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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Das Museum als Möglichkeitsort? „Ingrid Godon: Ich wünschte“. Openhouse. im Museum Angewandte Kunst

Museum für alle und immer? Umdenken? Neudenken? Oder einfach einmal Innehalten…

Petra Kammann über Ich wünschte, ich denke, ich sollte

Der Virus geht um und zwingt Großveranstaltungen wie die Frühjahrsbuchmesse in Leipzig, die Buchmesse in London, die ITB in Berlin abzublasen. In Paris wurde sogar der ständig bestens besuchte Louvre geschlossen. Natürlich sind auch andere Museen betroffen. In Frankfurt  hat sich – allerdings nicht als Reaktion auf die aktuelle Lage –  ein Museum die Frage gestellt, wie man ein Haus auch anders bespielen kann als mit dem schlichten Ausstellen von Kunstwerken. Es wurde gewissermaßen leergeräumt, um performativen Experimenten Raum zu geben, die persönliche Befindlichkeiten ausdrücken. Dabei war Ausstellungskurator Thomas Linden auf eine besondere belgische Illustratorin gestoßen: Ingrid Gordon, deren anrührende Figuren als Projektionsfläche für unterschiedliche sinnliche Erfahrungen dienen. Normalerweise passen ihre Zeichnungen zwischen zwei Buchdeckel, im Museum Angewandte Kunst werden sie in der Ausstellung „Ingrid Godon. Ich wünschte“ raumgreifend in Szene gesetzt und fordern Kreative aus der Umgebung zu Reaktionen heraus.

Beim Eingang in die Ausstellung kann man sich der Verlorenheit des Blickes dieses – von Ingrid Godon gezeichneten – Jungen nicht erwehren, Alle Fotos: Petra Kammann

Die in dieser Ausstellung gezeigten berührenden Abbildungen stammen aus verschiedenen Werkzyklen der Buchbände Ich wünschte (2012), Ich denke (2015) und Ich sollte (2018) sowie aus dem Band Dantesken (2018) aus dem Mixtvision Verlag. Der niederländische Autor Toon Tellegen war von den subtilen sparsamen Zeichnungen von den verlorenen Gestalten, die ihren traurigen Erinnerungen nachzuhängen scheinen, der Antwerpener Illustratorin so angetan, dass er dazu passende Textminiaturen geschrieben hat wie zum Beispiel: Ich wünschte, ich wäre allein. Nein, das wäre noch viel zu viel. Ich wünschte, dass ich überhaupt niemand wäre. Dass ich hier im Zimmer säße und es käme jemand herein, schaute sich um und sagte „Nein, hier ist niemand“. So entstanden die erfolgreichen genannten Bildbände, in denen Bild und Text sowohl die Phantasie der Kinder als auch die der Erwachsenen anregen, eben, weil der offene Raum, den Godon um ihre Figuren lässt, Anlass zu Spekulationen bietet, was sich wohl hinter der äußeren Hülle eines Gesichts oder einer Körperhalten gedanklich und gefühlsmäßig so abspielen mag.

Die belgische Illustratorin Ingrid Godon vor ihrer Zeichnung aus „Ich sollte“ im Museum Angewandte Kunst

Ingrid Godon, die eigens für ihre Ausstellung nach Frankfurt gekommen war, erzählte, dass sie schon als Kind immer lieber Menschen und deren Haltung beobachtet und gezeichnet habe, statt sich in der Schule zum Beispiel auf Mathe zu konzentrieren. Während ihres Studiums an der Academy for Fine Arts in Lier habe sie dann ihr Lehrer Rick van den Brande, selbst ein bekannter Künstler in Belgien, entdeckt, d.h. ihr besonderes Talent. Im Zeichnen habe er ihr in einem Jahr nicht so viel Zusätzliches beibringen können, aber er habe sie unter seine Fittiche genommen und auf das Leben einer freischaffenden Illustratorin vorbereitet, so dass sie in den folgenden Jahren – übrigens äußerst erfolgreich – für pädagogische Verlage in Belgien, den Niederlanden und Frankreich und für Animationsfilme als Kinderbuchillustratorinn arbeitete.

