Musik in der Elbphilharmonie: Klarheit und Neugier
Großer Kontrast zu den Sälen in Frankfurt und Wiesbaden
Von Uwe Kammann
Vor dem Konzert im großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie, Foto: Petra Kammann
Welche Kontraste. Hier, im Rhein-Main-Raum, der große Thiersch-Saal im Wiesbadener Kurhaus, kaiserlich geschmückt und zugleich mit elegantem Jugendstil betörend. Dann der Große Saal in der Frankfurter Alten Oper, relativ schlicht im 80er Jahre Chic, mit warmer Holzverkleidung und den funktionalen Sesseln in seltener Kombination aus Metallwangen und Stoffbezug.
Thiersch-Saal in Wiesbaden bei der 25-Jahrfeier der Kronberg Academy, Foto: Petra Kammann
Und dort, in Hamburg, dieser Saal mit seinen steilen Rängen und schwingenden Brüstungen und einem zentralen runden Schallsegel; das alles verkleidet mit einer gipsernen Haut, die weniger weiß ist als grau.
Es ist tatsächlich fast das Grau der Eierschalenkartons, die in früheren Jahren aus Sparsamkeitsgründen oft Amateurstudios auskleideten, um die Töne neutral klingen zu lassen. Hier sind es Gipsfaserplatten, mit feinen Relieflinien durchzogen, wie winzige Berg- und Tallandschaften. Angeblich jedes einzelne der 10.000 zusammengefügten Einzelelemente ließ ein japanischer Akustik-Guru individuell berechnen, um die Töne der Orchester und auch der Solisten optimal zu reflektieren und sich in feiner Differenzierung entfalten zu lassen.
Warme Holztöne dominieren den Saal: die Geigerin Nicola Benedetti nach ihrem Auftritt im Juni in der Alten Oper Frankfurt, Foto: Petra Kammann
Weltklasse, das war der Anspruch, als es um den Bau der Elbphilharmonie ging. Der Große Saal sollte zu den TOP TEN weltweit gehören, mindestens. Der Musikkritiker der „Welt“ machte das Ganze schon zur Premiere madig. Und als jüngst der Startenor Jonas Kaufmann für einige Publikumsreihen im Orchesterklangteppich unterging, legten einige Blätter nach, bis zur FAZ, die von kaum möglicher Rettung schrieb. Die „Zeit“ schritt daraufhin zur Ehrenrettung, mit der schlichten Feststellung: Gutes Musizieren werde in dem für 2100 Besucher konzipierten Saal noch besser, schlechtes hingegen werde gnadenlos entlarvt.
Aussichtsplattform mit Blick auf den Hamburger Hafen, Foto: Petra Kammann
Nun also die Probe aufs Exempel durch FeuilletonFrankfurt. Bei einem sympathischen ‚Format’, wenn man Terminierung und Länge so bezeichnen will: „Klassik Kompakt“, mit dem NDR-Elbphilarmonie-Orchester. Ein erster Termin am Sonntag schon um 16 Uhr, ein zweiter dann um 18.30 Uhr, jeweils knapp eine Stunde. Schon am frühen Nachmittag: kein einziger freier Platz mehr. Obwohl draußen ein stürmischer Wind nicht gerade zum Spazierengehen einlädt, drängen viele Menschen an der Hafenpromenade entlang zur Philharmonie. Und in der Tat, man kann den Blick nicht abwenden von diesem riesigen roten Backsteinquader und dem daraufgesetzten gläsernen Großsegel, das sich im Wasser spiegelt und in die Wellen aufbricht. An der Nahtstelle zwischen der hohen Backsteinkante und dem unteren Glasrand: die Plaza, ein für alle Bürger zugänglicher terrassenänlicher Umgang, mit grandiosem Blick auf den Elbhafen.
Zwanglos wirkt das alles, einladend und offen. Und so ungezwungen sieht auch das Publikum aus, das den Saal zum 16-Uhr-Konzert füllt: mit buntem Kleidungsmix, vom Pullover und Kapuzenpulli bis zum Blazer und zum Wollkostüm. Was aber immer dazugehört, man sieht es an den Mienen und der Haltung: Neugier, Konzentration, Offenheit.
Der ganze Zivilmix ist vergessen, als die ersten Töne erklingen, im zartesten Pianissimo: der Anfang von Gyorgi Ligetis „Atmosphères“, ein gut viertelstündiges Wunderwerk an flirrenden, sich ständig überlagernden Klangfiguren, an Linien und Verflechtungen, an impressionistischen Fügungen und schwebenden Flächen. Krzystof Urbanski, ein noch junger polnischer Dirigent, verbindet dieses Geflecht – aus immerhin über 80 Einzelstimmen der Instrumente in einem großen, ausgewachsenen Orchester – mit höchster Eleganz, fließenden Bewegungen seiner Hände, der Stab als integraler Bestandteil.
Und – dies wird zum großen Glück des Hörens – jede einzelne Linie und Komponente in diesem schwebenden Klangteppich ist genau zu orten und herauszuhören. Aber nicht in seelenloser analytischer Anordnung, sondern immer in klar erkennbarer Verbindung. Hier, das erschließt sich sofort, steigert der Saal das Musikerleben eben wegen seiner extremen Deutlichkeit, die eine sonst kaum zu erlebende Präsenz des Ganzen bei gleichzeitig äußerster Klarheit im Detail vermittelt.
