„Frankfurt liest ein Buch“, Frankfurter lesen und betrachten Bücher – über sich und ihre Stadt
Aus der Zeit gefallen?
Von Uwe Kammann
„Frankfurt liest ein Buch“. Das klingt eigentlich ganz harmlos. Aber jeder, der das große Lesefest, das in diesem Jahr zum zehnten Male stattfand, in der ersten Maihälfte verfolgt hat, weiß: Es war ein Marathon, mit einem pickepacke vollen Programm.
Martin Mosebachs Roman „Westend“ wurde neu gelesen und neu bewertet, Fotos: Petra Kammann
Wie Martin Mosebach, dessen Roman „Westend“ das literarische Zentrum des Ganzen war, es geschafft hat, alle Termine unter einen Hut zu kriegen, ist ein unerklärbares Rätsel. Hier eine Lesung, dort eine Talkshow, hier ein Interview, dort ein Rundgang durch das Heldenviertel des Buches, eben das Frankfurter Westend, das in der Nachkriegszeit eine wesentliche Wandlung durchmachte. Nämlich vom vorher rein (groß-)bürgerlichen Wohnviertel mit seinen großzügigen, oft villenartigen Stadthäusern zu einem Mischgebiet, das sich mit durcheinandergewirbelten Milieus neu sortierte. Beispielsweise, indem es Edelbordelle beherbergte. Und auch um Erwartungsterrain wurde: für die Vision, nach und nach Hochhäuser aufzunehmen, weil die prosperierende Bankencity für die wirtschaftswunderlichen Aktivitäten zu eng wurde.
Die Häuser in der Schubertstraße (23 – 25) in Nähe der Christuskirche, Foto: Petra Kammann
Allzu genau und allzu wörtlich, sagte der Autor jetzt bei einem Rundgang zur Besichtigung der real-fiktiven Schauplätze, dürfe man die Orts- und Hausbeschreibungen des Romans ohnehin nicht nehmen. Vielmehr sei das eigentliche Westend eher nur ein Schachfeld, auf dem die Figuren hin- und herwanderten. Besser noch hieße es wahrscheinlich: auf dem er das Dutzend der Protagonisten hin- und hergeschoben hat.
Um die im Krieg ausgebombte Christuskirche spielt sich (fast) alles ab
Gleichwohl, natürlich bedeutet die Umgebung viel, sie ist viel mehr als nur eine Kulisse, steht sie doch für den Wandel einer Gesellschaft, deren relativ festes Gefüge sich mit dem Krieg aufgelöst hat. Und die folglich neue Konstellationen, neue Formen sucht. Was auch heißt: Vergangenes oder vergangen Scheinendes hinter sich zu lassen, sich ganz andere Vorstellungen vom inneren, vor allem aber vom äußeren Leben zu machen.
← Mendelssohnstraße 53
So spielt ein Neubau, entstanden in einer Lücke der Mendelsohnstraße, eine besondere Rolle: weil er mit seiner gradlinigen, schlichten, reduzierten Architektur für Aufbruch steht, für eine Formensprache, die sich des Dekors entledigt, auf eine das Abstrakte betonende Reinheit ausgerichtet ist. Diese Moderne hat immer noch eine Hausnummer, ist relativ unverfälscht über die Jahre und tatsächlich immer noch nicht in die Jahre gekommen: Mendelsohnstraße 53. Damals für den Roman-Bauherrn ein Manifest, bewundert und beneidet von allen, die sich endlich in der Moderne wähnten, als Teil einer neuen Gesellschaft, die mit der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Villenpracht – prototypisch verkörpert im ehemaligen Wohnhaus des Autors, in der Schubertstraße 23 noch weitgehend intakt – nichts mehr zu tun haben wollte.
Und wie immer in der unendlich laufenden Alltagsgeschichte wandelt sich das natürlich, führt zum Gegenteil und zu heutiger Begehrlichkeit, die das Westend wieder zu einem noblen, gesuchten und damit teurem Viertel gemacht hat. Martin Mosebach war mit dem Wissen um diese Gesetzmäßigkeit zum Zeitpunkt des Erscheinen des Romans (1992) für viele Geschmäcker aus der Zeit gefallen, erschien als unzeitgemäß. Geschmäcklerisch fanden nicht wenige Kritiker die Art, wie er seine über drei Generationen reichende Geschichte mit dem Hauptstrang zweier Frankfurter Bürgerfamilien erzählt hatte. Er selbst hat immer wieder jegliche Gegensätzlichkeit von Tradition und Moderne abglehnt, in einem „Spiegel“-Interview einmal klar befunden: „Der Gedanke, dass Kunst ausschließlich in Erneuerung besteht, ist Wahnsinn“.