Ingrid Godons Figuren: Versunken in ihre eigene Gefühls- und Gedankenwelt 

2009 dann stieß sie in Brüssel erstmals auf die Arbeiten des belgischen Fotografen Norbert Ghisoland (1878 – 1939), der in den 1920er und 1930er Jahren besondere Porträts von Männern, Frauen und Kindern der Borinage, des belgischen Kohlereviers, gemacht hatte. Der Ernst, der aus den Bildern der einfachen, oft so ungelenken Menschen sprach, faszinierte sie auf Anhieb. Ihr Ausdruck erschien ihr wie ein Schlüssel zur menschlichen Natur schlechthin. Fortan machte Godon das Gesicht auch zu einem zentralen Sujet ihres eigenen Werks. Da die Künstlerin immer schon gerne alte Fotos und Postkarten angeschaut und gesammelt hatte, nahm sie sie nun als Vorbild für ihre Porträts, denen sie sich mit sanftem Strich und weichen Farben näherte.

Das bescherte ihr neben zahlreichen Ausstellungen auch außerhalb Europas 2016 eine Schau im Museum für Angewandte Kunst in Köln „Schau mich an„,  mit Fotografien von August Sander (1876-1964), dessen dokumentarische Fotos von Menschen des 20. Jahrhunderts unterschiedlichster Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen sie immer schon sehr beeindruckt hatten. Damals wurde mit ihren Zeichnungen eine Auswahl der Kinderporträts des berühmten Fotografen gezeigt, der diese Fotos zwischen den 1910er- und 1940er Jahren im Westerwald und Köln aufgenommen hatte. „Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass jemals meine Skizzen in einer Ausstellung im Zusammenhang mit dem von mir so verehrten August Sander zu sehen gewesen wären“, sagt die Künstlerin im Gespräch. Der intensive, zumeist frontal auf die porträtierten Kinder und deren spezifischen Ausdruck gerichtete Blick beider Künstler verband damals die medial so unterschiedlichen Ansätze.

Illustration von Ingrid Godon aus „Ich sollte“

Als das Wünschen noch geholfen hat… Im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt laden Godons Porträts dazu ein, Persönlichkeiten zu entdecken, Introvertierte, Ängstliche, Verdruckste, Zaudernde, Erwartungsvolle, Unentschiedene, Verunsicherte usw., und ihnen zu begegnen. Mal erlebt man sie überlebensgroß, mal winzig klein in gezeichneten Serien und sie dienen hier als Ausgangspunkt für eigene Reflexionen. Museumsdirektor Mathias Wagner K erläutert die Idee dazu: „das Potenzial, das im individuellen Wünschen liegt, verdient in einer Zeit der Irrungen und Wirrungen, des rasanten technologischen Wandels, der Angst vor Kriegen und Klimakatastrophen, des fortschreitenden Populismus eine umso größere Beachtung. Denn die Veränderung von Missständen beginnt vor allem mit dem Wunsch, etwas verändern zu wollen“. Ein aufklärerischer Wunsch, der hoffentlich von vielen spielerisch aufgegriffen und vor allem auch begriffen wird.

Soviel steht fest. Zusammen mit den Texten von Toon Tellegen öffnen Godons Bilder von Gesichtern in einer Art begehbarem Buch im Museum eine Tür für unsere Imagination. Während der gesamten Laufzeit verwandelt eine für die Ausstellung eigens konzipierte Klanginstallation sound 48H silence von d.o.o.r (Oona Kastner und Dirk Raulf) die Architektur des Museums zudem in einen Klangkörper (dem man allerdings nicht so ohne Weiteres entfliehen kann). Sie mündet am letzten Wochenende in einer 48-stündigen Live-Performance mit namenhaften internationalen Musiker*innen. An manchen Tagen würde man sich vielleicht eher etwas mehr Stille in den Räumen wünschen. Gerade jetzt in diesen aufregenden Zeiten.

