Ein Gespräch mit den Frankfurter Architekten Bilger Fellmeth
Bauen in der Stadt: Was hat Bestand? Was bedeutet es, heute neue hochwertige und nachhaltige Wohn- und Lebensräume in der Stadt zu schaffen? Über diese und ähnliche Fragen sprach für FeuilletonFrankfurt Petra Kammann mit Achim Bilger und Simon Fellmeth.
Besuch beim Frankfurter Architekten-Duo Simon Fellmeth (l) und Achim Bilger (r)
Petra Kammann: „Architektur befriedigt nicht nur Bedürfnisse des Komforts. Die Auseinandersetzung mit Architektur gleicht einem Gespräch: Herausforderung, Konzentration, Einverständnis, Unverständnis. Die Forderung nach solcher Offenheit in der Begegnung mit Architektur ist Bedingung für die Konzeption individueller und hochwertiger Gebäude.“ So steht es auf Ihrer Homepage. Sie sprechen eine Reihe von Aspekten an. Ist es denn so, wenn man an das Bauen in einer Stadt denkt, dass man sich da im Wesentlichen auf den Komfort bezieht? Wie sind Sie gerade darauf gekommen?
Achim Bilger: Wenn man sich der Grundaufgabe von Architektur stellt, dann könnte man sagen: Es geht zunächst einmal darum, eine Behausung zu schaffen, einen Witterungsschutz.
PK: Also schlicht ein Dach über dem Kopf zu bekommen?
Bilger: Das stellte ursprünglich etwa die Höhle oder die Hütte bereit. Das kann man vielleicht als Essenz von Komfort betrachten. Es geht aber um mehr. Sich heute darauf zurückzuziehen, dass etwas bequem oder komfortabel ist, von der Raumtemperatur bis zur Zimmergröße und Zimmeranzahl, ist nicht ausreichend, um eine Architektur als gelungen zu bewerten.
PK: Was gehört denn (heute) zum gelungenen Wohnen?
Simon Fellmeth: Wenn man bei Adam und Eva anfinge, dann gab es diesen rein technischen Aspekt von Architektur eigentlich nie ohne eine persönliche Haltung zur Gestaltung. Ähnlich wie bei der Kleidung. Sie schützt gegen Witterung und ist gleichzeitig Träger von Symbolik und Ausdruck von Schönheit. Und selbst in der Höhle wurden schon Wände bemalt, Zelte wurden bestickt. Architektur umfasst eigentlich immer diese zwei Aspekte, den des Nutzens und den, der sie zu einer individuellen Geste macht.
PK: Architektur hat also auch über das rein Funktionale hinaus einen Anspruch an Schönheit?
Fellmeth: Absolut. Schönheit ist ein weicher Begriff, der uns daran erinnert, dass die Architektur keine exakte Wissenschaft ist. Es gibt viele Aspekte an ihr, die man wissenschaftlich betrachten kann nach einem Nutzen und dem Messbarem. Aber vieles ist eben nicht messbar und Ausdruck von Kultur. Wenn es stimmt, dass die Schönheit im Auge des Betrachters entsteht, dann ist sie in hohem Maße subjektiv. Natürlich gibt es Architekten, die das Rationale oder den Nutzen in den Vordergrund stellen; die tun sich dann zwangsläufig mit dem Begriff der Schönheit schwer.
Simon Fellmeth * 1971, Studium an der Technischen Hochschule Darmstadt und der Columbia University New York, Foto: Petra Kammann
PK: Vielleicht hat das in der unmittelbaren Nachkriegszeit beim Wiederaufbau der Städte auch keine so große Rolle gespielt. Da war tatsächlich das Wichtigste erst einmal, ein Dach über dem Kopf zu haben. In vielen deutschen Nachkriegsstädten ist dann auch so etwas wie die „Unwirtlichkeit der Städte“ entstanden, welche durch den „Unsinn einer Entmischung“ und durch Monotonie den Verfall städtischer Öffentlichkeit bewirkte. So beschrieb der Schriftsteller und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich dieses Phänomen. Lässt sich mit dieser Einsicht an der Stadt von heute trotzdem weiter bauen?
Bilger: Die Architektur einer bestimmten Epoche lässt sich natürlich viel besser bewerten, wenn man betrachtet, worauf sie eine Reaktion war. Und wie in der Mode ist jede neue Saison immer auch eine Reaktion auf die vorhergehende. So möchte sich auch die jeweils jüngere Generation von der älteren absetzen. Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es schon diese Stimmung. Nicht allein der Komfort zählte, sondern vielmehr das Signal des Aufbruchs in eine neue, nicht historisierende Architektur.
Das Weiße und Pure der Bauhaus-Architektur, das nüchtern Neutrale steht zeichenhaft dafür. Ein Blanko-Moment, von dem aus die Geschichte neu gedacht werden sollte. Und insofern waren die Gebäudeentwürfe damals nicht nur rationelle Wohnmaschinen, sondern lichte helle Gehäuse, die völlig neu bespielt werden wollten.
In einem solchen visionären Moment, der von einer wahrhaftigen Idee durchdrungen ist, kann man auch von architektonischer Schönheit sprechen.
Achim Bilger * 1971, Studium an der Universität Stuttgart und der Akademie der Bildenden Künste Wien
Fellmeth: Dahinter standen dann auch größere politische Ideen, die nicht nur räumlich zu sehen sind, wie die Vision von der Befreiung der Menschen aus den Fängen einer beengten Kultur oder den dunklen Seiten der Nazizeit.
PK: Das gab es ja auch schon in der Bauhaus-Bewegung bzw. hier im „Neuen Frankfurt“, für das der Baudezernent Ernst May eine entsprechende Stadtplanung entwickelt und enorm viel Wohnraum für neue Gesellschaftsschichten in kürzester Zeit geschaffen hat. Setzt sich diese Tradition der Moderne eigentlich heute für Sie so fort? Und wenn ja, welche Bedingungen bringt das mit sich?
