieux“ der Schweizer Cembalistin und Komponistin Marguerite Roesgen-Champion (1894 in Genf geboren und 1976 in Hyères verstorben) ein. Nachdem Roesgen-Champion ersten Unterricht bei ihrer Mutter, einer Gesangslehrerin, erhalten hatte, studierte sie am Genfer Konservatorium Klavier, Komposition, Harmonie und Musikpädagogik. Bereits im Alter von 19 Jahren bestand sie das Konzertexamen und übernahm dort 1915 die Leitung einer Klavierklasse. 1926 übersiedelte sie nach Paris. Sie komponierte Orchesterwerke, Orgel-, Cembalo- und Klavierstücke, Kammermusik und Chorwerke, nahm barocke Kompositionen für Cembalo sowie Klavierkonzerte der Wiener Klassik auf Schallplatte auf und war als Solistin sehr erfolgreich. Roesgen-Champion zählte zu den ersten Komponistinnen, die von Fachwelt wie Öffentlichkeit beachtet wurden. Wie schwer es damals die besagten Komponistinnen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und noch Jahrzehnte später hatten, in einer von Männern dominierten Szene zu Ansehen und Anerkennung zu gelangen, wurde bereits in einem früherenen Beitrag skizziert.

Nicht als Komposition eines „Quotenmanns“, sondern des musikalischen wie thematischen Zusammenhangs wegen folgte Claude Debussys (1862 – 1918) weitbekanntes, ja populäres  „Clair de Lune – Andante très expressif“, dem dritten Satz der 1905 veröffentlichten „Suite bergamasque“.

Im Gegensatz zu Marguerite Roesgen-Champion keinerlei familiäre oder institutionelle Förderung erfuhr hingegen die Französin Mélanie Hélène Bonis, 1858 in Paris geboren und 1937 im nördlich der Metropole gelegenen Sarcelles verstorben. Zunächst blieb ihr nichts anderes übrig, als das Klavierspiel autodidaktisch zu erlernen. Durch Vermittlung von César Franck konnte sie dann aber am Pariser Konservatorium studieren (gemeinsam in einer Klasse mit u. a. Claude Debussy). Auf Veranlassung ihrer Eltern musste sie jedoch wegen einer Liebe zu einem Mitstudenten das Konservatorium wieder verlassen und wurde in eine Ehe mit einem über zwei Jahrzehnte älteren Industriellen gedrängt. Ein späteres Kind mit dem Geliebten musste versteckt aufwachsen, was Bonis sehr belastete. Etwa ab der Jahrhundertwende wandte sie sich verstärkt dem Komponieren postromantischer, teils impressionistisch beinflusster Werke zu – allerdings um erfolgreich sein zu können unter dem beidgeschlechtlichen Vornamen Mel. Bei Kompositionswettbewerben erhielt sie mehrere Preise, und sie wurde in die Société des Compositeurs aufgenommen (doch lediglich als Sekretärin!). Ihre letzten 15 Lebensjahre verbrachte Mélanie Bonis liegend, aber komponierend auf dem Bett. „Was mich am traurigsten macht ist,“ so schrieb sie, „dass ich meine Werke nie zu hören bekomme.“

Rund 300 Kompositionen hinterliess Bonis – unter ihnen 60 Klavier- und 30 Orgelwerke, ferner Kammermusiken, geistliche Vokalwerke und Werke für Orchester. Viviane Goergen spielte „Cloches Lointaines – Andante“, „Une flute soupire – Moderato“ und „La Cathédrale blessée – Grave majestueux“, ergreifende Kompositionen, in der sich das Lebensschicksal der unglücklichen Mélanie widerspiegelt. In „La Cathédrale blessée“ finden wir einen Bezug auf das nachfolgend zu Gehör gebrachte „La Cathédrale engloutie“ von Claude Debussy und spüren die Trauer über die im Herbst 1914 beginnende Zerstörung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen.