Die Stadt Frankfurt selbst aber befand sich in der Nachkriegszeit, bis weit in die 70er Jahre hinein, geradezu in einem Taumel der Erneuerung, des Aufbruchs in eine sehr gradlinige Moderne, gerade unter den Vorzeichen des Städtebaus und der Architektur. Das Westend erschien da dem damals fast allmächtigen Bau- und Planungsdezernenten nur als großflächiges Erweiterungsterrain für das angesagte Frankfurt der Banken und Verwaltungsgebäude im Kleid einer entschiedenen Nachkriegsmoderne. Das Bayerhaus mit seinem Flugdach am Eschenheimer Turm oder das Fernmeldehochaus – ebenfalls mit einem schwebenden Flugdach gekrönt hinter dem verkümmerten Thurn- und Taxispalais – galten als Ikonen der neuen Zeit.
Wer die Stimmung und den Geist eben dieser Aufbruchsepoche nachempfinden will, der kommt um ein Buch nicht herum. „Schauplätze. Frankfurt in den 50er Jahren“ heißt es. Dieser Bildband beruht auf einer vor drei Jahren von Michael Fleitner und Tobias Picard konzipierten und realisierten Ausstellung im Institut für Stadtgeschichte und hat nichts von deren Faszination verloren. Wieder und wieder kann man sich in den Fotos (in der Regel schwarz-weiß, farbig sind einige Reklamebilder) verlieren. Sie zeigen dabei nicht nur die Veränderung der Stadtgestalt mit ihren Bau-Schauplätzen und dem unbedingten Willen, eine verkehrsgerechte Stadt im Sinne der Auto-Mobilität und für Verwaltung und Konsum neue Gehäuse zu schaffen, die mit der alten bürgerlichen Stadtgestalt nichts mehr zu tun haben wollten. Nein, darüberhinaus vermitteln sie in Alltagsszenen einen genauen Eindruck vom sich verändernden Lebensgefühl und Lebensstil, vom bewunderten American Way of Life, wie ihn die amerikanischen Besatzungssoldaten unübersehbar in die Stadt brachten (so wurde das IG-Farben-Haus gleichsam transformiert und damit seine entsetzliche Zyklon-B-Vergangenheit nach außen überdeckt).
Die befreite Jazzszene ist natürlich präsent, die zur glitzernden Einkaufsmeile aufgebretzelte Zeil (noch mit Autoverkehr), das (noch bescheidene) neue Flughafengebäude, der Goetheplatz als Parkplatz, die Hauptwache als Brennunkt einer gedrängten Autoseligkeit, das neuerbaute Institut für Sozialforschung, die Großgrafik des Frankfurter Kreuzes, der Durchbruch der Kurt-Schumacher-Straße in einem baulichen Umfeld, das mit dem alten dichten Bild des Mainufers nichts mehr zu tun hat, sondern vor allem Licht und Luft verspricht, so wie auch die neue Ost-West-Achse der Berliner Straße mit ihren Zeilenbauten quer zu zweistöckigen Verkaufspavillons: All das ist von bildlich verblüffender Präsenz einer damals sich verwirbelnden Wandlung, die auch noch viele Trümmer und mächtige Ruinen wie die in ihren Außenmauern erhaltene Alte Oper mit einschloss.
Natürlich sind auch die maßgebenden Politiker der Zeit zu sehen, als lokale Größen, aber auch als Repräsentanten der Republik. Aber im gleichen Maße haben die Ausstellungsmacher Szenen jener Menschen ausgesucht, welche das Leben, natürlich auch die Arbeitsbereiche einer Stadt ausmachen. Manche mit Tätigkeiten, die für viele heutige Frankfurter wahrscheinlich wie aus einer anderen Welt stammen, so bei Fischern oder Flößern.
Kurz, dieser Bildband ist ein inzwischen in zweiter Auflage erschienes Muss (Verlag: Henrich Editionen) für alle, welche sich die Real-Folie der bei Martin Mosebach wiederstehenden Nachkriegszeit vergegenwärtigen wollen. Dabei werden sie auch einige Fotos entdecken, die speziell nachdenklich machen und direkt in die neue Frankfurter Gegenwart führen: eines, welches das leergeräumte Areal zwischen Dom und Römer zeigt, ein weiteres, wo auf diesem freigeräumten Platz vier Jungen neben parkenden Autos Fußball spielen. „Leerstelle“ ist dieses Kapitel überschrieben, das die zerstörte Altstadt umreißt.
Jetzt, alle haben es inzwischen gesehen, ist diese Leerstelle wieder gefüllt: mit der rammbockartigen Kunsthalle Schirn aus der Mitte der 80er Jahre, vor allem aber mit der neugeschaffenen Altstadt, einer Mischung aus am Original orientierten Nachbauten früherer Häuser und mit „schöpferischen“ Konstruktionen, welche Maßstab und Grundelemente der Altstadtarchitektur aufnehmen und neu interpretieren, sich dabei aber einem gemeinsamen gestalterischen Prinzip unterordnen.
Einige grundlegende Bücher zu diesem großen Akt einer die Erinnerung belebenden Stadterneuerung sind direkt zur Eröffnung der „neuen Altstadt“ im vergangenen Herbst erschienen. Seit kurzem nun liegt ein im Michael-Imhof-Verlag erschienener großformatiger Band vor („Frankfurt am Main. Die historische Altstadt“), der in vielerlei Hinsicht das Standardwerk sein wird für alle, die sich mit diesem in Form und Methode einzigartigen Experiment der Rekonstruktion eines untergegangenen Kerns einer modernen Stadt beschäftigen wollen.
