Kultur und Europawahl – Europe under Construction?
Frankfurt als multikulturelle Stadt in der Vorbildrolle?
Von Gunnar Schanno
Viel Solidarität mit Europa im Herzen der Stadt Frankfurt, Alle Fotos: Petra Kammann
Europa, das ist nicht nur eine Union europäischer Staaten, sondern tiefer gehend aucheine Union europäischer Kulturen. Die Europawahl 2019 wird von besorgten Europäern als Schicksalswahl gewertet. Warum? Weil, so heißt es, die Wahl auch steht gegen ein Europa nationalstaatlicher Egoismen und für ein Bekenntnis zu einem offenen Europa und seinen Werten. Viele nennen sie die christlichen Werte. Manche reden, eher verräterisch völkisch umdeutend, von Werten des christlichen Abendlands. Die Europäer haben nach düsteren Epochen aus der Geschichte, genauer, aus ihren Erfahrungen gelernt. Haben sie gelernt, weil sie einsichtig geworden sind, weil sie auf einmal nach dem letzten großen Krieg von einigenden Werten geleitet wurden?
Die grandiose Geschichte der europäischen Einigung seit Weltkriegsende bis in die osteuropäischen Länder hinein nach Ende der Ost-West-Spaltung spricht für sich. Hat aber, nochmals gefragt, Europa seine Einigung auf seinen Kulturen und vorhandenen Werten aufgebaut? Es sei gewagt zu sagen: gewiss nicht! Denn Kulturen wie Werte kennzeichneten Europa bis zurück zu Hellas, Humanismusepoche oder Genfer Konventionen. Und schließlich erlebte Europa einen nochmaligen Werteabsturz im Jugoslawienkonflikt kurz vor der Zweijahrtausendwende.
Ob Frankfurts multikulturelle Stadtgesellschaft als Vorbild vorlebt, was sich in Europa weiter verwirklichen soll, muss nicht als Frage gestellt werden. Doch ist es strikt besehen nicht das Multikulturelle der Stadt, das ein weithin friedfertiges Zusammenleben ermöglicht. Es ist die Rationalität der zivilgesellschaftlichen Basis, die hinzukommend durch die Verstärkung von Seiten ökonomisch-politisch und auch historisch vorteilhafter Konstellationen garantieren kann, dass gesellschaftliche Offenheit und Vielfalt gelingt.
Kunst als verbindendes Element
Warum nun ist Europa in Gefahr, warum gelingt nicht EU-weit, was in Frankfurt gelingt? Europa ist Ikone für die Welt. Ikone der Stile, der Interieurs, der Architektur, der Mode-Designs, der Museumswelten, der Lifestyles, aber generell auch der Sicherheit für Leib und Leben, der Unbedrohtheit, der einklagbaren Menschenrechte. In all solch Phänomenalem war schon immer irgendwie eine Europäisierung der Welt auszumachen. Auch die Amerikaner, die weißen europastämmigen, kommen nach Europa wie in ihre alte Kulturheimat. Was oder wer auch kann Paris, London, Rom, Venedig, nicht zuletzt Frankfurt, und die vielen anderen großen und kleinen Kulturzentren Europas toppen? Wohl auch nicht jenes, wie es manche nennen, Supereuropa New York. Es ist also nicht das christliche Abendland, das die Welt sucht, es ist der in unglaublicher Vielfalt wurzelnde völkerreich präsente Erfahrungs- und Erscheinungsreichtum europäischer Epochen, aus dem die Europäische Union schöpfen kann – aus seiner Lebenswelt, seinen Künsten, Wissenschaften, aus einer Unzahl von Rechtsquellen.
Wollen nun etwa die Eliten und Wohlhabenden aus aller Welt, vom ölreichen Emiratenraum bis ins fernöstliche Asien nur glitzernde Teile westlicher, sprich europäischer Zivilisation als Hoteltower, als Konsumkathedralen und Malls mit europäischen Flagstore-Shops, als vierradangetriebene Wüstenjeeps, als aus dem Küstensaum gestampfte Inselarrangements mit europäisch luxusgestylten Ambienten und wollen sie nicht zuletzt auf ihren Reisen in den alten Kontinent in aller Selbstverständlichkeit die Nutzung europäischer Oasen der Spitzenmedizin zu erhoffter und ermöglichter Gesundung? Trifft nun etwa in all den Fernhergereisten dominierend islamische Kultur auf europäische, zivilisatorisch-durchdrungene Lebenswelt im Begehren an deren Errungenschaften teilzuhaben? Sollen diese aber nur dazu dienen, ein theokratisch empfundenes Welt- und Glaubensverständnis bestärkt zu sehen?
