Theaterpreis DER FAUST 2019 in Kassel
Ein Querschnitt durch die Deutsche Theaterlandschaft
von Renate Feyerbacher
Die glücklichen Preisträgerinnen und Preisträger bei der Verleihung des Deutschen Theaterpreises DER FAUST, im Staatstheater Kassel am 9. November 2019; Fotos: Oliver Kern / FAUST Theaterpreis
Einer der eigenwilligsten, deutschen Theatermacher, Roberto Ciulli, erhielt am 9. November im StaatstheaterKassel den renommierten deutschen Theaterpreis DER FAUST, der seit 2006 verliehen wird, für sein Lebenswerk. Endlich!
Unter den Preisträgern war auch die weltberühmte Choreografin Anna Teresa Keersmaeker, die mit ihrer belgischen Gruppe Rosas an der Berliner Volksbühne 2018 „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“ von Johann Sebastian Bach uraufführte.
Der Bariton Johannes Martin Kränzle, bereits zweimal „Sänger des Jahres“ und schon einmal für den FAUST nominiert, sowie der in Genf geborene Bühnen- und Kostümbildner Etienne Pluss gehören zu den prominenten Preisträgern.
Pluss arbeitet weltweit. Für die Frankfurter Oper schuf er 2016 das Bühnenbild für „Martha“ – in dieser Saison wieder im Spielplan. Am Staatstheater Kassel ist er oft engagiert – zuletzt 2018 bei „Falstaff“.
Ausgezeichnet wurde Pluss für sein Bühnenbild für die Oper „Violetter Schnee“ des Schweizer Komponisten Beat Furrer an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin.
Die Münchner Kammerspiele wurden durch ihre Schauspielerin Maja Beckmann geehrt für ihr zehnstündiges Projekt „Dionysos Stadt“. Der Preis gehöre dem Ensemble, sagt sie. Eingeladen wurde die Produktion zum Theatertreffen 2019.
24 Künstler*innen waren in acht Kategorien für den undotierten Preis nominiert, der seit 2006 vom Bühnenverein in Köln, der Kulturstiftung der Länder und der Akademie der Darstellenden Künste Bensheim und dem jeweiligen Land, in dem der Preis verliehen wird – in Hessen eben – veranstaltet.
Diesmal wurden auch bisher unbekannte Künstler und kleinere Theater ausgezeichnet – ein Querschnitt durch die deutsche Theaterlandschaft.
Der Theatermann Roberto Ciulli ist legendär und wurde daher für sein Lebenswerk geehrt. Der inzwischen 85-jährige künstlerische Leiter, Regisseur, Schauspieler wuchs in Mailand auf, wo er mit 26 Jahren das Theater Il Globo gründete und in Padua über Hegel promovierte. Mit 29 Jahren habe er einen Herzinfarkt erlitten und daraufhin alle Brücken abgebrochen, auch zur Familie, und ging in den sechziger Jahren nach Deutschland, wo er als Gastarbeiter anfing, erzählt er.
Es folgte eine intensive Theaterarbeit in Göttingen, wo er sich vom Beleuchter zum Requisiteur, vom Regieassistenten zum Regisseur hoch arbeitete. Sieben Jahre lang, von 1972-1979, war er dann Schauspieldirektor in Köln. Dort arbeitete er mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer zusammen. Ciulli wurde eingeladen, die Intendanz in Köln zu übernehmen. Er lehnte aber ab, weil sowohl ihm als auch auch Schäfer das Stadttheatersystem zu eng war.
Beide gründeten 1980 dann zusammen mit dem Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben (1934-2018), den Ciulli aus Göttingen kannte, das Theater in Mühlheim an der Ruhr. Das ehemalige Solbad Raffelberg wurde dann seine Spielstätte.
