Seht einmal da steht er, unser Struwwelpeter… bei der Eröffnung der Volksbühne im Großen Hirschgraben
Frisch von der Lewwer un Freiheit for ever!
von Petra Kammann
Nein, „Frankfurt is kaa Lumpenest!“ Das hat die alte neue Volksbühne im Nachbarhaus zu den „Goethehöfen“ aufs Vortrefflichste bewiesen. Hier wehte am Abend der Uraufführung des „Struwwelpeter“ der Geist der Freiheit mit dem infernalischen Duo Michael Quast und Sabine Fischmann sowie mit den Musikern des Ensemble Modern. Aus der Tradition des Frankfurter Erzählklassikers wurde eine so unterhaltsame wie aufmüpfige Aufführung mit geistreichen musikalischen und dramaturgischen Ideen.
Applaus für das singende und agierende Duo Michael Quast und Sabine Fischmann, alle Fotos: Petra Kammann
Die Spannung im Publikum war groß
Kann das zusammen funktionieren: Ein Volkstheater und experimentelle Musik eines Ensemble moderne, was manche Zeitgenossen nicht gerade als verdaulich empfinden? Und dann noch der plakative Klassiker „Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann, dessen Erziehungsmethoden häufig in einem Atemzug mit „schwarzer Pädagogik“ genannt werden. Man denke nur an so „unartige“ Kinder wie Paulinchen, den Zappel-Philipp, Hans Guck-in-die-Luft oder den bösen Friedrich, die nicht auf die Eltern hören und denen daher allerlei Grausames widerfährt. Und vielleicht erinnern wir uns daran, dass F. K. Waechter, ein Vertreter der Neuen Frankfurter Schule, deshalb schon in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts einen „Anti-Struwwelpeter“ verfasst hatte…
Vorhang auf für Michael Quast!
Michael Quast ist sehr aufgeregt. Man spürt ihm nach den turbulenten Wanderjahren der „Fliegenden Volksbühne“ auch die Unruhen und Anstrengungen der letzten Tage an und die Bange Frage, ob auch alles fertig wird. Doch kaum hat sich der Vorhang gehoben, beginnt auch für ihn schon ein neuer Rhythmus. Und Quast ist schnell in seinem Element. Zwischen Tradition und Experiment, was schon in seinem roten Wams und des traditionell geschnittenen gelben Beinkleides eines Biedermeier-Bürgers zum Ausdruck kommt, springt er hin und her auf der Bühne und muss sich ob der Anstrengung öfter mal den Schweiß aus dem Gesicht wischen.
Fetzig und temporeich sorgt das Orchester für Szenenwechsel. Mit Anlehnungen an die Eisnersche Musik werden schon in der Ouvertüre Töne aus Brechts epischem Theater wachgerufen.
↑↓ Allein das Vexierspiel mit den angedeuteten Regen- bzw. Sonnenschirmen ist nicht von Pappe
Auf der Bühne wird mit wenigen Elementen gespielt, die beim Publikum Assoziationen auslösen. Von oben werden auf Rollbildern die bekannten Illustrationen der einzelnen Szenen des „Struwwelpeter“ heruntergelassen, während die beiden Akteure Michael Quast und Sabine Fischmann mit ganz einfachen, aber effektiven Requisiten hantieren, um charakteristische Struwwelpeter-Szenen anzudeuten. Da hängen bemalte Pappfische an Angeln, mit denen sie auch in dem übergroßen aufgeklappten „Struwwelpeter“-Buch fischen. Da baumelt die übergroße Schere herunter, die schnipp schnapp dem Daumenlutscher die Finger oder dem Struwwelpeter die Mähne abschneiden soll. Da stolzieren die beiden singenden Akteure im Duett mit einem roten Schirm über die Bühne, der mal Sonnenschirm mal Regenschirm ist, mit dem Robert auch davonfliegen kann.
Die Musiker vom Ensemble Modern: Uwe Dierksen, Hermann Kretzschmar und Christian Hommel, v.l.n.r.
Uwe Dierksen, Christian Hommel und Hermann Kretzschmar, alle drei Musiker im Ensemble Modern, das in diesem Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert, hatten eigens die Musik für das Ensemble und die Volksbühnen-Akteure, die urkomische Sabine Fischmann und Michael Quast, komponiert. Die Idee, dass beide Institutionen zusammenarbeiten könnten, bestand jedoch schon lange. Und mit dem „Struwwelpeter“ in den neuen Theaterräumen zu beginnen, war nun sogar ein willkommener Anlass, zumal auch vor kurzem das Struwwelpeter Museum in der Neuen Altstadt, wenige Schritte vom Großen Hirschgraben entfernt, eröffnet wurde.