Bilger: Ja, das ist die Kernfrage, die uns alle umtreibt. Im Vergleich mit der notstandsähnlichen Ausnahmesituation unter Ernst May, der mit vielen Befugnissen ausgestattet war und sich ganz autark an diese Projekte machen konnte, sieht das heute natürlich anders aus. Da gibt es die örtlichen und bautechnischen Vorgaben und Normen, den Markt, der uns Architekten quasi die Handlungshoheit abgenommen hat. Auch die Kommunen suchen noch nach angepassten Steuerungsinstrumenten für den galoppierenden Wohnungsmarkt.
PK: In der Tat. Als Architekt muss man ja mit den Gegebenheiten arbeiten. Wie kann man auf so etwas reagieren? Da entstehen immerhin so neue Viertel wie zum Beispiel am Sachsenhäuser Berg in Nähe des umgebauten Henninger Turms. Da ist zwar keine Gartenstadt à la Ernst May entstanden, aber es sind „Stadtgärten“.
Fellmeth: In diesem Projekt wurde der Begriff aus dem Wettbewerbsverfahren hergeleitet, in dem suggeriert wurde, dass es in dieser Lage Wald, landwirtschaftliche Flächen und Schrebergärten gab. Doch der Begriff ist eher aus einer Marketing-Idee heraus forciert worden. Heute wird seitens des Entwicklers ständig nach „Stories“ gesucht. Da geht es vor allem darum, die Wohnungen gut zu vermarkten. Trotzdem lohnt es sich natürlich, über den Begriff „Stadtgärten“ nachzudenken. Entscheidend aber ist letztlich, für wen man da baut. Die Wohnungsnot ist groß. Und wir müssen den Spagat hinbekommen, Wohnraum zu schaffen, der einerseits zentral liegt und andrerseits den Anspruch erfüllt, im Grünen zu sein. Das ist eine große Herausforderung.
Urban ist die Randbebauung in den Stadtgärten in Frankfurt
PK: Wie lief denn das Prozedere im Falle der Stadtgärten genau ab? Es gab also Projektentwickler. Gab es aber auch eine Art Masterplan dafür?
Fellmeth: Technisch gesehen handelte es sich hier um eine Industriebrache. Eine Gesellschaft hat die Fläche der ehemaligen Henninger Brauerei übernommen und nach einer Verwertungsmöglichkeit gesucht und daraufhin einen mittelständigen Investor bestimmt, der in der Lage ist, das Quartier zu bauen. Dann folgte ein langes Prozedere und ein Bebauungsplan für dieses Gelände. Das zog sich über Jahre in enger Zusammenarbeit mit der Stadt hin, bis es einen Architektenwettbewerb gab, aus dem wiederum vier Büros hervorgegangen sind, die dann an der Umsetzung beteiligt waren.
PK: Wie viele der Häuser sind dabei von Bilger Fellmeth entstanden? Und handelt es sich in allen Fällen um den gleichen Haustyp?
Bilger: Sieben Häuser sind von uns. Es gab insgesamt drei Bauabschnitte, weil es in der Bauabwicklung vor Ort so einfacher ist und weil man im Marketing nicht sofort den ganzen Kuchen anbietet, sondern erst einmal einen Teil. Denn man versucht, die Reaktionen des Marktes in die Entwicklung des nächsten Bauabschnitts mit einfließen zu lassen. Bei dem Projekt „Stadtgärten“ hat sich gezeigt, dass Einheiten für Familien, die sich wünschen, zentrumsnah zu leben, sich aber andererseits auch in einer Reihenhaussituation sehen, besonders stark nachgefragt wurden. Das versuchte man dann zu berücksichtigen und in Form von Maisonette-Wohnungen zu realisieren.
PK: Wie vielgeschossig sind die Gebäude denn angelegt?
Bilger: Zwischen vier und sieben Geschossen. Die Verteilung auf dem Areal gestaltet sich in einer zunehmenden Dichte vom angrenzenden Wendelsweg mit niedrigen Einzelhäusern hin zum gegenüberliegenden Hainer Weg und dem Henninger Turm mit höheren Häusern in blockrandartigen Strukturen.
Fellmeth: Die Gartenstadt ist auf einem solchen Gelände und unter den heutigen Vorzeichen als Leitbild sicher zu wenig dicht für das, was wir jetzt eigentlich bauen müssen. Da ist sehr viel Grün und Gartenanteil vorgesehen. Wir haben hier eine hohe Dichte, was das Zusammenstehen der Baukörper anbelangt. Es war schon eine interessante Aufgabe: wie schafft man es, einen solch durchgrünten Charakter unter der Prämisse zu erreichen, dass die Baufelder nahezu komplett unterbaut sind. Denn unter diesen Gärten liegen Tiefgaragen. Hier wurde also die Idee des Reihenhauses in die Höhe „gestapelt“, um zu einer höheren Dichte zu kommen. So entstand also eine Art komprimierte Gartenstadt in der Höhe.
Für das Projekt „cubus“ wurden die Architekten ausgezeichnet
PK: Ließe sich so etwas auch an anderen Stellen in der Stadt realisieren?
Bilger: Vielleicht ist das eine romantische Vorstellung von uns, dass man insgesamt eine viel dichtere Stadt bauen könnte. Frankfurt ist ja vergleichsweise klein. Demgegenüber ist die Silhouette der Hochhäuser schon sehr hoch. Wir können uns aber eine noch städtischere Inszenierung vorstellen. Man denke z.B. an die Gallusanlage. Hier fängt die Dichte an, interessante Aussenräume, Stadträume zu bilden, die es nicht in jeder Stadt gibt. Die Anlage wird von der umliegenden Bebauung in solch einem Maßstab gefasst, daß ein eigenständiger Stadtraum entsteht. Man fühlt sich an den New Yorker Central Park erinnert.
