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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Ruhrfestspiele Recklinghausen 2019

Poesie und Politik Shakespeare und Brecht, Lyrik und Techno

von Simone Hamm

„The Great Tamer“ von Dimitri Papaioannous, Foto: Julian-Mommert

„Kunst für Kohle“ hieß und heißt das Motto. Und das hat eine lange Geschichte. Im eisigen Nachkriegswinter 1946/47 standen die Hamburger Theater vor der Schließung, denn es gab keine Kohle zum Heizen. Sie baten die Zechen im Ruhrgebiet um Hilfe. Die Bergarbeiter halfen gern, luden Kohle auf LKWs und umgingen schlau die Kontrollen durch die Besatzungsmächte. In Hamburg wurde Theater gespielt. Im Sommer 1947 dankten es 150 Schauspieler Hamburger Bühnen den Recklinghausenern. Sie gaben kostenlose Gastspiel, eben Kunst für Kohle. Um Mitternacht legte Lars Eidinger auf. Mit Techno und deutschen Mitsinghits endeten die diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen. In den vergangenen Wochen war Recklinghausen zur internationalen Spielstätte geworden. Zum erstmal war Olaf Kroch der Intendant. 850 Künstler und Künstlerinnen aus 16 Ländern waren zu Gast. und 64.000 Gäste waren gekommen, um das mitzuerleben.

Othellobon Robert Ciulli, Foto: Dagmar Geppert

Auch in diesem Jahren waren Gäste aus Hamburg gekommen. Unter der Regie von Karin Beier wurde „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ aufgeführt. Und im Zeitalter von #metoo gab es im Programmheft einen ironischen Hinweis: „Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass in dieser Vorstellung exzessiv geraucht wird. Außerdem kann es zur Verwendung expliziter, nicht gendergerechter Sprache kommen. Es werden lebensgefährliche Mengen alkoholischer Getränke konsumiert…Es kommt regelmäßig zur Darstellung häuslicher Gewalt…Wir danken für Ihr Verständnis und versichern, dass unter keinen Umständen Nackte zu sehen sein werden…“

Peter Brook und Marie-Hélène Estienne „The Prisoner“, Foto: Simon Annand

Das fasst den Inhalt ziemlich exakt zusammen: Maria Schrader und David Stresow sind das wohlsituierte Akademikerpaar. Matti Krause und Josefine Israel spielen das naive junge Paar. Schrader und Striesow streiten und versöhnen sich, und vor allem trinken sie. Ziemlich viel. Karin Beier lässt das konservative Rollenbild wie es ist, nimmt keine neue Texte zur Hilfe, um den Zuschauern zu erklären, was sie ohnehin wissen, nimmt stattdessen die Zuschauer ernst, denn mögen die Rollenbilder auch heute ganz andere sein, die Hölle der Ehe, die Eifersucht, die Konkurrenz, die gibt es immer noch. Zum einen wirkt „Virginia Woolf“ deshalb nicht verstaubt, zum anderen der großartigen Schauspieler wegen, die den Abend zu einem Hochgenuss machen.

Ivo van Hove zeigte „Ein wenig Leben“ nach dem Roman von Hanna Yanagihara, Peter Brook „The Prisoners“ und Hermann Schmidt-Rahmet brachte Jean Raspails Roman „Das Heerlager der Heiligen“ als Stück auf die Bühne. Roberto Ciulli und Heiner Müller waren Werkschauen gewidmet. Cuillios Othello wirkte  ein wenig altbacken. Hier war nicht der Fremde, was nahe gelegen hätte, sondern der Mohr.

Aturo Ui/ Berliner Ensemble/ Martin Wuttke, Foto: Barbara Braun

Martin Wuttke spielte 1995 in Heiner Müllers Premiere den Arturo Ui von Bertolt Brecht. Er spielt ihn heute noch. Schreiend und flüsternd und schrammelnd, diese Mischung aus Hitler und Al Capone. Der kleine Gangster, der zum großen Diktator wird, weil niemand es wagt, ihn aufzuhalten. Er scheint eine Witzfigur zu sein, doch seine Gier nach der Macht lässt ihn gefährlich werden. Es ist eine legendäre Inszenierung, aktuell wie eh und je, kurzweilig wie ein Broadwaystück, intelligent und mit der klaren Botschaft, die, die wie Ui nach der Macht greifen, nicht klein zu reden, sondern Erst zu nehmen.

Im Bereich Literatur gab es in diesem Jahr nicht nur Lesungen, sondern auch Gespräche. Denis Scheck hatte Herta Müller, Louis Begley und Georg Stefan Toller eingeladen.

Grand Finale von Hofesh Shechter Company, Foto: Rahi-Rezvani

Die Hofesh Shechter Company zeigte eine bedrohliche, außer Kontrolle geratene Welt. Die Tänzer bewegen sich zu lauter, ja aggressiver Musik. Sie beobachten, sie sind fasziniert oder abgestoßen von Terror und Tod und der nahenden Apokalypse. Alles ist ein einziges Chaos. Aber grandios und exakt getanzt. Was wie ein Widerspruch scheint, ist nichts anderes als die Welt um uns herum.

„The Great Tamer“ von Dimitri Papaioannous, Foto: Julian-Mommert

„The Great Tamer“ ist eine Arbeit von Dimitri Papaioannous. Er ist Choreograf und visueller Künstler. Er schafft Bilder auf der großen, tiefschwarzen und schrägen Bühne, die an Rubens oder alte Griechen erinnern. Unaufhörlich verwandeln sich seine Tänzer. Zeigen immergleiche Bilder, die sich immer wieder anders, unvorhergesehen entwickeln. Ziehen sich langsam an und aus, wühlen im Boden und ziehen andere Tänzer aus Löchern hervor. Sind poetisch und dann rasend komisch. Sind Pietà und einsame Krieger. Der Mensch als Individuum kann sich da nur in einer Höhle verstecken, sonst fliegen Dutzend von Pfeile auf ihn. Die, die die Mehrheit bilden, üben Gewalt gegen einzelne, sind rücksichtslos, wollen mächtig sein. Ein Abend, der niemanden kalt lässt.

Symphoniekonzerte, Zirkusdarbietungen und Kabarttabende rundeten das Programm ab. Das reichte von optischen bis zu politischen Darbietungen. Olaf Kröck und seine Mitarbeiter hatten ein ambitiöses Programm zusammengestellt. Große Namen, gute Ideen, beeindruckende Aufführungen.

Weitere Infos: https://www.ruhrfestspiele.de

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