Glauben jene Europäer, im Verdruss über vereinheitlichende EU-Regeln, die kaum im Kulturellen, vielmehr in zentral aus Straßburg und Brüssel definierten Standards vorgegeben werden, mit dem Hebel einer Europawahl den europäischen Einheitsgedanken abstrafen zu müssen? Überwiegt bei vielen in den europäischen Bürgergesellschaften der Ärger über migratorische Prozesse samt den seit Jahren religiös getriebenen Diskursen gegenüber den vielen erreichten Vorzügen eines Europas freier, vielfältigster Lebensentfaltung? Auch Europa ist nicht das Paradies und bedarf ständiger Novellierung in seinen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Reglements.
Neues Feindbild: Die EU in Brüssel?
Wenn es um die Verbindung von Kultur und Europawahl geht, so gilt es doch auch, Europa als Idee, als eigene Größe und als „Global player“ in neuen globalen Machtkonstellationen zu stärken. Doch offenbaren die europaweiten Diskurse, dass im Raum der Kultur besagterweise neben der Kunst es die Religion ist, welche die wirkmächtigste Ausprägung darstellt. Viele Bürger sind es, auch die glaubens- und kirchenfernen, die sich vom emotionalsten, das sich denken lässt, wie es nichts als das Religiöse ist, in Aufruhr bringen lassen. Politisch angefeuert unter Rufen nach nationaler Abschottung und Autarkie ist es nicht das zivilisatorische Element, wie es in Regeln und Standards zu Produktion, Umwelt, Natur sich zeigt, das in populistische Narrative drängt. Es ist das sich etablierende und fordernde Kulturell-Religiöse aus europafernen Räumen, aus dem heraus die Abwehr „von rechts“ gegen ein „Europa als Einheit“ wirkt.
Doch viele der Europakritischen unterschlagen die schwere Mitschuld Europas für den Ausbruch von Migrationswellen in lang sich vorbereitenden Entwicklungen seit Kolonialzeiten und bis hin zu EU-Knebelverträgen mit afrikanischen Ländern. Die Europäer aber, auch jene voll Hass gegen das sogenannt Fremde, sichern sich ihre Konsummasse in Billiggütern und als Profiteure zivilisatorischer Produktions- und Arbeitsprozesse auf unterstem Werteniveau in genau jenen Herkunftsländern der Migration.
Im Vollzug europäischer Einigung ist es nicht schwärmerisch, sondern durchaus realistisch, vom wunderbaren Europa zu sprechen, zu dem sich zu bekennen gerade diese Europawahl die Chance ist. Die EU-Vertreter aber müssen sich eingestehen, dass, so sie etwa Frankfurt am Main näher kennen, für das gesamte Europa solches Gelingen schwer zu erreichen ist. Wer nämlich als politischer Repräsentant, wie geschehen, Strafaktionen gegen EU-Mitglieder wegen Verweigerung von Migrations-Quoten fordert, der schadet Europa, so sehr auch von osteuropäischen Mitgliedern starke Beteiligung an der Bewältigung der Migrationsproblematik gefordert werden muss.
Es ist zu erkennen, dass die Einheit Europas in der Europawahl nicht vom Zivilisatorischen her in Gefahr gerät, wie es durchaus auch kontrovers diskutierte Reglements zu gemeinsamen Standards pragmatischer Lebensbewältigung zum Thema haben – und die Europa nicht spalten.
Die in Teilen zerstörte Kathedrale Notre-Dame, eins der Herzstücke von Europa, soll wieder aufgebaut werden
Es sind kulturell-religiöse Archaismen, die im derzeitigen Europa ungewohnte, von Intoleranz geprägte Formen generieren. Und ebenso sind es gesellschaftspolitisch nationalstaatliche Parolen, die sich auftun als vermeintlich angemessene Reaktion. Es ist eine Abwehr im Ungeist des Reaktionären und im Widerschein konkret und medial vernehmbarer religiöser Rollbacks, als seien Kreuzzugszeiten zurückgekehrt.
Europaweit dominieren geradezu um Rettung Europas bemühte öffentliche Talkrunden. Die Europäische Union ist „alternativlos“. Ihre Länder ringen um das, was die EU auszeichnet, nämlich ihre bürgergesellschaftliche säkulare Verfasstheit – europäische Stadtgesellschaften wie Frankfurt sind vertraut damit. Unter dem europaverbindenden Begriff des Bürgergesellschaftlichen also müssen die EU-Wahlen an Fahrt aufnehmen. Denn wenn zu erkennen ist, dass sich Schutz und Wohlergehen beanspruchende Mitglieder einer Religionsgemeinschaft innerhalb der Bürgergesellschaft separieren, dann beginnen auch Länder sich innerhalb der Europäischen Union zu separieren.
Die EU-Wahlen sind wie selten Chance nicht allein für die Wähler, sondern auch für unangetastete Demokratie garantierende Parteien, auf dass sie sich zunehmend vehementer und interagierender Kräfte erwehren. Kräfte nämlich, wie sie in ein Rollback zu gelangen suchen ins Archaisch-Politische nicht weniger wie ins Archaisch-Religiöse offen und versteckt. Es ist aber doch die Wahl darüber, dass Wege, Geist und Leben in Europa offen, hell und frei bleiben.