Wenn im Sommer vor dem MMK 2 gefeiert wird, dann ist die Gallusanlage ein großes städtisches Wohnzimmer. Eine großartige Fassade dieses Wohnzimmers ist im Übrigen das Foyer der Oper. Es bleibt zu hoffen, daß die eventuell nachfolgende Architektur diese städtebauliche Aufgabe ebenso gut erkennt.
Entgegen der innerstädtischen Dichte mit all ihren Möglichkeiten soll sich die Stadt dann aber an ihren Rändern zügeln und sich nicht mit kleinstädtischer Bebauung in den Grünraum ergießen. Das ist doch ein tolles Bild, in einer dichten aufregenden Stadt zu leben und ganz kurze Wege in wirkliches Grün zu haben.
PK: Was sind denn die Voraussetzungen dafür, dass in diesem Sinne städtische Dichte gelingen kann? Blockrandbebauung, Staffelung verschiedener Höhen, grüne Innenhöfe? Oder gibt es noch andere Kriterien, um ein Bild von der idealen Stadt zu entwerfen?
Bilger: Letztlich ist es die Einsicht, dass man nicht alles gleichzeitig vor der eigenen Haustüre haben kann. Das Einfamilienhaus mit Garage, Garten und die Oper nebenan.
Stadt entsteht durch gemeinsame Räume und nicht durch Individualisierung und Autark-Sein. Stadt ist nicht, in die Tiefgarage rein- und rauszufahren und sich in ein abgeschiedenes privates Idyll zurückzuziehen.
Fellmeth: Man kann einfach nicht alle Qualitäten, die das Leben bieten soll, an einem Ort und zu jeder Zeit versammeln: Ruhe, städtische Dichte und die Landschaft im engeren Umfeld. Dann bräuchte niemand mehr vor die Tür zu gehen. Gerade in einer Stadt wie Frankfurt, wo man innerhalb von einer Viertelstunde wirklich in der Natur ist, was in anderen Großstädten nur den Wechsel des Stadtteils bedeuten würde, da ist es akzeptabel, dass ich diesen Weg in Kauf nehme und dann in der Stadt auf diese Art von Naturerlebnis verzichte. Stadt bedeutet immer auch Enge und sie hat mit etwas Steinernem zu tun. Sie verlangt mir die Fähigkeit des Lustaufschubs ab. Man kann sein Leben doch immer nur aus mehreren Stückchen zusammenfügen. Und ein sinnvolles Wohnen lässt sich nicht per Knopfdruck auf der Fernbedienung zusammenstellen, das wäre eine unangemessene Konsumhaltung. Die Stadt, der Platz, der Park, die Natur. Das sind unterschiedlichste Elemente, die als solche auch erkennbar bleiben sollten.
Komplementäres
Bilger: Bevor Simon und ich uns zusammengetan haben, habe ich ihn im Sommer in New York besucht. Wir sind von Manhattan aus an den Atlantik, an den Strand, gefahren. Mit Sand in den Schuhen sind wir zurückgekommen und am Times Square ausgestiegen. Der Stadtraum Manhattans und der Naturraum des Atlantiks – die Gegensätzlichkeit solcher Räume macht die Qualität aus, nicht die Vermengung.
PK: Nun ist der Main nicht der Atlantik.
Fellmeth: Nun haben wir ja auch von der Schönheit gesprochen, die mit einer Spannung zusammenhängt, die geradezu körperlich empfunden werden kann. Deshalb sind Unterschiede so wichtig. Der japanische Architekt Tadao Andoo drückt es in etwa so aus: „Je kälter die Wand, desto wärmer fühle ich mich“, d.h. ich muss etwas in mir entstehen lassen und nicht nur auf den Komfort zurückgreifen, der mir zur Verfügung gestellt wird. Das Erleben von Kontrasten ist für das eigene Empfinden außerordentlich wichtig.
PK: Ganz speziell nochmal zu Frankfurt. Ende der 70er Jahre sollten im Westend, insbesondere an der Bockenheimer Landstraße, etliche alte Häuser abgerissen werden und dafür Hochhäuser entstehen. Die AG Westend hat dann seinerzeit einen Baustopp erwirkt und auf diese Weise viele alte sehenswerte und geschichtsträchtige Häuser gerettet. Das war für die Stadt, die zwar eine große Geschichte aber wenig historischen Baubestand hat, eine wirkliche Wende. Könnte man Ihrer Meinung nach da heute auch wieder verdichten oder am einheitlich gestalteten Alleenring aufstocken? Oder gibt es andere Viertel, wo man ansetzen kann?
Bilger: Das Westend ist sicher nicht der Ort, an dem ich in Frankfurt ansetzen würde. Natürlich ist die Stadt eine große Collage, die sich ständig neu erfindet, zumal Frankfurt ohnehin schon sehr fragmentarisiert ist, ganz anders als Wien zum Beispiel in seiner Homogenität. Bei uns muss die fragmentarisierte moderne Collage ergänzt und weitergestrickt werden. Da würde ich die Gründerzeitviertel unbedingt ausnehmen. Es gibt so viele andere Sollbruchstellen im Frankfurter Stadtkörper, die sich da viel eher anbieten.
PK: Können Sie ein paar Beispiele nennen, am Rebstockgelände zum Beispiel?
Bilger: Wenn man die Politik mal rauslässt und den Städtebau quasi bildhauerisch betrachtet, dann denken wir sehr oft, dass entlang des Flusses in Richtung Offenbach doch einiges möglich wäre und man da weiterdenken sollte. Am Fluss liegt der Nukleus. Frankfurt hat schließlich am Main begonnen. Und bevor ich Naturräume im Umland weiter erschließe, würde ich mich diesem Kern zuwenden. Verdichtung erscheint da sinnvoller als in diesen Riederberg-artigen Gartenstädten, in denen man sich nur mühsam zurechtfindet. Sie stellen gesichtslose Stadtteile ohne räumlichen Halt dar. Am Fluss hätte das eine organisch innere Logik, ein Wachsen im Kern Frankfurts.