Den agierenden Spielern, den Sängern und Musikern merkte man den großen Spaß an, wenn sie zum Beispiel in ihre teils comicartig schrägen und imitierenden Geräusche zu den einzelnen Szenen auch bekannte Melodien einbauten wie im Falle von Paulinchens Schicksal. Da folgten auf die Motive aus Haydns „Schöpfung“, das Mienz und Maunz-Katzengejammer der Streicher, auch Smetenas „Moldau“, in welche die Katzentränen fließen, während das Verhalten vom garstigen Friedrich, dem argen Wüterich, der die Peitsche knallen lässt, von Morricones Ohrwurm „Spiel mir das Lied vom Tod“ begleitet wird und zum Schluss musikalisch an dessen Erbarmen appelliert wird, wenn die zu Herzen gehende Arie „Erbarme Dich“ aus Bachs Matthäuspassion ertönt. An anderer Stelle taucht dann wiederum eine rockige E-Gitarre auf, damit nur ja keine falsche Sentimentalität aufkommt. Die jeweiligen Schnitte jedenfalls sind perfekt gesetzt.
Matthias Faltz. Der neu hinzugewonnene Regisseur und Mitarbeiter in der Intendanz bringt viel Erfahrung aus der Ost-Berliner Kleinkunstszene mit, auch als Leiter des Jungen Staatstheaters in Wiesbaden und als Intendant in Marburg
Die Überwindung des Grauens spielt beim „Struwwelpeter“ – darin den Märchen vergleichbar – eine wichtige Rolle. Und das Gegen-den-Strich-Bürsten macht Mut, etwas, das man kennt und sich nicht zu denken oder gar auszusprechen traut, eben doch zu tun. Es ist das wechselnde Spiel, das die verschiedenen Aspekte des Klassikers neu beleuchtet und so unterhaltsam werden lässt: burlesk und lyrisch zugleich mit großartigen Stimmeinlagen, vor allem von der auch mimisch so komischen Sabine Fischmann, die mal Fratzen schneidet, sich wenige Takte später tänzerisch und anmutig im Kreise dreht oder eindrücklich verweigernd die Stimme des Suppenkaspars übernimmt und herausschreit: „Nein, meine Suppe ess ich nicht“.
Aber wie es sich auch für das Brecht-Theater gehört, gibt es ein paar epische Erläuterungen in der Aufführung. Dabei erwähnt Quast die Hintergrund-Geschichte des Autors Hoffmann, die nicht jeder kennt. Auf der Suche nach einem Bilderbuch für seinen Sohn fand der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann im Dezember 1844 in den Buchläden nichts Passendes, lediglich „alberne Bildersammlungen, moralische Geschichten“. Daher schrieb und zeichnete er kurzerhand die Geschichten selbst, um sie dem dreijährigen Kind als Sammlung von zehn zum Buch gebundenen Kurzgeschichten unter den Weihnachtsbaum zu legen…
Die Frankfurter Schriftstellerin Eva Demski, Foto: Petra Kammann
Nach dem frischen Spiel und Zusammenspiel der verschiedenen Akteure war der Beifall immens. Und so waren auch im Anschluss an die Premiere etliche bekannte Gesichter aus Frankfurts Stadtgesellschaft zu sehen. Eva Demski erzählte, dass sie kräftig mitgesungen habe, als vor ein paar Jahren im Theater dazu aufgerufen wurde, der „Fliegenden Volksbühne“ eine feste Spielbühne im Großen Hirschgraben hinter Goethes Geburtshaus zu verschaffen. Meine Sitznachbarin freute sich königlich, soviel Glück gehabt zu haben, dass sie nun zu den Premieregästen zählte und diese ungewöhnliche Aufführung als Erste miterleben durfte, hatte sie doch eigentlich im Herbst die Karte für den Abend bestellt. Ja, und weil die Termine für den Start verschoben wurden und der Bau noch nicht fertig war, kam es eben anders.
Auch Romanfabrikchef Michael Hohmann stößt auf die gelungene Premiere am 24. Januar an
Begeistert von der Aufführung war auch Romanfabrikchef Michael Hohmann, der aus dem Ostend in Frankfurts „neu gestaltete Mitte“ neben dem Goethe-Haus herbeigeeilt war. Und der sich für das Caricatura Museum engagierende Unternehmer und Mäzen Claus Wisser strahlte förmlich nach der Aufführung. Und ob der ebenfalls anwesende Rainer Dachselt schon Anregungen für seinen kommenden satirischen Wochenrückblick bekam? Also wir fanden’s gut und wünschen der im historischen Hirschgraben sesshaft gewordenen neuen alten Volkstbühne, dass im Spielalltag etwas von der Aufbruchstimmung und der Spielfreude für die nächsten Aufführungen und Projekte bleiben möge!
Demnächst in diesem Theater…
Regie: Matthias Faltz
Komposition: Uwe Dierksen, Christian Hommel, Herrmann Kretzschmar
Musiker: Ensemble Modern
Ausstattung: Carsten Wolff
Gesang/Performance: Sabine Fischmann und Michael Quast
Weitere Vorstellungstermine in der Volksbühne im Großen Hirschgraben:
am 26. Januar, 14./15./16. Februar, 20./21./22. März.
Die Koproduktion der Volksbühne im Großen Hirschgraben mit dem Ensemble Modern wurde von der Aventis Foundation, der Dr. Marschner Stiftung und vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain gefördert.