Ciulli erinnert sich an große Kämpfe damals, spricht von einem gespalteten Publikum: von den einen gefeiert, aber von Vielen abgelehnt zu werden. „Das war das Gefühl, nicht geliebt zu sein, fremd zu sein im eigenen Land.“ Deshalb hat das Theater neue Orte aufgesucht. In 42 Ländern wurde gastiert – darunter im Irak und im Iran, auch nach der islamischen Revolution.
Politisches Bewusstsein prägt Ciullis Arbeit. „Das Theater muss für die Abschaffung von geografischen und menschlichen Peripherien arbeiten und das Gefälle zwischen Zentrum und Provinz ausgleichen.“
In der Jurybegründung heißt es; „Humor, Menschenkenntnis, Ernst und Liebe. Italienische Commedia und Clownerie verbinden sich in seinem Schaffen mit großen europäischen Stoffen und der Sympathie für Schwache und Unterdrückte.“ So ist der Clown für Ciulli ein Symbol der Aufklärung. Er verkörpere „das Lachen der Erkenntnis… ein Lachen, das nah am Weinen ist.“
Kurz vor seinem 85. Geburtstag Ende März 2019 führte Roberto Ciulli mit dem ZEIT-Theaterkritiker Peter Kümmel, der beim Eysoldt-Ring in Bensheim immer den Kandidaten für den Kurt-Hübner Regie-Preis vorschlägt, ein Interview. Darin begründet der Regisseur auch, warum er in Deutschland blieb. Es war unter anderem die Deutsche Sprache, in die er sich verliebt hatte. „Das Italienische hat eine sehr schöne Musikalität. Aber wenn man eine Sprache sprechen will, mit der man Emotionen und Gedanken präzise fassen kann, dann ist es die deutsche Sprache.“ Und er gibt verschiedene Beispiele.
Unermüdlich versucht er am Theater an der Ruhr, die Perspektive der Moderne durchzusetzen. In dieser Spielzeit werden Stücke aufgeführt, die unsere Gegenwart ganz aktuell dokumentieren.
Roberto Ciulli selbst führt im Dezember 2019 Regie bei der Uraufführung von „Boat Memory /Das Zeugnis“. Im Gespräch mit Kümmel sprach er von Christina Cataneo, der Mailänder Professorin für Forensik und Gerichtsmedizin, die versucht, die Identität der Ertrunkenen im Mittelmeer festzustellen. Sie will den Menschen, die versuchten, Krieg und Elend zu entkommen, voller Hoffnung auf ein würdiges Leben fest daran glaubten, dass ihnen ihre Würde und ihre Namen zurückgegeben würden. Im Mittelpunkt steht dann ein 12jähriger Junge, der ein Schulzeugnis in seiner Jackentasche eingenäht hatte. Er ertrank.
Roberto Ciulli: „Ich bin ein 85-jähriger Europäer an der Spitze einer kulturellen Institution und lasse zu, dass heute Menschen im Mittelmeer ertrinken – oder sie werden mit europäischen Geldern wieder nach Libyen zurückgeschickt, wo sie in Gefängnissen gefoltert, versklavt, verkauft werden, damit man von ihren Familien weiter Geld erpressen kann. Angesichts der Hoffnung dieses Jungen empfinde ich grenzenlose Scham. Ich dachte: Ich muss etwas tun, diese Geschichte muss erzählt werden, ich will das in unserem Theater tun.“ , so formulierte er es im Gespräch mit Peter Kümmel.
Durch den FAUST-Theaterpreis gelangt dieser seit über 40 Jahren agierende, so innovative wie engagierte große Theatermacher endlich stärker ins Bewusstsein der bundesrepublikanischen Bevölkerung, und das nicht nur in Nordrhein-Westfalen, wo er seit vielen Jahren zuhause ist.