Fellmeth: Ich würde das ähnlich sehen. Das Bauen am Fluss ist eine Qualität für sich, und wenn man in Richtung Offenbach diese riesigen Flächen sieht, die Grüne-Soße-Felder, so ist das eine große Chance.
Bilger: Im Moment geschieht ja auch schon eine Menge am Kreisel.
Fellmeth: Abgesehen von der (ehemaligen) Konkurrenz im Fußball ist Offenbach ja ein Teil von Frankfurt und umgekehrt. Der Wohnraum ist dort etwa ein Drittel billiger, es gibt die Hochschule für Gestaltung und Anderes. Und gut angebunden ist Offenbach auch, mit der S-Bahn, die in wenigen Minuten am Südbahnhof ist. Daneben kann man mit dem Schiff oder per Fahrrad pendeln. Es bietet sich also an, dass sich diese beiden Städte stärker begegnen.
PK: Verkehrswege spielen eine große Rolle. Für das Städtische ist natürlich bedeutsam, dass auch die logistischen Wege vorhanden sind. Neue Viertel müssen oft erst neu erschlossen werden. Im Europaviertel kommt die U-Bahn etwas spät. Und die Verbindungen nach Osten sind insgesamt auch nicht so großartig. Außerdem fehlen manche Querverbindungen zu anderen Vierteln.
Fellmeth: In der Tat. Mit den Pendlern, die von weither kommen, mit denen möchte ich nicht tauschen. Das ist allerdings kein spezielles Problem von Frankfurt, sondern eher ein regionales.
PK: Nehmen wir nochmal Offenbach ins Visier. Da spielt die Konversion von ehemaligen Industriegebäuden eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Aus denen lässt sich vielleicht noch was Interessantes machen. Das sind ja auch besondere architektonische Herausforderungen. Es könnten aber auch Siedlungsbauten aus den 50er Jahren sein, die in Vielem heutigen Maßstäben nicht mehr entsprechen. Ist das für Sie ein Thema?
Bilger: Ja, wenn man die Städte nach speziellen Entwicklungsflächen absucht, dann kommen die logischerweise mit aufs Tableau. Hier setzt man sich auseinander mit dem, was vorher an dem Standort passiert ist. Gerade heute, wo wir zunehmend auf der Suche nach Authentizität und Echtheit sind, ist so etwas auch für die Investoren von Bedeutung, wenn man etwas über die Geschichte dieses Ortes erzählen kann: „Sie wohnen jetzt dort, wo zuvor dies und das geschehen ist, produziert wurde“ etc. Es begegnet uns oft, dass wir nur Teile eines baulichen Bestands integrieren sollen, wenngleich das häufig sowohl für die Ausnutzung des Grundstücks als auch konstruktiv schwierig ist.
PK: Macht es das Wohnen nicht auch teurer?
Fellmeth: Uns ist das zwei-, dreimal begegnet, dass wir größere Konversionsflächen bearbeitet haben, in Frankfurt, aber auch aktuell in Schwetzingen, wo es noch alte Fabrikgelände gibt und man die Identität einer Industriebrache in Form von Gebäudefragmenten wieder aufleben lassen möchte. Das ist natürlich erst einmal mit mehr Aufwand verbunden aber er steht in einem guten Verhältnis zum Mehrwert. Ein Stück Identität auf der grünen Wiese ist besonders schwer zu erlangen, weil man ja eigentlich im Niemandsland ist. Überall dort, wo eine Geschichte vorliegt, ist eben auch eine Anknüpfung möglich. Was die Kosten angeht, so muss mit zusätzlichen Belastungen gerechnet werden, durch Kontamination beispielsweise.
Bilger: Es gibt verschiedenste Möglichkeiten, wie man mit den Fragmenten umgehen kann. Da der Wohnungsbau in den Grundrissen und Gebäudeabmessungen jedoch häufig dem Markt folgt bzw. dem, was der Investor als marktgängig und tauglich empfindet, entsprechen die Bauelemente aus dem Altbestand meist nicht diesen Anforderungen, so dass oft nur z.B. ein Fassadenteil erhalten wird, hinter dem dann das neue Wohngebäude steht. D.h. die Schauseite wird erhalten, so dass oft die Fensterachsen dann nicht mehr stimmen. Natürlich ist es eine klarere Angelegenheit, in einem alten Gebäude Wohnraum herzustellen.
Fellmeth: Das Angebot ist wiederum auch nicht so groß, dass so etwas irgendein Wohnungsproblem lösen könnte. Das sind eher Liebhaber-Projekte, die dann häufig für die oberen 10 Prozent gedacht sind. Was viel eher ein Thema darstellt, ist die Nachverdichtung oder Nachumnutzung von Siedlungen aus den 50er Jahren, die häufig nicht so dicht und zu Ende gebaut sind. Darin steckt noch ein großes Potenzial, zumal diese Quartiere ohnehin energetisch saniert werden müssen. Dabei lässt sich dann häufig dieselbe Masse nachverdichten. Zum Beispiel in der Platensiedlung in Ginnheim. Man kann auch über Koppelungsbauten nachdenken, die den großen Abstand zwischen den Gebäuden überbrücken. Da lässt sich dann substanziell neuer Wohnraum schaffen. Dabei wertet dieser den vorherigen auf. Denn Vieles ist damals akustisch wie energetisch sehr einfach gebaut worden, weil schnelle Abhilfe geschaffen werden musste. Damals war außerdem der Grund noch günstig und untereinander unverbundene Solitärbauten in Grünflächen beliebt. Da sind heute die Bedürfnisse andere.
Raumfigur, Wohnbau „cubus“
PK: Sie haben doch auch Stadthäuser gebaut. Da spielt so etwas eine Rolle wie Öffnung, Schließung, Säumung, Querung, Zentrierung, Parzellierung, Traufhöheneinheiten. Könnte man für städtische Wohnanlagen heute so eine Art Kriterienkatalog erstellen? Oder wird das vielleicht in anderen Städten bereits so praktiziert?