Die Autorin des Buches, Anne Christin Scheiblauer, erfasst nämlich ihren Gegenstand, die Altstadt, mit großer Umsicht, in vielfältigen Aspekten und mit äußerster Präzision. Sie bettet dabei die aktuelle Entwicklung und die Beschreibung des jetzigen Wiederaufbaus ein in eine übergeordnete Darstellung der Stadtgeschichte und der Baugeschichte Frankfurts. Sie zeigt dabei die neuen Perspektiven und veranschaulicht zugleich die Strukturen, wie sie in früheren Epochen der Stadt zu sehen waren, mit jenen, die heute rund um dieselben Orte das moderne Frankfurt bestimmen.
Als Leser kann man nur staunen, welch’ reiches Material die Autorin zusammengetragen hat. Viele Zeitschichten sind in Lithographien, in Stichen, in Zeichnungen, in Fotografien zu sehen und von besonderem Interesse vor allem dann, wenn dieselben Bauten in ihren verschiedenen Stadien genau zu studieren sind, wie beispielsweise beim Leinwandhaus mit seinen Um- und Anbauten, dann dem kläglichen Ruinenstatus bis zur Rekonstruktion 1980 (damals, noch vor der Römer-Ostzeile mit ihren Fachwerkäusern) einer der ersten – und damals oft beargwöhnten oder kritisierten – Schritte, auch gebaute Geschichte wiederzugewinnen.
Ann Christin Scheiblauer hat auf viele Studien und Diplomarbeiten zum Thema Altstadt zurückgreifen können, die an der Fachhochschule Frankfurt (heute modisch-schick: University of Applied Sciences) entstanden sind, an der sie seit mehr als 20 Jahren als Professorin für Städtebau und Entwerfen lehrt. Diese überaus solide Grundlage ist dem Buch an jeder Stelle anzumerken. Das Besondere dabei: Die Darstellung ist eben keine gelehrt aufgeputzte Fachhuberei, sondern eine klar geschriebene und flüssig lesbare Stadtgeschichte, die alle Facetten beleuchtet, welche für Frankfurts Entwicklung maßgeblich waren und welche die Dynamik der schon früh ausgeprägten Rolle als Handelsstadt ausgemacht haben und noch heute bestimmend sind.
Ebenso besonders an diesem Buch: So klar und so erhellend wie der Text, der die Charakteristika der Stadtgesellschaft und ihrer einzelnen Gruppierungen sehr genau umreißt, so klar und erhellend sind auch die Illustrationen, einschließlich vieler Grundrisse von wichtigen Gebäuden. Imponierend und inspirierend sind nicht zuletzt die Kartierungen der immer wieder wechselnden Variationen des Grundrisses sowohl der Gesamtstadt als auch der einzelnen Viertel und ihrer Bezüge untereinander. Die Zünfte, die Gewerke, die Wohnquartiere: Alles entwickelte sich, so erkennt man leicht, organisch (bei manch drastischen Umbrüchen aufgrund technischer Neuerungen), bei deutlich ausgeprägtem Grundmuster innerhalb der Mauerringe.
Immer wieder verblüffend ist es, wenn alte Ansichten kontrastiert werden mit aktuellen Fotos, die aus derselben Perspektive aufgenommen wurden. Manche heutige Gestalt, das immerhin vermutet man nicht unbedingt, kann es durchaus mit den früheren Bauten aufnehmen, so beispielsweise das Leinwandhaus, das so schön und rein früher sicher nie gewesen ist. Das, so weiß man aus Interventionen, gefällt wiederum so manchen Puristen nicht, die solche Nachschöpfung als schönfärberische Fälschung oder Verfälschung verurteilen.
Der Band „Frankfurt am Main. Die historische Altstadt“ belegt auf jeder Seite – gerade auch, indem er die neue Altstadt nur als kleinen Teil einer viel größer angelegten Stadtgeschichte betrachtet und in ihrer Entwicklung darstellt –, dass es zum Leben einer Stadt gehört, sich in immer wieder anderen – manchmal ähnlichen, manchmal gegensätzlichen – Schichten und Erscheinungsformen zu erneuern. Und genau in diesem Prozess ihren eigenen Reichtum und ihr Gesicht zu formen und zu bewahren, ohne einem starren Zustand zu verfallen.
Insofern: Dieses Buch sollte jeder wieder und wieder betrachten und lesen, der wahrnehmen und verstehen will, wie Frankfurt zu der Stadt geworden ist, wie sie sich heute präsentiert. Einschließlich einer neuen Altstadt, die auch wiederum nur Teil eines sich stets verändernden Ganzen ist. Ganz ohne falsche Dominanz, ganz ohne starres Dogma.
→ Drei aktuelle Bücher zu Architektur und Städtebau und zur Altstadt
→ Die „neue Altstadt“ – das Herzstück des historischen Frankfurt
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