„Flügelschlag. Insekten in der zeitgenössischen Kunst“ im Sinclair-Haus
Von bemalten Insekten über „Lästlinge“ bis Mottenloch
Von Hans-Bernd Heier
Die Beziehung von Mensch und Insekt ist seit jeher von Ambivalenzen gekennzeichnet: von Nutzen und Schaden, Fluch und Segen, Faszination und Angst. Die Thematik ist aktueller und drängender denn je. Denn das Insektensterben hat den Blick der Menschen auf die kleinen Kerbtiere verändert: Ihre immense Bedeutung für das fragile ökologische Gleichgewicht der Natur ist nicht nur in den gesellschaftspolitischen Fokus geraten, sondern auch der Kunst. Mit der Ausstellung „Flügelschlag. Insekten in der zeitgenössischen Kunst“ widmet sich das Museum Sinclair-Haus diesem brisanten Thema. Zu sehen sind zeitgenössische Positionen von 20 nationalen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern.
Akihiro Higuchi, HANA, H0118; © Akihiro Higuchi, Courtesy of Mikiko Sato Galerie, Hamburg
Die enorme Vielfalt, die Raffinesse und das sehr unterschiedliche Aussehen der Sechsfüßler haben seit jeher Künstlerinnen und Künstler angeregt. Schon seit der Antike begegnen uns Insekten-Motive in Darstellungen. In der Stillleben-Malerei der Mitte des 17. Jahrhunderts gelten Insekten als Zeichen für Vergänglichkeit. Die herrlichen Aquarelle, Zeichnungen und Stiche der großen Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian erfreuen noch heute Kunstliebhaber. Auch in der zeitgenössischen Kunst haben die Motive nichts an Reiz verloren
Christa Sommerer & Laurent Mignonneau, People on the Fly; © Christa Sommerer & Laurent Mignonneau, Courtesy of Galerie Anita Beckers, Frankfurt
Die Abwesenheit von Insekten wird immer spürbarer und damit wächst die Sehnsucht nach ihrer Rückkehr. Jahrzehntelang wurden die Tiere mit Insektengiften und -fallen vertrieben, nun werden „Insektenhotels“ im Garten installiert, Bienenstöcke aufgestellt und mancherorts müssen schon Menschen die Bestäubung von Pflanzen manuell mit ausgeklügelter Technik übernehmen. „In ihren Arbeiten spüren die Künstler dieser Verschiebung in der Beziehung von Mensch und Insekt in vielfältiger Weise nach“, sagt Dr. Andrea Firmenich, Direktorin des Museums Sinclair-Haus und Geschäftsführerin der Stiftung Nantesbuch. Diese Stiftung entstand seit 2012 unter ihrer Leitung im Bayerischen Voralpenland. In der Stiftung für Kunst und Natur wurden 2017 die ALTANA Kulturstiftung und das Museum Sinclair-Haus unter einem gemeinsamen Dach vereint. Zum 1. November 2019 geht die Kunsthistorikerin als Generalsekretärin in den Vorstand der Kunststiftung NRW in Düsseldorf.
„Schwarmverhalten und seine Übertragbarkeit auf menschliche Gesellschaften ist in der Ausstellung im schmucken Sinclair-Haus ebenso eine Fragestellung wie der Versuch der Sensibilisierung für die Einzigartigkeit der von Menschen oftmals als „Schädlinge“ bekämpften Insekten“, erläutert Kuratorin Ina Fuchs das Konzept der spannend inszenierten Schau.
Zu sehen sind insgesamt 60 Werke von: Anita Albus, Mirko Baselgia, Bertozzi & Casoni, Lili Fischer, Esther Glück, Lea Grebe, Dominic Harris, Akihiro Higuchi, Timo Kahlen, Christa Sommerer & Laurent Mignonneau, Claire Morgan, Maximilian Prüfer, Vroni Schwegler, Günther & Loredana Selichar, José María Sicilia, Gregor Törzs und Rosemarie Trockel. Das Spektrum der präsentierten Arbeiten reicht von Reliefs, Skulpturen, Zeichnungen bis hin zu Fotografien, interaktiven Film- und Sound-Installationen. Die Schau reiht sich nahtlos in das Gesamtprogramm des Sinclair-Hauses Natur und Kunst ein.
Aus der Fülle der exzellenten Exponate seien einige besonders vorgestellt: Der Japaner Akihiro Higuchi bemalt unter dem Mikroskop sehr fein Insektenflügel mit Lack und „verwandelt sie in erträumte Wesen“, so die Kunstwissenschaftlerin Alma Balmes. Wie bei Insektenbroschen des Jugendstils wird der Schädling durch florale Ornamente zu einem Schmuckstück.
Kuratorin Ina Fuchs und Dr. Andrea Firmenich, Direktorin des Museums Sinclair-Haus, bei der Pressekonferenz; Foto: Gisela Heier
In Rosemarie Trockels Werk spielen Menschen und Tiere eine wichtige Rolle. Für sie ist „jedes Tier eine Künstlerin“. Mit diesem Satz greift sie Joseph Beuys bekannten Satz auf: „Jeder Mensch ist ein Künstler“. In ihrem Video „à la Motte“ (1993) zeigt Trockel den destruktiven und gleichzeitig produktiven Schaffensprozess einer Motte, in dem sie die Chronologie einer Bildreihe umkehrt. Ein Mottenloch wird darin von der Motte selbst wieder beseitigt.