Bilger: Im klassischen Städtebau bis ins letzte Jahrhundert gibt es so etwas wie Regelwerke. Da wurden in der Proportionslehre Abmessungen für Plätze und Traufhöhen formuliert, die für die Raumwirkung nichts an Aktualität verloren haben. In einer medial geprägten Umwelt gibt es immer noch ein Oben und ein Unten oder ein Empfinden für einen geschlossenen und einen offenen Raum. Trotzdem wird die Frage gestellt, ob so ein klassischer Kanon, der eine Ordnung und Gefasstheit repräsentiert, eine zeitgemäße Antwort ist auf die diffuse, fragmentarisierte und individualisierte Welt. Architekten wie Rem Kohlhaas, die neuere Abhandlungen zum Wesen der Stadt verfasst haben, sprechen von ganz anderen Möglichkeiten. Sie zeigen auf, dass wir in der Arbeitswelt zum Beispiel heute ortsungebundener sind, dass wir uns ständig in einem medialen Raum bewegen und dass daher das fragmentarisierte und lose Stadtnetzwerk das richtigere Abbild der Realität ist. Es stellt sich aber die Frage: Ist die Stadt nur Bild dessen, wie wir leben und auch miteinander umgehen, oder kann sie z.B. mit einem Mehr an Ordnung und Einfachheit adäquater Raum für das Ereignis sein. Das ist schon nicht so leicht zu beantworten.
PK: Könnte es nicht wie beim Bilderrahmen ein gemeinsames Passepartout unterschiedlich gerahmter Motive geben, was so etwas wie Einheitlichkeit entstehen lässt?
Fellmeth: Das könnte z.B. die Infrastruktur sein, die den gemeinsamen Rahmen stellt. Innerhalb dieses Rasters kann dann auch mal passieren, was will. Ich glaube aber grundsätzlich, dass es dem Menschen entspricht, unserer Wahrnehmung und inneren Stabilität, dass es eine Proportion gibt zwischen Dingen, die geregelt und geordnet sind, und dem, was frei ist, individuell, nicht zähmbar, merkwürdig oder auch kaputt. Alles, was unsere Wahrnehmung stark herausfordert, das Extravagante, auch das Verstörende, steht im Verhältnis zu einem größeren Anteil, der von Einförmigkeit und Ordnung geprägt sein müsste. So ergibt sich insgesamt eine Komposition. Zwischen einer erkennbaren Grundstruktur und dem Laissez-faire muss es eine Proportion geben, denn man kann den Städtebau nicht der Selbstregulierung überlassen.
Bilger: Ich glaube, dass die Kräfte, die derzeit wirken, einerseits Sehnsucht nach einer neuen Ordnung, nach Halt wachsen lassen, was sich ja auch in Wahlergebnissen ablesen lässt. Anderseits schreitet eine Individualisierung von Lebensmodellen stetig voran. Und die Stadt ist ein Abbild dessen, wie die Gesellschaft funktioniert. Jede Gesellschaft bekommt die Stadt, die sie verdient. Beide Bedürfnisse müsste Stadt abbilden: Die Ordnung, der Hintergrund, die Klarheit, die Einförmigkeit und andererseits das Besondere, der Akzent, die Ausnahme und auch der Fehler. Das Besondere findet also nicht in jedem einzelnen Gebäude statt, es kann vielmehr beim Leben in der Stadt entdeckt werden.
Der Wiener Architekt und Stadtplaner Otto Wagner, bringt das in seinen Entwürfen für eine Idealstadt auf den Punkt. Das sieht zunächst totalitär aus. Aber er entwickelt einen Teppich aus gleichförmigen Blockrandquartieren, dem dann aufwendige und opulente öffentliche Parks, Plätze, Palais einbeschrieben werden. Denkt man an Frankfurt, so müsste das dann als Collage übersetzt werden.
PK: Wie kann man sich eigentlich als Architekturbüro auf diese Situation einstellen und damit vernünftig planen?
Fellmeth: In unseren Bauwerken wollen wir das versuchen. In einem Gebäude müssen sich idealerweise die Räume wiederfinden, die man sich auch für die Stadt vorstellt. Denn ein Gebäude ist ja ein Stück Stadt. Wohnbauten sollten im Sinne eines „Containers“ im ersten Schritt mal eine relativ neutrale, zurückhaltende Hülle bilden. Wir sprechen oft von dem „Haus ohne Eigenschaften“, das in seinem Raster, seiner Maschenweite, in seiner Proportion erst einmal einen angenehmen Grundkörper bildet. Darin kann sich dann das Individuelle und das Farbige entfalten, wenn Menschen darin leben. Dann finden wir noch einen Ort oder ein Thema am Gebäude, an dem das Unnütze, Irrationale, das farbig Schillernde und Luxuriöse stattfindet. Aber in einem Maß, dass sozusagen das eine das andere adelt und uns nicht sofort laut anspringt.
Haus ohne Eigenschaften, O.M. Ungers
Bilger: Je mehr ich mich in meine Privatheit zurückziehe, umso weniger sollte in diesen Wohnräumen vom Architekten „vordekoriert“ werden. Je privater der Raum, desto mehr ist es dem Bewohner überlassen, was er daraus macht. Das ist sein „Lebensatelier“. In dem Moment, wo er sich peu à peu in die Öffentlichkeit bewegt, gibt es die Tür, das Treppenhaus, den Wohnungseingang, die paar Meter bis zum Gehweg. Räume, die nicht ausschließlich privat sind, sondern Räume der Begegnung. Und die dürfen als solche eine andere Behandlung erfahren. Das sind die Orte, wo man den Nachbarn trifft oder den Postboten. Da entsteht so etwas wie Öffentlichkeit. Der Hintergrund, das Passepartout und die Begegnungsräume in der Stadt, die verlangen zwei verschiedene Gestaltungsmaßstäbe.
PK: Haben wir inzwischen einen falschen Begriff von Öffentlichkeit? Ist der öffentliche Raum für uns nicht mehr sichtlich definiert, zum Beispiel durch eine entsprechende jedermann zugängige Stadtmöblierung, die man aber ebenso respektvoll behandeln sollte?