In seiner „La Cathédrale engloutie“ aus dem ersten Band der Préludes verarbeitete Claude Debussy eine alte bretonische Legende, nach der im 4. oder 5. Jahrhundert in der Bucht von Duarnenez eine Stadt namens Ys wegen des ausschweifenden Lebenswandels ihrer Bewohner im Meer versank. Noch heute wollen Fischer an der Küste an windstillen Tagen das Geläut der Kathedrale dieser Stadt hören. Der Glockenklang wie auch das mächtige Spiel der Orgel bilden in der Komposition denn auch ein zentrales Element bis in die tiefstmöglichen Töne des Klaviers hinein. Viviane Goergen bringt diese einzigartige allumfassende Klangwelt auf dem mächtigen Instrument auf das Wirkungsvollste zur Geltung.

Der Französin Germaine Tailleferre (1892 in Saint-Maur-des-Fossés geboren und 1983 in Paris verstorben) verbot ihr Vater den Musikunterricht („Ob meine Tochter das Konservatorium besucht oder auf den Strich geht, ist ein und dasselbe“). Aus Trotz gegen ihn änderte sie später ihren ursprünglichen Familiennamen Taillefesse in Tailleferre. Ihre Mutter ermöglichte ihr – heimlich – Klavierunterricht. Bereits 1904 kam sie als „Wunderkind“ an das Pariser Konservatorium, wo sie Komponisten wie Darius Milhaud und Arthur Honegger traf. Sie gewann Erste Preise und studierte bei Maurice Ravel, mit dem sie befreundet war, Instrumentation. Als einzige Frau wurde sie Mitglied der berühmten, von Erik Satie ins Leben gerufenen Komponistengemeinschaft „Groupe de Six“.

Von ihrem auf ihre Musik eifersüchtigen Ehemann, mit dem sie nach New York gezogen war, trennte sie sich nach ihrer Rückkehr nach Frankreich wieder: „Dass ich komponiere oder Klavier spiele“, so wird von ihr überliefert, „kam nicht in Frage. Das Klavier stand im Atelier meines Mannes. Ich verbrachte meine Zeit mit dem Studium von Kochbüchern.“ Nach Kriegsausbruch zog sie ein zweites Mal in die USA, kehrte aber erneut nach Frankreich zurück. Auch ihre zweite Ehe mit einem Mann ohne Verständnis für ihre Arbeit verlief unglücklich. Sie ließ sich aber davon nicht mehr beirren. Am Ende wurde Germaine Tailleferre äußerst erfolgreich: Sie komponierte Werke für Klavier-, Kammer- und Orchestermusik, Lieder, kleine Opern, Ballette, Bühnen- und Filmmusiken (u.a. für Charlie Chaplin). Der größte Teil ihres Œuvres wurde allerdings erst posthum veröffentlicht. Maurice Ravel sprach von ihrem „sicheren musikalischen Instinkt“ und ihrem „vollendeten handwerklichen Können“. Stilistisch sind die Kompositionen dem Pariser Neoklassizismus zuzuordnen. Im Konzert trug Vivianne Goergen eine wunderbare „Sicilienne – Mouvement de Sicilienne“ der Komponistin vor.

Vítezslava Kaprálová (geboren 1915 in Brünn, verstorben 1940 in Montpellier), war Tochtes des Brünner Komponisten und Musikprofessors Václav Kaprál, einem Schüler von Leoš Janácek. Sie studierte in ihrer Heimatstadt, in Prag und in Paris Komposition (u.a. bei Bohuslav Martinu) und Dirigieren, u.a. bei Charles Münch. Auch Kaprálovás Vater hatte sich zunächst gegen ein Musikstudium seiner Tochter gewandt, ihre Mutter hatte sie jedoch heimlich zum Brünner Konservatorium angemeldet. 1935 wechselte sie von Brünn an das Prager Konservatorium und 1937 nach Paris. Im gleichen Jahr dirigierte Kaprálová in Prag die Tschechische Philharmonie und 1938 das BBC-Orchestra. 1939 entschied sie sich, endgültig in Paris zu bleiben, wurde jedoch nach der Besetzung der Stadt durch deutsche Truppen nach Montpellier evakuiert, wo sie im Alter von nur 25 Jahren an einer schweren Erkrankung starb.