Einladung in einen Möglichkeitsraum: Hier können die Wünsche aller Art formuliert gezeichnet, ausgedrückt werden…

Deshalb lädt das Museum Angewandte Kunst mit der Ausstellung Ingrid Godon. Ich wünschte in einen Möglichkeitsraum ein, in dem die eigenen Wünsche reflektiert werden können. Hier sollen die minimalistischen Einrichtungsgegenständen (Tafel, Stifte, Tisch) dazu auffordern, Prozesse, Ereignisse und Diskussionen zur Teilhabe in Gang bringen. Relaxed ist die Atmosphäre im oberen Raum allein schon durch den Blick auf die Frankfurter Skyline. Dort laden die Sitzsäcke zum entspannenden Verweilen zwischendurch ein. Auf die kreativen Resultate, die am Tisch entstehen, darf man aber gespannt sein.

Daneben möchte sich das Museum als ein lebendiges Open House mit Veranstaltungen verschiedendster Art präsentieren. Zwischen den Wandillustrationen und Originalen der international anerkannten flämischen Künstlerin, zwischen den großformatigen ernsten und in sich gekehrten Gesichtern, sollen Menschen aller Couleur und jeglichen Alters das helle Museum am Schaumainkai gleichzeitig als stilles kontemplatives wie auch als pulsierendes Haus erleben können. Dazu soll auch das sinnlich performative Angebot mit beitragen: mit Performances, mit Musik, mit Workshops, in denen das Erlebte verarbeitet wird und wo eigene Gedanken eine Entwicklungschance bekommen. Alles für eine auf 19 Tagen begrenzte Zeit. Ein Marathonexperiment.

Gekocht wird auch in einem abgetrennten Bereich: Küchenchef Anton de Bruyn aus dem Restaurant Emma Metzler

Denn ob alle der 46 zusätzlichen Veranstaltungen zu der bemerkenswerten Ausstellung ebenso tragfähig sind, wird sich erweisen. Sind allein 6 Konzerte, 11 Ich wünschte Sessions, 3 Clubnights, 12 DJs/Livesets, 6 Barabende, 6 Workshops u.a. von der Bildungsstätte Anne Frank, 3 Gasthaus-Abende mit 8-Gänge-Menüs, 3 Performances, 2 Kino-Abende und eine abschließende 48 Stunden Live Performance nicht vielleicht eine Überforderung? Was die Auslastung des Hauses angeht, so ist das fast eine Übererfüllung des Anspruchs „Ich denke, ich sollte…“ Einen Versuch ist es aber allemal wert. Wer nichts wagt, gewinnt auch nicht dazu.

Aziesch Qani und Prof. Matthias Wagner K

Konzerte, Livesets, Workshops und ausgewählte Menüs, präsentiert von EL BARRIO (eine Initiative von Amp, Emma Metzler, Jazz Montez e.V. und NONOT):

Aziesch (Frankfurt), Ensemble Modern feat. Jan Bang (Frankfurt/Kristiansand), Lena Willikens (Köln/Düsseldorf), MCR-T (Berlin), Mmodemm (Frankfurt), Moritz von Oswald (Hamburg), Neue Grafik Ensemble (London), Ouri (Montreal), PR17 (Leipzig), Sedef Adasi (Augsburg), Sofia Portanet (Berlin), Suzanne Ciani (New York / San Francisco), Tama Sumo (Berlin), Tolouse Low Trax (Düsseldorf), Wolfram (Wien), Yacht (Los Angeles), und viele mehr. Pop-Up-Bar u.a. mit Kinly Bar (Frankfurt) und Schumann‘s Bar (München) sowie das Emma Metzler Gasthaus im Museum, mit Anton de Bruyn (Frankfurt), Dennis Aukili (Frankfurt) und Paul Schmiel (Mainz) 

Create, Vermittlung im Museum Angewandte Kunst

Spoken-Word Performance mit Team Scheller (Dalibor Markovic und Dominique Macri); opencreek hotel Performances & Shownight; Tanz- und Performanceworkshop mit Elisabeth Schilling; Workshops von der Bildungsstätte Anne Frank e.V.

Klanginstallation während der gesamten Ausstellungslaufzeit und 48-stündige Live-Performance: d.o.o.r (Oona Kastner und Dirk Raulf)abschließend 48-stündige Live-Performance von Freitag, 13. März, 20 Uhr bis Sonntag, 15. März, 20 Uhr

Aktuelle Infos unter:

https://www.museumangewandtekunst.de/

 

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