Fellmeth: Ja, man erkennt schon eine Form von Nachlässigkeit gegenüber dem öffentlichen Raum, der so eigentlich keine Lobby hat. Er ist oft ein undefiniertes Überbleibsel von dem, was partikulare Interessen – Bauherren, Menschen, Besitzer – eben übriglassen.
PK: Wie sieht es mit öffentlichen Bauten aus, wenn man beispielsweise Sozialbauten wie Wohnanlagen für Ältere oder Kindergärten oder -tagesstätten plant? Muss man da gleich wegen der Bedingungen anders rangehen?
Fellmeth: Wenn man vom Kindergarten spricht, dann baut man für eine kleine schützenswerte Gemeinschaft, die neben dem Kontakt zur Öffentlichkeit auch starke Eigenbedürfnisse hat, die sich vom Rest der Bevölkerung unterscheiden. Da ist es wichtig, eine Intimität und einen Schutzraum zu schaffen. Und erst in zweiter Linie eine Schnittstelle zur Öffentlichkeit. Insofern sind solche Bewohnerschaften mit ihren speziellen Bedürfnissen der Nukleus für ein Projekt, bei dem sich in der Folge aber die selben Fragen stellen wie bei jedem Wohnhaus: den Ausdruck nach außen, den Bezug auf das Dorf oder die Stadt und was dem öffentlichen Raum zurückgegeben wird.
Konzeptmodell, Kinderhaus Kirchheim
Bilger: Wie Senioren als Teil der Stadtgemeinschaft wohnen, hat sich ja stark verändert. Schon lange nicht mehr im Altenheim vor den Toren der Stadt. Möglichkeiten bilden sich vor allem im ländlichen Raum. Wo sind der eine Bäcker und dieses Postamt? Das Kleingewerbe verschwindet, wie auch der „Goldene Schwan“ und die „Krone“. Die Ortskerne entleeren sich zunehmend. Da gibt es den Nahversorger an verkehrstechnisch gut gelegenen Standorten auf der grünen Wiese. In den kleinen Gemeinden zwischen Frankfurt und Karlsruhe, wo wir viel unterwegs sind, haben fast alle mit dem Strukturwandel zu kämpfen. Was inzwischen also von den Gemeinden erkannt, und auch von den älteren Menschen gut angenommen wird, ist, sich wieder in den Ortskernen anzusiedeln und damit für eine neue Belebung zu sorgen. Bleibt die Frage, wie sich das zu den jungen Familien verhält, die nach wie vor in die neuen Reihenhäuser am Rande des kleinen Ortes ziehen.
PK: Ist das Mehrgenerationenhaus so ein Raum, selbst wenn das Gewerbe nicht unmittelbar vor der Haustür ist?
Fellmeth: Das ist insofern problematisch, weil es in den seltensten Fällen gelingt, dieses Versprechen zu realisieren. Deshalb stehen vor allem die älteren Menschen im Vordergrund. Wir haben wenige Kinder und viele alte Menschen. Und für sie müssen wir neue Wohnformen finden. Was erfolgreich sein kann– wir haben gut zwei Dutzend Wohnanlagen für Senioren gebaut –, wenn man sie mit Kindergärten kombiniert. Aber trotzdem muss man erst einmal die Bedürfnisse der älteren Menschen begreifen und dafür Lösungen finden. Die Spanne von der Rente bis hin zum Tod ist doch meist ziemlich lang.
Die Senioren suchen auch nach einer neuen Integration, wenn sie das Arbeitsleben hinter sich gelassen und festgestellt haben, dass ihre Häuser zu groß sind. Dann wollen sie sich oft verkleinern und wieder zentrumsnaher wohnen, um an allem zu partizipieren. Deshalb sind die Angebote für betreutes Wohnen auch meist zentrumsnah. Es gibt zwei Momente im Leben, wo man sich immobilienmäßig neu orientiert: Als junge Familie, wenn man ein Haus kauft, und dann, wenn die Kinder aus dem Haus sind, sich nochmal die Gelegenheit bietet, Besitz umzuformen, das Haus zu verkaufen und eine Wohnung zu erwerben. Genau in diese Nahtstelle drängt natürlich auch der Markt. Es ist ein wirklich großer Markt.
PK: Da gelten sicher auch gewisse Voraussetzungen, mit denen man vermutlich ganz anders planen muss. Welche Kriterien sind für Architekten wichtig? Sicher die freie Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit auf verschiedenen Ebenen.
Bilger: Das, wie auch die Wohnung uneingeschränkt mit dem Rollstuhl benutzen zu können, hält inzwischen schon im ganz normalen Wohnungsbau Einzug. Dazu kommen dann ambulante Serviceangebote, die den älteren Menschen zur Verfügung stehen, von der Essensauslieferung bis zur medizinischen Versorgungen, je nach Bedürftigkeit. Das Gebäude muss die entsprechenden Voraussetzungen bieten, möglichst ohne den Charakter eines normalen Wohngebäudes zu verlieren.
PK: Auch Gemeinschafts- und Begegnungsräume?
Wenn es um betreutes Wohnen geht, dann sind das häufig Wohnanlagen mit 30 bis 40 Wohnungen. Verschiedene Größen sind auf die finanzielle Möglichkeit der Bewohner zugeschnitten. Viele ältere Menschen leben allein, häufig sind es Frauen. Dann spielt natürlich das Thema Einsamkeit eine große Rolle. Deshalb soll gerade der Versuch gemacht werden, diese Menschen in gemeinsamen Wohnanlagen unterzubringen. Dafür sind die Gemeinschaftsräume geeignet, wobei die relativ selten geplant werden, weil sie häufig nicht finanzierbar sind. Denn die Kosten müssen auf alle umgelegt werden. Dann werden Aktivitäten angeboten, so dass so etwas wie eine Hausgemeinschaft entsteht. Die Fitten helfen denen, die nicht mehr so fit sind. Später ist es dann umgekehrt, so dass jeder möglichst auch in den Genuss des Mehrwertes kommt, unter anderen zu sein. Dabei entsteht sowohl eine soziale Kontrolle, als auch Animation und Teilhabe. Deswegen haben wir häufig Laubengangerschließungen geplant. Oft ist es für die älteren Menschen nämlich wichtig, dass sie sich anziehen müssen, um kurz in die Gemeinschaftsräume zu gehen. Dadurch wird zudem der Sog der Verwahrlosung und Lethargie gebremst, wenn Menschen sich in der Öffentlichkeit zeigen müssen. Sie erhalten sich dann auch selber stärker aufrecht. So etwas kann man also architektonisch durchaus entsprechend planen und gestalten.
