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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

„Große Realistik & Große Abstraktion“ im Städel. Zeichnungen von Max Beckmann bis Gerhard Richter (2)

Reizvoller Stilpluralismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts

Von Hans-Bernd Heier

Die Graphische Sammlung des Städel Museums besitzt mit annähernd 1.800 Werken einen umfassenden Bestand an Zeichnungen von deutschen Künstlern des 20. Jahrhunderts. In der Ausstellung „Große Realistik und große Abstraktion“ wird eine pointierte Auswahl von rund 100 hochkarätigen Zeichnungen und Aquarellen von Max Beckmann bis Gerhard Richter präsentiert, welche die hohe Qualität der Kollektion und ihre historisch gewachsenen Schwerpunkte dokumentiert. Insgesamt sind in der beeindruckenden Schau Arbeiten auf Papier von rund 40 Künstlern versammelt.

Ernst Ludwig Kirchner „Berliner Straßenszene“, 1914, Pastellkreiden und Kohle auf beigem geripptem Büttenpapier, 68 × 50 cm, Städel Museum; Foto: © Städel Museum

Der Zeichnung kommt im 20. Jahrhundert eine besondere Rolle zu. Sie ist seit jeher Medium des Suchens, Erfindens und Experimentierens. In der Moderne gewinnt sie zudem an Eigenständigkeit und Autonomie und wird – vor allem in Zeiten staatlicher Überwachung und Unterdrückung – zu einem Medium des freien Denkens. In ihrer Vielfalt spiegelt sie nicht zuletzt auch die Komplexität des rasanten Wandels von Kultur und Gesellschaft im letzten Jahrhundert. Dieses war geprägt von der raschen Folge bahnbrechender wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Entwicklungen sowie von radikalen gesellschaftlichen und politischen Brüchen, zutiefst erschüttert von zwei Weltkriegen und scheinbar versöhnt durch die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands.

Diese rasanten Verwerfungen haben auch in der bildenden Kunst deutliche Spuren hinterlassen, wie die vielseitige Städel-Schau zeigt. „An den präsentierten ausdrucksstarken Werken bis 1989/90, der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, lassen sich die Brüche, aber auch die Kontinuitäten des 20. Jahrhunderts, die sich verändernde Rolle und Aufgabe des Mediums der Zeichnung eindrucksvoll nachvollziehen“, erklärt Städel Direktor Philipp Demandt.

Ausstellungsansicht „Große Realistik & Große Abstraktion“; Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Die Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Graphischen Sammlung, Jenny Graser, ergänzt: „Das 20. Jahrhundert ist vielstimmig, widersprüchlich und extrem, auch in der Kunst: Es war ein Jahrhundert der Avantgarden, der Künstlergemeinschaften und unnachgiebigen Einzelpositionen, der Realismen und Abstraktionen. Das weite Spektrum, in dem sich die Kunst des 20. Jahrhunderts bewegt, lässt sich durch die beiden ,Pole‘ charakterisieren, die Wassily Kandinsky 1911 als für die Moderne grundlegend beschrieb: die ,große Realistik‘ und die ,große Abstraktion‘, das Gegenständliche und das Ungegenständliche. Diesem Pluralismus spüren die in der Ausstellung präsentierten und im Katalog bearbeiteten Zeichnungen nach“.

Die einfachen Bleistiftskizzen, farbig leuchtenden Pastelle und Aquarelle sowie großformatige Collagen zeigen die technische Vielfalt des Mediums Zeichnung, deren spezifische Besonderheiten die Künstler individuell ausschöpften. Die Zeichnungen sind dabei lose chronologisch einzelnen Gruppen zugeordnet, die auf unterschiedliche Weise das Verhältnis von Gegenstandsnähe und abstrahierender Ablösung vom Naturvorbild beleuchten.

Um 1900 herrschte Aufbruchsstimmung – auch in der Kunst. Auf der Suche nach künstlerischer Erneuerung entstand eine Vielzahl von gleichzeitiger, teils radikal unterschiedlicher avantgardistischer Strömungen. Junge Künstler schlossen sich zu Vereinigungen wie der „Brücke“ oder dem „Blauen Reiter“ zusammen und suchten nach adäquaten Ausdrucksformen für das auf sie einströmende „ungeheure Leben“ (August Macke).