Das akustische „Raumschiff“ in der Elphi, Foto: Petra Kammann
Damit besticht dieses Werk in dieser Interpretation durch seinen integralen Charakter, der sinnlich spürbar ist, sich aber zugleich in seinen Aufbau gleichsam ‚lesen’ lässt. Und das erlöst das 1961 geschriebene und im selben Jahr bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführte Stück mit vollem Recht von seinem Schicksal, von vielen als Filmmusik erlebt und erinnert zu werden, als Begleitung zu Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Als Sphärenmusik mithin, welche einen einsamen Astronauten bei seinem entrückten Weg in die Unendlichkeit begleitet. Das Programmheft übrigens belehrt uns, dass Kubrick den ungarischen Avantgarde-Komponisten nicht einmal um Erlaubnis gebeten hatte, diese Musik als akustischen Erlebniszusatz zu verwenden. Der einzige Gewinn für Ligeti: eine hohe Popularität, wie sie sonst nie zu erreichen wäre mit eine solchen Musik.
Der zweite Komponist dieser „Klassik-Kompakt“-Kombination, Mieczylaw Weinberg (1919-1996), kann hingegen von Popularität nur träumen. Auch die in der Elbphilharmonie gespielte Symphonie Nr. 3 ist selbst im Kreis von Musikkennern relativ unbekannt. Die Uraufführung fand 1960 in Moskau statt, also nur ein Jahr früher als Ligetis im Film mitreisende ‚Weltraummusik’. Doch Weinbergs Werk wirkt viel älter, ‚klassischer’, wenn man so will. Es lässt zudem an vielen Stellen den Einfluss von seinem Freund Dimitri Schostakowitsch erkennen. Weinberg war 1939 beim Nazi-Überfall auf Polen nach Russland geflohen, wo er bis zu seinem Tod lebte. Die 3. Sinfonie schrieb er bereits 1949/50, also noch zu Stalinzeit. Zehn Jahre später überarbeitete er das Werk noch einmal.
Auch hier, bei diesem in sich opulenten Stück, ist der Saal der Elbphilharmonie ein subtiler Verstärker der Darbietung, er bietet einen ‚erklärenden’, die Einzelheiten darstellenden Resonanzraum, der an detailreicher Darstellung nichts zu wünschen übrig lässt und die Strukturen und Einzelelemente der vier Sätze klar erkennen lässt. Allein, diese 3. Sinfonie enthält zu viel an eigenständigen Motiven, gefällt sich in immer wieder neuen Einfällen und Erfindungen, in immer wieder neuen Verläufen und Aufbrüchen, im kontrastreichen Wechsel der Farben und Rhythmen.
Ja, das alles hat Kraft und auch innere Spannung, doch gerät es immer in die Gefahr der Beliebigkeit, der zusammenhanglosen Reihung ganz unterschiedlicher Ansätze. Was das Publikum gleichwohl bannt? Wahrscheinlich der Reichtum in den einzelnen Klanggruppen, dann wieder die Reinheit der einzelnen Soloinstrumente, bei denen speziell die Blechbläser glänzen in ihrer tonalen Perfektion.
Überhaupt, das Elbphilharmonie-Orchester des NDR überzeugte auf ganzer Linie, von der Präzision bei allen Solopräsentation bis zum Zusammenspiel der einzelnen Instrumentalgruppen.
Dass Besucher im Saal waren, die erkennbar nicht zu den Klassikroutinehörern gehören – es gab vereinzelte, schnell verebbende Klatschversuche nach dem ersten Satz –, zeigt den besonderen Wert einer solchen Musik-Kombination am Nachmittag. Sie ist eben einladend. Und nutzt den besonderen Charakter der Elbphilharmonie. Als architektonische Attraktion, welche aus vielen Gründen ein breites Publikum anzieht, voller Neugier und Vorfreude. Dass der Saal mit seiner rauen, hellgrauen Gipshaut dann eine gleichsam neutrale Werkstattatmosphäre erzeugt und dabei gleichwohl auch allein durch die Dimension und die geschwungenen Ränge weit aus dem Alltag heraushebt, macht seinen besonderen Reiz aus.
Wie ein Schiffsbug ragt das Gebäude der Elbphilharmonie in den Hamburger Hafen, Foto: Petra Kammann
Das Musikerlebnis in der Elbphilharmonie unterscheidet sich optisch fundamental von den Sälen im Wiesbadener Kurhaus im Wiesbadener Kurhaus oder in der Frankfurter Alten Oper. Die Elphi ist analytischer, die Rhein-Main-Säle klingen wärmer. Eine Reise an die Elbe ist jedoch zu empfehlen. Der seit 2016 im Hamburger Hafen vor Anker liegende Bau, der seinesgleichen sucht und auch im Innern hält, was das Äußere verspricht, ist dabei ein besonderer Pluspunkt.
Und nun freuen wir uns auf einen Saal, der nicht nur für die Rhein-Main-Region ein Glanzpunkt sein wird, sondern für ganz Deutschland und darüberhinaus: nämlich den speziell für Kammermusik ausgelegten Konzertsaal der Kronberg Academy, der bald vollendet werden wird. Alle Beteiligten versprechen: Er wird einzigartig werden.