Vítezslava Kaprálová schrieb über 50 Werke vorwiegend für Klavier, aber auch für Sinfonie- und Kammerorchester, Chor und Streichquartett, die nach dem Krieg weitgehend in Vergessenheit gerieten.

Viviane Goergen interpretierte Vítezslava Kaprálovás „Dubnová preludia“ op. 13 (Frühlingserwachen) mit den Sätzen Allegro ma non troppo, Andante, Andante semplice und Vivo.

Das begeisterte Auditorium erbat mit lang anhaltendem Beifall eine Zugabe; die Pianistin gewährte sie mit dem bezaubernd-ergreifenden „Wiegenlied“ von Otilie Suková-Dvořákova.

Über die Komponistin – sie wurde 1878 in Prag geboren und starb 1905 in Křecovice – , älteste Tochter des weltbekannten Komponisten Antonín (Leopold) Dvořák, ist nur weniges überliefert. Es mag daran liegen, dass sie zeitlebens im Schatten ihres berühmten Ehemanns, des Komponisten und Geigers Josef Suk (1874-1935) stand, den sie 1898 heiratete. Sie studierte Klavier in Böhmen und von 1892 bis 1894 in den USA. Manche von Josef Suks Werken sind von seiner Gattin inspiriert, so zum Beispiel das Lied Mé zene (An meine Frau).

Das Publikum dieses Abends wollte Viviane Goergen nicht ohne eine weitere Zugabe entlassen – die gefeierte Pianistin spielte virtuos die „Danza Criolla“ – Allegro – op.1 von Alicia Terzian. Die 1934 in Córdoba/Argentinien geborene Komponistin, Dirigentin und Musikwissenschaftlerin studierte am Nationalkonservatorium in Buenos Aires, an dem sie später selbst unterrichtete, und gründete verschiedene Organisationen zur weltweiten Aufführung zeitgenössischer lateinamerikanischer Musik. Darüber hinaus bekleidete sie leitende Positionen als Vizepräsidentin des Internationalen Frauenrates der UNESCO, Vizepräsidentin des argentinischen Komponistenverbands und Generalsekretärin der argentinischen Gesellschaft für Musikwissenschaft.

Im Anschluß an den wiederum rauschenden Schlussapplaus nach der zweiten Zugabe überreichte John Patrick Franke, Ko-Centrenleiter von Bechstein Frankfurt, der Pianistin ein originelles Dankeschön: einige Hefte unbeschriebenen Notenpapiers, mit der Bemerkung, jetzt sei es doch an der Zeit, dass Viviane Goergen selbst einmal in die Rolle einer Komponistin für Klaviermusik schlüpfe. Für eine Auszeichnung mit dem aktuellen Heidelberger Künstlerinnenpreis Mitte Februar 2020 – dem weltweit einzigen Preis, der ausschließlich komponierenden Frauen verliehen wird (dieses Jahr an Bettina Skrzypczak), – kam dieses Präsent zwar ein wenig zu spät – aber wir werden sehen, was die Zukunft bringt.

Im Rahmen des Konzerts stellte die Ars Produktion Schumacher Viviane Goergens neu eingespielte CD „Pianistische Miniaturen von Komponistinnen“ vor. Was uns zu einem Appell an die sogenannten „Herren der Schöpfung“ veranlasst, den von ihnen verehrten Damen diese – ja wirklich einzigartige – CD-Einspielung zum heutigen Internationalen Welttag der Frauen am 8. März als ein ganz besonderes Geschenk zu überreichen.

Fotos: Erhard Metz

→ Viviane Goergen spielt Werke früher Komponistinnen: Marguerite Roesgen-Champion, Mélanie Bonis, Germaine Tailleferre, Marie Jaëll, Vítezslava Kaprálová, Otilie Suková-Dvořákova

 

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