PK: Sie haben da tatsächlich Laubengänge und einen schräg stehenden Turm eingeplant. Ist das üblich?
Fellmeth: Man muss zwischen dem betreutem Wohnen und einem Pflegeheim unterscheiden. Das Pflegeheim unterliegt anderen baurechtlichen Bestimmungen. Früher lebten dort Menschen oft jahrelang. Heute ist die Verweildauer in diesen Pflegehäusern sehr viel kürzer. Dahin kommt man ab einer bestimmten Pflegestufe, wenn man zu Hause nicht mehr zurechtkommt und keine Angehörigen hat, die das machen können. Eigentlich versucht man aber, von diesen großen Häusern wegzukommen, stattdessen klein und familiär in Nähe des Heimatorts zu bleiben, damit die Menschen so lange wie möglich in Eigenverantwortung leben. Über nachbarschaftliche Hilfen und modulares Buchen von Services können sie ambulant und integriert versorgt werden, was natürlich auch finanzielle Vorteile hat.
PK: Kommen wir zu anderen Gebäuden, die Sie verwirklicht haben. Sie haben einen Preis für das Projekt „Cubus“ bekommen? Welche Rolle spielt beim Bauen die Materialität, Ökologie und Nachhaltigkeit? Oft muss unförmig gedämmt werden. Wie lässt sich das mit dem Thema Schönheit vereinbaren?
Fellmeth: Natürlich begleitet uns das Thema. Gestalterisch interessiert uns das allerdings nur bedingt. Wir haben auch Passivhäuser geplant. Dieser Standard ist aber durchaus nicht unproblematisch. Aus dem Nutzungszyklus eines Gebäudes gedacht, da technische Lösungen in fünf oder zehn Jahren schon wieder völlig andere sein können, ist die nachhaltige Gestaltung vielleicht ein größerer Hebel als die scheinbar vielversprechende Technik. Wir finden, dass die Gestaltung eines Gebäudes auch eine Form von Nachhaltigkeit in sich trägt. Sie sollte nicht immer modisch sein, dafür aber die Zeit überdauern, denn ein Haus will auch in 20 Jahren noch gemocht werden.
Rhythmus und Folge, Boardinghaus „midori“
Bilger: Ein anderes Beispiel: Es ist so, ich kann jede Saison neue günstige Schuhe kaufen die dem Trend entsprechen und dann weggeworfen werden. Ich kann aber auch wertige, in der Gestaltung klassischere Schuhe kaufen, die auch mal zum Schuster gebracht werden können und nicht in dem Maße Trends unterworfen sind.
Es gibt eine große Sehnsucht nach echtem Material, das man gerne anfasst. So ist ein sogenannter Echtholzfußboden angenehmer als eine dünne Laminatschicht mit einem Holzmaserungsaufdruck, auch wenn ich den besser wischen kann und er die Farbe nicht verliert.
Ein Großteil der Bauteile im Wohnungsbau, zumindest an der Oberfläche, sind heute aus Kunststoff. Wohnungskäufer, die zur Wohnungsübergabe mit Gutachter oder Anwalt erscheinen, erwarten, daß das Gebäude in 10 Jahren unverändert gleich aussieht. Patina gibt es in dieser Betrachtung nicht.
Wir vermuten jenseits dieser hochgezüchteten, energietechnisch aufwendig optimierten und Patina-resistenten Gebäude einen anderen Ansatz zu Echtheit und Nachhaltigkeit. Eine neue Auffassung von Einfachheit, eine Art Entschlackung, die aber sehr sinnlich sein kann.
Formen und Materialien
PK: Ist so etwas leichter in Einfamilienhäusern zu verwirklichen? Oder hängt es vom Reichtum des Auftraggebers ab, der sich eine nachhaltige und hochwertige Materialgestaltung leisten kann?
Fellmeth: Ich würde das relativ neutral sehen. Es hat eher mit der Bereitschaft des Bauherrn zu tun, nachzudenken, auch auf Dinge zu verzichten zugunsten von etwas Höherwertigem. Man kann eben nicht alles verwirklichen und auch wir können in den seltensten Fällen aus dem Vollen schöpfen. Handwerkliche Leistungen sind bei uns in Deutschland sehr teuer geworden. Etwas von Hand zu machen, ist fast nicht mehr bezahlbar. Es braucht eigentlich immer Systemlösungen. Und dann verbaut man eben Industrieprodukte. Wenn man sich etwas anderes wünscht, dann muss man sich überlegen, worauf stattdessen verzichtet werden kann, ganz gleich, ob es sich um ein Einfamilien- oder ein Mehrfamilienhaus handelt.
PK: Können Sie sich vorstellen, heute ein Haus wie das Privathaus von Martin Elsäßer zu bauen mit vielen handwerklichen Raffinessen, durchdacht und durchgestaltet, vom Keller bis zum Dach?
Bilger: Auch heute werden für private Familien durchdachte Häuser gebaut. Was im Zusammenleben einer Familie wichtig ist, sieht heute anders aus als noch vor hundert Jahren. Der offene Wohnraum beispielsweise, verbunden mit dem Kochen, ist ganz wichtig geworden. Selbst in unseren Geschosswohnungsbauten sind gegenüber den früheren Küchenräumen und Wirtschaftsräumen oft Kochinseln schon standardmäßig eingeplant. Auch das Bad ist nicht mehr nur eine Nasszelle wie noch in Mies van der Rohes Villen. Das sind heute eher Badelandschaften. So verschieben sich eben die Bedürfnisse.
