Deutsche Grenzerfahrungen: Lucas Vogelsang, Joachim Król – Was wollen die denn hier?
Ausgesprochen persönlich
Dreißig Jahre, nachdem sich die deutsch-deutsche Grenze auflöste und die Mauer fiel, begegneten sich Ost- und West-Deutsche unter neuen Bedingungen. „Was wollen die denn hier“ ist ein abwechslungsreiches Road-Movie zum Nachhören, das einen anderen Blick auf die jüngere deutsche Vergangenheit wirft.
Ein Hörbuchtipp von Petra Kammann
Hörbuchcover
27 Jahre nach den Dreharbeiten von Detlev Bucks Film zur deutschen Einheit „Wir können auch anders“, in dem Joachim Król den Wessi Kipp spielte, haben sich der 60-jährige Schauspieler Król und der 1985 geborene renommierte Reporter Lucas Vogelsang auf den Weg gemacht, um Menschen im Osten und im Westen zu besuchen, die 1989 auf der Suche nach dem Glück noch einmal ein „neues Leben“ begonnen haben.
Ihre Reise beginnt im Ruhrpott – der dort tief verwurzelte Bergmanns-Sohn Król stammt aus Herne und Lucas Vogelsang war 2018 Stadtschreiber Ruhr –, sie folgt der einstigen Transit-Strecke und führt über Berlin bis an die Ostsee. Die beiden lassen sich von gescheiterten oder geglückten Lebensläufen erzählen, von Bauern und Grenz-Polizisten, von Menschen, die von West nach Ost und von Ost nach West umsiedelten und dort, wo sie landeten, zunächst Fremde waren. Im Ruhrgebiet, „das heute in vielem so kaputt aussieht, wie die DDR vor der Wende“, treffen sie auf die ehemalige Polizistin Ursula, die noch zwei Tage vor der Wende aus der DDR nach Bochum floh.
„Was wollen die denn hier“, ist immer wieder die auslösende Frage, die zu den unterschiedlichsten Lebensläufen von Menschen, mit denen sie sprachen, führt, zum Beispiel mit einem Sammler von DDR-Artefakten in Wattenscheid. Sie wollen erfahren, was schiefgelaufen, was gelungen ist. In Berlin treffen sie den Schauspieler Horst Krause, den Fußballer Andi Thon, aber auch die Kellnerin Cornelia Grüchow, die 30 Jahre lang in der Transit-Gaststätte Michendorf Süd kellnerte, wo Ost- und Westdeutsche unter Beobachtung der Stasi zusammensaßen und -aßen.
Sie begegneten Bergleuten aus dem deutsch-deutschen Braunkohle-Tagebau in Helmstedt-Harbke, aber auch Freifrau und Freiherr von Bodenhausen, die 1990 im Osten zunächst argwöhnisch beobachtet, einen heruntergekommenen Hof bei Marienborn aufmöbelten und schließlich, nachdem sie sich im Kirchenchor engagierten, dort eine neue Heimat fanden …
Eingängig begleiten uns bei dieser „Welt-Reise“ durch Deutschland die eindringlichen Stimmen des knorzig warmherzigen und oft staunenden Joachim Król und die des nüchterneren Reporters Lucas Vogelsang, der genau den Lebensbeschreibungen zuhört. Die Menschen in Ost und West wissen so wenig voneinander. Genau da setzt das Hörbuch vorbildhaft an und setzt auf Dialog.
Joachim Król
„Sie, junge Eltern und ungeduldig, waren bereit. Sie wollten, so sagt man nun mal, ihr Glück nochmal woanders versuchen, und wussten schon wo: Denn während ihnen die Heimat zu eng geworden war, standen drüben, das hatten sie gehört, die Dörfer oft genug leer, erodierten die Verhältnisse, wurde der Besitz neu verteilt. Eine Chance. Die blühenden Landschafen mal anders herum gedacht. Und so war die Grenzöffnung hier der große Durchbruch.“
Sieben Stunden lang kann man beiden Sprechern und den Erzählungen unmittelbar folgen und möchte immer mehr erfahren und weiter fragen. Dabei entsteht beim Zuhörer im Kopf ein abwechslungsreiches Mosaik von Viten, das deutlich macht, wie sehr die uns verbindende deutsche Sprache eben doch nicht dieselbe war und wie lange es dauert, bis die Wunden der Verletzungen geschlossen sind und wieviel Geduld es erfordert, bis so ein Gefühl von Gemeinsinn und Zusammengehörigkeit entsteht.
Lucas Vogelsang
„Hast du, fragt Joachim, nun mal mit Wessis gesprochen oder die Treffen mitbekommen, wenn sich da Verwandte gegenüber saßen, vielleicht sogar Tränen flossen? Sie schüttelt den Kopf. Für solche Gespräche, sagt sie dann hatte ich keine Zeit, das musste alles immer sehr schnell gehen: Essen auf den Tisch, abkassiert, Guten Tag, Wiedersehn. Sonst hätte ich das gar nicht geschafft. Aber, sagt sie, natürlich hat man das sofort gesehen, ob die Leute sich schon kannten, das gab es ja auch, die Familientreffen, die gar nicht so heimlichen Verabredungen. Menschen, die meist länger zusammen saßen, ein bis zwei Stunden bestimmt. „Die“, sagt Cornelia Wirt, haben wenig gegessen, aber hatten sich umso mehr zu erzählen.“
Joachim Król
„Das angeblich antifaschistische Geröll der DDR. Heute blühen dort Sonnenblumen, und an den besonders warmen Tagen fährt Rosemarie Aschasch dorthin und pflückt ein paar. Wer aber genau hinschaut, findet sie im teilweise hüfthohen Gras, hinter den Birken, auch im Frühjahr im Raps: die Überbleibsel der Grenze. Sie verraten den Todesstreifen. Dort wurde geschossen. Wir können uns das, sagt der Neffe, gerne mal anschauen. Dahinter, erklärt er, lag der einzige geteilte Tagebau Deutschlands, ein großes Loch, in dem Ost und West gemeinsam gebuddelt haben.“
Das einprägsame Hörbuch „Was wollen die denn hier?“ (6 CDs, Spielzeit ca. 490 Minuten) ist bei GoyaLit erschienen und kostet 22 Euro.