Vertraut begrüßt der Sänger Johannes Martin Kränzle aus Frankfurt die Moderatorin und die Kasseler Sänger-Kollegin, die den Preis überreicht. Ihm wurde empfohlen, die Trophäe ans Auge zu halten und durch sie zu schauen. Dabei sei ein Mensch zu sehen. Und er schaut durch die metallene Trophäe, die einem Kaleidoskop ähnelt und im Innereren einen ‚endlosen‘, spiegelnden Bühnenraum andeutet. Das macht er zunächst falsch herum und das Publikum ruft ihm zu: „Andersrum!“
Kränzle lacht und dreht die Trophäe um: „Der Mensch. Wunderbar, das ist ja dreidimensional, so wie das Theater sein soll.“ Auf die Frage der mehrfach ausgezeichneten Schauspielerin und Moderatorin Wiebke Puls, die auch Ensemblemitglied der Münchner Kammerspiele ist, wann er eine Veränderung im Theater erwarte. Das beantwortet er mit einem Wunsch: „Mir fällt auf, dass wir mit den technischen Mitteln immer skrupelloser umgehen und manchmal der Mensch“ – und da zeigt er auf die Trophäe –, „gar nicht mehr im Mittelpunkt steht in den Inszenierungen.“ Spontaner Beifall.
Die Begründung der Jury: „Er zeigt „als gefesselter Frauenmörder Siskov die ganze Intensität seiner stimmlichen und darstellerischen Gestaltung“.
Kränzle ist nicht nur ein außergewöhnlicher Sänger, sondern auch ein außergewöhnlicher Schauspieler. Er liebt das Schauspiel. Es ist faszinierend, wie er Menschen darstellt und den Charakteren eine intensive psychologische Tiefe verleiht. Und er ist ein Perfektionist: So ging er ein Jahr vorher nach Prag, um die tschechische Sprache zu erlernen.
Zwei Jahrzehnte lang war er Ensemblemitglied der Oper Frankfurt. Nun singt er oft in Wiesbaden, im nächsten Jahr in Zürich, in München, in Hamburg, in Österreich und natürlich in Bayreuth, wo er den Sixtus Beckmesser singt. Im nächsten Jahr steht er dann auch mal wieder auf der Bühne der Frankfurter Oper.
Kränzle ist Gastprofessor an der Kölner Musikhochschule, gibt Meisterkurse und ist regelmäßig in Nordbrasilien aktiv – natürlich ehrenamtlich. In der Millionenstadt Natal hat er das Projeto Martin ins Leben gerufen. Sechs Kindern aus armen Verhältnissen ermöglicht er, ein Streichinstrument zu erlernen. Es ist sein Beitrag zur Armutsbekämpfung. Geige spielen und komponieren, das kann Johannes Martin Kränzle übrigens auch.
Sie ist die einflussreichte Choreografin der Gegenwart: Anne Teresa De Keersmaeker. Bei der Preisverleihung in Kassel konnte sie nicht dabei sein, da sie in New York weilte, wo sie auch einst studierte und an einem neuen Projekt arbeitet. Zuvor hatte sie ihre Ausbildung an der Tanzschule von Maurice Béjart in Brüssel.
Von einem Meisterwerk sprechen die Kritiken im September 2018 an der Volksbühne Berlin über „Die sechs Brandenburgischen Konzerte“, die sie in Szene setzte. Da wird von einem stürmischem Applaus berichtet. Es war das erste Mal, dass die flämische Choreografin eine Uraufführung – eine ihrer größten Produktionen überhaupt – in Berlin hatte.
Von einer ihrer Auseinandersetzung mit Bach, einer neuen Stufe, ist die Rede. Nach der Premiere sagte die Choreografin zur Journalistin Lilo Weber: „Das war für uns die große Herausforderung: sehr nahe an der Musik zu arbeiten und gleichzeitig die eigene choreografische Handschrift zu schreiben. Die Choreografie muss eigenständig bleiben, sie darf sich nicht zur Sklavin der Musik machen.“ Das sei ihr wieder einmal gelungen, ohne sich den Wurzeln der Komposition zu entfernen. „Und wie!“, betont die Kollegin. (Zitat in NZZ Digital 18.8.2018)
Bei Bachs „Sechs Brandenburgischen Konzerte“ gehen, tanzen Männer und Frauen aus drei Generationen der „Rosas“ Companie, die Anne Teresa De Keersmaeker einst gründete. Einzelnen Tänzern weist sie Instrumente zu. Alle sind schwarz gekleidet.