Anita Albus, „Isabellafalter”, 2012; Aquarell mit Deckweiß auf Pergament; © Anita Albus
„Baby Flutter“ (2012) des britischen Künstlers Dominic Harris besteht aus einer Reihung neun kleinformatiger LCD-Screens, auf denen jeweils das Bild eines Lieblingsschmetterlings von Harris zu sehen ist. Nähert sich der Betrachter den interaktiven Screens, kommt Bewegung in den zunächst starr ruhenden Schmetterlinge und sie beginnen in Zeitlupe zu flattern. Ebenfalls interaktiv ist die großformatige Videoinstallation des Künstlerpaars Laurent Mignonneau & Christa Sommerer. In „People on the Fly“ aus dem Jahr 2016 werden vorbeigehende Museumsbesucher und Passanten gefilmt und gescannt. Sie erscheinen dann auf einer großen Videowand und werden sogleich optisch von einem virtuellen Fliegenschwarm verfolgt und eingehüllt. Die Formation des Insektenschwarms passt sich dem jeweiligen Profil und den Bewegungen des erfassten Betrachters genau an. Besucher werden so zu Akteuren der Installation. Sobald sie stehen bleiben, wendet sich der Schwarm ab und sucht sich ein neues „Opfer“.
Gregor Törzs „Wing Wing No. 3“, Platinum Palladium Print, 2018; © Gregor Törzs, Courtesy of Persiehl und Heine Galerie für Fotografie
Seine jüngste Arbeit „A Gift from him“ (2018/19) führte Maximilian Prüfer nach China in die Provinz Sichuan. Dort sind die Wildbienen bereits ausgestorben. Damit die Obst- und Gemüseversorgung sichergestellt werden kann, sind während der Blütezeit Scharen von chinesischen Arbeitern unterwegs. Sie bestäuben ganze Plantagen manuell, indem sie Pollen mit an Bambusstöcken befestigten Hühnerfedern auf die Pflanzen verteilen. Prüfers künstlerische Recherche dreht sich um die Frage: Mit welchen Auswegen gelingt den Menschen eine Adaption an die neuen Gegebenheiten? Diese Überlegungen beweisen, wie zeitlos Buddhas Ermahnung ist: „Wer seinen Wohlstand vermehren möchte, der sollte sich an den Bienen ein Beispiel nehmen. Sie sammeln den Honig, ohne die Blumen zu zerstören“.
Mirko Baselgia „„Antupada – The Bee dreams up the Flower and the Flower dreams up the Bee“, 2012, Relief aus Wachs; © Mirko Baselgia
Den enormen Insekten-Rückgang bemerken auch Autofahrer. Selbst nach einer langen Autofahrt sind die Windschutzscheiben der Fahrzeuge oft noch sauber und nahezu insekten-frei. Das war vor zwei Jahrzehnten noch anders, wie auf dem Video von Günther & Loredana Selichar eindrücklich zu sehen ist. Im Verlauf der fünfminütigen Fahrt schlagen immer mehr Insekten auf die Scheibe, machen diese zunehmend schmutziger, in dem Video allmählich sogar „blickdicht“. Die Windschutzscheibe mutet am Ende des Videos wie ein in der Technik des Drip-Paintings gemaltes Bild an.
Im Gegensatz dazu fängt Greorg Törsz in seinen Schwarz-Weiß-Fotografien die Anmut von Faltern ein. Und der Künstler Timo Kahlen beschäftigt sich schon seit Jahren mit Bienen. In der gemeinsam mit dem indischen Sounddesigner Ranjit Makkuni entstandenen Arbeit „Bags of Bees“ (2009) wird eine herkömmliche Papiertüte zum Raum für das Klangspektrum eines Bienenschwarms, der nicht anwesend ist. Mit wechselnder Intensität dringt das Summen der Tiere aus dem Inneren des Papierbehälters und umgibt die Besucher.
Bei einigen Werken wird das von Insekten hergestellte Material selbst zum Werkstoff, wie Mirko Baselgias Arbeit „Antupada – The Bee Dreams up the Flower and the Flower Dreams up the Bee“ zeigt – ein aus Wachs gearbeitetes Relief. Die irische Künstlerin Claire Morgan nutzt in „Speaking Volumes“ (2014) Schmeißfliegen, Löwenzahnsamen und Nylonfäden für ein scheinbar schwebendes filigranes Arrangement. Die Hamburger Künstlerin Lili Fischer beschäftigt sich in ihren Zeichnungen mit Schnaken, die sie „Lästlinge“ nennt.
Eine bunt blühende „Insektenweide“ im Vorhof des Sinclair-Hauses; Foto: Gisela Heier
Ergänzt wird die Präsentation von naturwissenschaftlichen Exponaten aus dem Senckenberg Naturmuseum. Zur Ausstellung passend ist im Vorhof des Museums eine prächtige, bunt blühende „Insektenweide“ angelegt, der die Besucher auf die unterhaltsame und vielseitige Schau einstimmt.
„Flügelschlag. Insekten in der zeitgenössischen Kunst“ bis zum 13. Oktober 2019 im Museum Sinclair-Haus; weitere Informationen unter: www.museum-sinclair-haus.de
Bildnachweis (soweit nicht anders bezeichnet): Museum Sinclair-Haus