Privates Wohnhaus
PK: Gibt es da noch andere Beispiele?
Fellmeth: Ich bemerke eine starke Entwicklung hin zu Komfortzonen und Wellnessbereichen! Das Wohlfühlen nimmt einen großen Raum ein. Es wird ge-lounged und ge-chilled. Das Wohnen ist sehr stark mit solchen Entspannungsversprechen und Urlaubsbildern aufgeladen. Da die Menschen offensichtlich nicht so häufig zu Hause sind und sich unter einem starken Leistungsdruck fühlen, wird das Zuhause zu einem umso wichtigeren Refugium. Dabei wird das aufrechte Dasein zu Hause, das Repräsentieren eher zurückgedrängt. Die Wünsche haben sich einfach geändert.
Elsäßer als Architekt ist sicher auch deshalb eine interessante Figur, weil er sich einerseits der neuesten Techniken bediente wie beim Bau der Großmarkthalle mit ihren filigranen Betonschalen, gleichzeitig aber auch traditionelle Sockel schaffte, die exzellent und detailreich gemauert sind. Er deckt somit verschiedene Bedürfnisse ab: das Bewährte, die Tradition und das Massive, kombiniert mit neuen technologischen Versprechen.
PK: Welche Wohnformen interessieren Sie als Architekten denn am meisten?
Bilger: Das Wohnen in der Stadt. Die Gestaltung von dichten, vielfältigen Wohnformen ist Ausgangspunkt und Bedingung für das Entstehen jeder städtischen Kultur.
Ein Schwerpunkt des Büros ist außerdem die Entwicklung von Wohnformen für Senioren.
Fellmeth: Ich würde gerne als Architekt auch mal eine Aufgabe übernehmen, die mir völlig unbekannt ist. Und natürlich würde es mich sehr reizen, ein Wohnhochhaus zu bauen.
Bilger: Das fände ich ebenfalls reizvoll und es setzt stark am Kern des Wohnens selbst an. Natürlich würde ich auch sehr gern ein Wohnhaus für jemanden entwickeln, den ich sehr schätze und wo ich auf die inhaltliche Auseinandersetzung sehr gespannt wäre. Das könnte vielleicht ein Vertreter der Bildenden Kunst, ein Schriftsteller oder jemand sein, bei dem ich das Gefühl habe, dass er mit großer Offenheit und Sensibilität an so ein Projekt herangeht, so dass aus dem Diskurs etwas Besonderes entstehen kann.
PK: Ist das Haus des Architekten Ungers so ein Beispiel?
Bilger: Hier ist die Frage, wie viel Ausdruck oder wie viel Nüchternheit schreibt man einem Haus ein. Ist der Bewohner selbst, sein Leben, sein Alltag, sein Schaffen schon Ausdruck genug? Ist das Haus nur Passepartout? Ist der Bewohner außerdem bereit, sich auf einen Dialog einzulassen mit Räumen, die sperrig sind und nicht nur maßgeschneidert mit dem Ziel größten Komforts? Was entsteht, wenn eine Altbauwohnung einen unpraktischen, überflüssigen Raumwinkel hat? Wie gehe ich mit einem Stuhl von Ungers um, der gar nicht komfortabel sein kann? Was kann in diesem Moment entstehen?
PK: Wie wohnen Sie selbst?
Fellmeth: Keiner von uns hat bislang für sich selbst gebaut. Wie so ein individuelles Projekt für einen speziellen Bauherrn aussehen würde, das kann man nicht abstrakt prognostizieren. In einem Hinterhof in Frankfurt ist das eine andere Aufgabe als am Comer See.
Szenografisches Verständnis für die Stadt, Prototypen für Frankfurt
Bilger: Aber ich fühle mich mit Frankfurt sehr verbunden. Wenn ich mit dem Fahrrad und offenen Augen durch die Stadt fahre, fällt mir immer etwas Neues auf. Und dann habe ich das Gefühl, hier müsste man weiterbauen. Da schlummert noch ganz viel. Frankfurt ruht nicht, es ist klein und wendig. Mir imponiert hier sowohl die Kompaktheit als auch die Vielfalt und Dynamik. Insofern könnte Frankfurt für mich eine sehr moderne Großstadt sein und werden, gerade weil sie kein Riesenkoloss ist, der kaum mehr steuerbar ist. Man kann hier noch Entscheidungen treffen. Die Frage stellt sich in besonderem Maße: Welche Dichte ist bei allem lebenswert? Wie kann man die Polarität zur Natur im Umland weiterentwickeln und ausbauen? Der Hochhausrahmenplan ist ein Instrument, das sich bewährt hat. Wenn man sich vorstellt, die Dramaturgie der Silhouette, die sich aus der Bildung von Hochhausclustern generiert, in den Flächenplan zu übertragen im Sinne von Dichteclustern und Freiräumen. Dann werden städtebauliche Figuren wie die des Central Park denkbar.
Solche Figuren entwickeln einen eigenständigen Charakter, es entstehen Stadtbilder. Ein szenografisches Verständnis für Stadt halte ich wirklich für sehr wichtig. Es müsste eine unabhängige zukunftsweisende Diskussion geben, welche Art von Stadträumen und Stadtbildern sich in Frankfurt herausbilden sollen.
PK: Könnte eine solche Diskussion nicht am Deutschen Institut für Stadtbaukunst, das jetzt von Dortmund nach Frankfurt gezogen ist, geführt werden?
Fellmeth: Jede gesamtheitliche Sicht auf die Stadt ist ein wichtiger Beitrag, ganz gleich, welcher Meinung man ist, wie man sie sagt und wo. Es ist ein elementarer Diskurs, der unabhängig von der politischen Situation geführt werden muss.
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