De Keersmakers Choregraphie zu Steve Reichs Musik im K20 in Düsseldorf, Foto: Petra Kammann
Bereits mit 22 Jahren hatte sie ihr erstes wichtigstes Stück, „Fase – Four Movements to the Music von Steve Reich“ choreografiert. Die 1982 entstandene Arbeit hat sie nun neu konzipiert. In Düsseldorf wurde ihre Choreographie zur Musik von Steve Reich im K20 aufgeführt.
„Soviel Gelassenheit kann nur eine Großmeisterin wie Anna Teresa de Keersmaeker choreografieren: Die international und mit vielen Mitteln produzierten „Sechs Brandenburgischen Konzerte“ leben von ihrer Fülle an Tänzern, die nicht im Einzelnen ihre Virtuosität demonstrieren, sondern sich dem Eins-Sein hingeben, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Einfallsreichtum zu immer wieder unterschiedlichen Konstellationen und eine durchgängig bewegte Musikinterpretation (mit live Orchester) entwickeln eine Sog-Wirkung, der man sich nicht entziehen kann.“, so begründete die Jury des FAUST -Theaterpreises die Entscheidung für die außergewöhnliche belgische Choreographin.
Den Preis für Tanz erhielt Marlúcia do Amaral von der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg für ihre Rolle der Odette aus „Schwanensee“, das Martin Schläpfer noch in die Wege geleitet hatte.
Die Regiearbeit von Elisabeth Stöppler in der Sparte Musik überzeugte mit „Götterdämmerung“ am Theater Chemnitz.
Die Jury begründet: die Regisseurin „lässt gleichzeitig Uneindeutigkeiten und Umdeutungen zu und schafft es, Brutalität ohne Repräsentation jener darzustellen – gerade der Aspekt der „weiblichen Souveränität“ wird hiervon sehr berührt. Mit Klimawandel und sozialer Vereinsamung wird das thematische Triptychon dieser besonderen Inszenierung vervollständigt und bekommt dadurch eine ungeahnte Relevanz und Schärfe.“
Den Regiepreis für Kinder- und Jugendtheater bekam Birgit Freitag für das Projekt „Für Vier“, Junges Theater Bremen.
Und mit dem „Perspektivpreis der Länder“, den eine andere Jury entschied, wurde in diesem Jahr die Initiative „explore dance – Netzwerk Tanz für junges Publikum“ (Tanzpakt Stadt Land Bund) ausgezeichnet.
„Im Fokus der Auseinandersetzung stehen die choreographischen Praktiken und die ästhetischen Mittel der Tanzproduktionen, die Teilhabe und Wahrnehmung des jungen Publikums, die Vermittlungsarbeit an den Schulen und die Rahmenbedingungen in den Institutionen“, heißt es auf der Webseite des Netzwerkes.
Im Juli 2020 wird in München das zweite EXPLORE DANCE #2 – FESTIVAL FÜR JUNGES PUBLIKUM stattfinden, das jährlich an einem anderen Ort zu sehen ist.
Für die nachvollziehbare Preisverleihung zeugten die Ausschnitte von den Aufführungen, die in Kassel gezeigt wurden. Es gefällt, dass über den prominenten Tellerrand geschaut wurde.
Die Aufzeichnung von drei Gesprächen mit Johannes Martin Kränzle aus den Jahren 2010, 2014 und 2018 sind außerdem in https://www.feuilletonfrankfurt.de nachzulesen, ebenso mein Kulturtipp zu Siskov.