Die Expressionisten wandten sich von traditionellen, an den Akademien vermittelten Bildvorstellungen ab und bedienten sich der Zeichnung als autonomer Kunstgattung, zugleich blieb diese auch Medium des Experimentierens. „Eine naturalistische Wiedergabe lehnten sie ab und übertrugen das Gesehene und Erlebte auf grundlegende bildnerische Elemente wie Linie und Fläche, Farbe und Form. Körper wurden nicht länger plastisch modelliert, sondern mit kräftigen Umrisslinien oder in monochromen Farbformen flächig wiedergegeben, und die Farbgebung orientierte sich nicht mehr am Natureindruck“, so die Kuratorin.

Bei der Pressekonferenz erläutern Städel Direktor Philipp Demandt, Kuratorin Jenny Graser und Regina Freyberger, Sammlungsleiterin der Graphischen Sammlung (von links) das Ausstellungskonzept; Foto: Hans-Bernd Heier

Diese neue Formensprache spiegeln schon die zu Beginn gezeigten Arbeiten von Ernst Ludwig Kirchner und Max Beckmann wider (s. dazu Bericht vom 15. November). Beckmann war von den grausamen Erlebnissen des Ersten Weltkrieges zutiefst verstört und wurde nach einem seelischen und körperlichen Zusammenbruch 1915 untauglich geschrieben. Dies führte in seinem künstlerischen Schaffen zu einem scharfen Bruch, er erarbeitete sich einen neuen Stil, der sich zuallererst in seinen Zeichnungen zeigte. Die vor dem Krieg entstandenen Kompositionen sind von abgerundeten Linien und weichen Konturen geprägt. Danach wird der Bildaufbau strenger, die Motive werden scharf umrissen und zeigen kantige Formen. Seine neue Bildsprache beschreibt er mit dem Begriffspaar der „transzendenten Sachlichkeit“.

Für Ernst Ludwig Kirchner war die Zeichnung „Schlüssel seiner Kunst“. Stets trug er seine Zeichenutensilien bei sich, um das Erlebte unmittelbar einzufangen. Er zeichnete täglich, ob auf der Straße, im Kino, im Konzert oder Varieté, bei Aktstudien im Atelier oder in der freien Natur. Dabei reduzierte er die Naturformen auf einfache, das Wesentliche erfassende Zeichen, sogenannte „Hieroglyphen“. Laut Kirchner sind seine Bilder „keine Abbildungen bestimmter Dinge oder Wesen, sondern selbstständige Organismen aus Linien, Flächen und Farben, die Naturformen nur soweit enthalten, als sie als Schlüssel zum Verständnis nötig sind“.

Emil Nolde „Vierwaldstätter See“, ca. 1930, Aquarell auf Velin-Japanpapier, 34 × 47 cm, Städel Museum; © Nolde Stiftung Seebüll; Foto: © Städel Museum

Mit über 120 Zeichnungen Kirchners besitzt das Städel Museum einen der bedeutendsten Zeichnungsbestände des Künstlers in Deutschland. Das ist wesentlich der Schenkung von Arbeiten auf Papier aus dem Nachlass des Frankfurter Mäzens Carl Hagemann zu verdanken. Eines der Meisterwerke ist die gezeigte Pastellzeichnung Berliner Straßenszene von 1914. Kirchner war fasziniert von Menschen in Bewegung, von der hektischen Stimmung der aufstrebenden Metropole Berlin, die er in markante Linien übersetzte. Er abstrahierte das Gesehene, indem er die Naturformen auf das Wesentliche reduzierte.

In der geschickt gehängten Schau sind auch andere meisterliche Zeichnungen von Mitgliedern der Künstlervereinigung „Brücke“ und „Blaue Reiter“ zu sehen; darunter Lyonel Feininger, Erich Heckel, Paul Klee, Emil Nolde, Otto Mueller, Max Pechstein, und Karl Schmidt-Rottluff.  Besonders spannend ist der Dialog, in den August Mackes Schwarz-Weiß-Zeichnung „Mädchen am Abend auf der Bahnüberführung“ mit dem farbkräftigen Ölgemälde „Zwei Mädchen“ tritt.

Paul Klee „alea jacta“, 1940, Kleisterfarben auf Büttenpapier, auf Karton montiert; 35 × 22 cm, Städel Museum; Foto: © Städel Museum

„Anknüpfend an den Expressionismus entwickelte eine Reihe von Künstlern in den 1920er- und 1930er-Jahren eine stark abstrahierende Formensprache. Auch sie wandten sich von traditionellen, an den Akademien gelehrten Kompositionsprinzipien ab und erprobten zunächst auf dem Papier neue Darstellungsweisen. Sie gaben die naturalistische Wiedergabe auf und setzten das Gesehene und Erlebte in grundlegenden bildnerischen Elementen wie Linie und Fläche, Farbe und Form um“, erläutert Regina Freyberger, Sammlungsleiterin der Graphischen Sammlung. So  arbeiteten Rolf Nesch, Werner Gilles und Ernst Wilhelm Nay mit flächigen Farbformen, markanten Linien und geometrischen Figurendarstellungen und verzichteten auf eine illusionistische Darstellung von Tiefenräumlichkeit. Diese formalen Tendenzen lassen sich auch bei Willi Baumeisters beobachten.

Ausstellungsansicht mit Kuratorin Jenny Graser; Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs schien es vielen jungen Künstlern um 1945/50 unmöglich, an die Kunst der 1920er- und 1930er-Jahre anzuknüpfen. Sie suchten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Sie entwickelten eine abstrakte Bildsprache, ausschließlich aus Farbe und Form, die die expressive Geste in das Zentrum der Kunst stellte: Ausgehend von frühen tachistischen Tendenzen in Frankreich und beeinflusst durch den Surrealismus entwickelte sich das deutsche Informel.

Zu Beginn der 1950er-Jahre avancierte Frankfurt am Main zum deutschen Zentrum dieser neuen Kunstrichtung. Karl Otto Götz besuchte die Stadt erstmals 1950 und lernte die damals dort lebenden, gleichgesinnten Künstler Otto Greis, Bernard Schultze  und Heinz Kreutz kennen. Ende 1952 schlossen sie sich zu der losen Künstlergruppe „Quadriga“ zusammen, deren Werke in der legendären Zimmergalerie Franck  gezeigt wurden.

Von hier aus breitete sich diese Strömung in der gesamten Bundesrepublik Deutschland aus und wurde zu einer der dominierenden künstlerischen Bewegungen der 1950er Jahre. „Dabei entwickelten sich vielfältige Spielarten des Informel, die zarte Linienbündel in Grafit ebenso wie farbintensive, pastose Farbspritzer und -tupfen, feine Liniennetze oder geschlossene, sich flächig ausbreitende Farbwirbel umfassen“, so Graser. „Es wurde gezeichnet, gemalt, geritzt, getropft, geschüttet, abgeklatscht und geschichtet, zerstört und neu geschaffen. Mal erfolgte das Zeichnen in stiller Konzentration, mal in lauter, expressiver Gestik“.

Jörg Immendorf „C. D. Teilbau“, 1978, Gouache auf Papier, 41 × 30 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main; © The Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York; Foto: © Städel Museum

Götz beispielsweise zeichnete und malte aus der raschen Bewegung heraus. Er überzog seine Bilder mit dynamischen Farbwirbeln und -bahnen, wie in der Gouache „Ohne Titel“ von 1957. Dabei wandte er eine neue, im Sommer 1952 eher zufällig entdeckte Technik an, bei der er Farbe auf das Papier auftrug und mit einem Messer oder einer Rakel verteilte. Auf diese Weise gelang es ihm, Formelemente aufzulösen. Die Ausstellung erhellt eindrucksvoll die vielfältigen Spielarten des Informel.

Von den Vertretern des Informel grenzten sich viele Künstler der Nachkriegsgeneration deutlich ab. Als Kinder hatten sie ebenfalls die Schrecken und Folgen des Zweiten Weltkriegs erlebt und machten aus diesem Grunde die jüngste deutsche Geschichte zu ihrem Thema. Dafür griffen sie auf eine neoexpressionistische, gegenständliche Bildsprache zurück, wie Eugen Schönebeck oder Georg Baselitz. In ihren Farbstift- und Tuschezeichnungen stellten sie deformierte, von Narben, Wunden und Geschwüren bedeckte Körper dar. Markus Lüpertz zeichnete „Deutsche Motive“, Jörg Immendorff  die farbenprächtigen Gouachen „Café Deutschland“ und Anselm Kiefer reflektierte in monumentalen Arbeiten eine als deutsch wahrgenommene Ästhetik.

Ausstellungsansicht „Große Realistik & Große Abstraktion“; Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Neben diesen äußerst gesellschaftskritischen Arbeiten von Künstlern der Bundesrepublik, die explizit künstlerische „Schönheit“ ablehnten, sind Zeichnungen von Hermann Glöckner, Gerhard Altenbourg, Werner Tübke und A. R. Penck zu sehen. Sie zeigen die die Vielfalt der Zeichenkunst in der DDR exemplarisch auf. Besonders der Leipziger Maler Tübke besticht mit seiner technisch brillanten, an den Alten Meistern geschulten Kunst. Die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland brachte um 1989/90 eine ganz eigene Stimmung hervor, die Gerhard Richter in zarten und feinfühligen Grafitzeichnungen einfing. Sie vermitteln in ihrer dynamischen Sprache noch heute etwas vom damaligen Zusammen- und Aufbruch.

In den 1960er-Jahren begannen die deutschen Künstler allerdings nicht nur vermehrt die eigene jüngste Vergangenheit zu thematisieren, sie setzten sich auch mit der bürgerlichen, konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft auseinander. Thomas Bayrle bekleidete in Zeichnungen einen weiblichen Akt mit einem Mantel, dessen Muster aus Kaffeetassen zusammengesetzt ist. Zudem wurden alltägliche, bisher kunstunwürdige oder neu entwickelte Zeichenmittel wie Kugelschreiber, Neonstifte, Fineliner und Sprühfarben verwendet. Sigmar Polke nutzte sie sowohl für einfache Zeichnungen als auch für vielschichtige und komplexe Collagen.

 

Viele Künstler überschritten die bisher üblichen Formate der Zeichenkunst und schufen monumentale Arbeiten: Antonius Höckelmann spannte ein Gefüge aus sich windenden Schlingen über weite Papierbahnen und Johannes Grützke setzte sich in großformatigen Selbstporträts in Szene. Peter Sorge schließlich reflektierte in seinen aus verschiedenen Bildzitaten zusammengesetzten Farbstiftzeichnungen die sich wandelnde Medienlandschaft und die zunehmende Allgegenwart der Bilder, die heute aktueller denn je ist.

Gerhard Richter „Ohne Titel“, 02.11.1989, Grafitstift auf weißem Karton, 21 × 30 cm,  Städel Museum, Frankfurt am Main; © Gerhard Richter 2019 (27092019); Foto: © Städel Museum

Mit dieser großartigen Schau knüpft das Städel an frühere Präsentationen an, die Arbeiten auf Papier aus dem reichhaltigen Füllhorn der eigenen Sammlung zeigten. Begleitet wurden die jeweiligen Ausstellungen von profunden Bestandskatalogen, in denen mit wissenschaftlicher Tiefe bestimmte Schulen oder Epochen der gezeigten Werke aufgearbeitet wurden. Auch zu der derzeitigen Schau, in der auch Dauerleihgaben der Deutschen Bank zu sehen sind, ist ein Katalog erschienen, der den Bestand der deutschen Zeichnungen des 20. Jahrhunderts im Städel Museum erstmals exemplarisch erschließt.

Zu verdanken ist die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Zeichnungen des 20. Jahrhunderts der Stiftung Gabriele Busch-Hauck, Frankfurt am Main. Diese Stiftung hat bereits, wie Städel-Direktor Demandt betont, „dankenswerterweise in den vergangenen Jahrzehnten in einem kontinuierlichen Engagement die kunsthistorische Erschließung ausgewählter Zeichnungsbestände des Städel Museums ermöglicht“.

Große Realistik & Große Abstraktion – Zeichnungen von Max Beckmann bis Gerhard Richterbis zum 16. Februar 2020 im Städel Museum; weitere Informationen unter: www.staedelmuseum.de

Gleichzeitig ist bis zum 16. Februar 2020 im Städel – als einziger Station – auch die grandiose Schau „Making van Gogh – Geschichte einer deutschen Liebe“ zu sehen; s. Berichte vom 23. Oktober und 11. November in www.feuilletonfrankfurt.de

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