Bunny Rogers: „Pectus excavatum“ im Museum für Moderne Kunst – Zollamt
Mythisch aufgeladener Ort
Von Erhard Metz
Allseits dunkel-schillernd getönte, verspiegelte Fensterscheiben verwehren den Einblick in das Innere des mit einem Adler und der Jahreszahl 1927 versehenen, von Werner Hebebrand im Stil einer bauhausnahen Reformarchitektur errichteten Gebäudes des ehemaligen Frankfurter Hauptzollamts.
Ein prickelndes Gefühl stellt sich ein: Neugierig wie erwartungsvoll betreten wir das uns als Dependance des Museums für Moderne Kunst seit langem vertraute Haus, das Auge gewöhnt sich nur langsam und mit spannungsvoller Geduld an eine eigentümlich farbige Dunkelheit. Umgekehrt geben die getönten Fensterscheiben von innen einen verfremdeten Blick frei auf das Geschehen draußen, unter von der Decke hängenden leuchtend-blinkenden Eiszapfen auf das gegenüber liegende Haupthaus des Museums wie auch – durch die sprossenverglasten Fenster des denkmalgeschützten dreischiffigen früheren Zollamtssaals – auf die Fassaden der „Neuen Altstadt“ und der Gebäude jenseits des Domplatzes.
Wir zögern: wenden wir uns zunächst dem zur Braubachstraße hin gelegenen kleineren Vorraum zu oder folgen wir der unterschwelligen wie suggestiven Verlockung der Treppe zum Saal hinauf? Wir entscheiden uns für letzteres, und es eröffnet sich eine atemraubende Perspektive: die Silikonskulptur eines gut neun Meter langer Riesenkalmars breitet seine gewaltig dimensionierten zehn Fangarme vor uns aus, acht von ihnen sind, getreu dem lebenden Vorbild, zur Gänze mit Saugnäpfen besetzt, zwei – die beiden bedeutend längeren – mit Saugnäpfen an ihren Enden. Im Hintergrund leuchtet wie eine Bühnenszenerie ein übermannshoher Eisberg – ja, es ist tatsächlich Eis, maschinell gekühlt. „Mount Olympia“ nennt ihn die Künstlerin. Das Publikum darf, ja soll die Hände an seine Flächen legen, im ohnehin kühlen Raum intensiver noch die Kälte spüren, die von diesem farbig beleuchteten Gebilde ausgeht, womöglich bis zur Schmerzgrenze.
Creepy Crawlers (Giant Squid), 2019, hinten: Mount Olympia, 2019
Überhaupt die besondere Beleuchtung im überwiegend dunklen Raum: Ihre faszinierende Wirkung entfaltet sie mit dem Einsatz auch von Schwarzlicht.
Die Szenerie wird an den Längsseiten des Saals umschlossen von einem mit einigen tücher- und fahnenhaften Textilien drapierten schwarzen Zaun, von ihm geht offenbar ein merkwürdiger, etwas molig anmutender Geruch aus. Wer genau hinschaut, wird erkennen: Der Zaun ähnelt in verblüffender Weise demjenigen, der das Frankfurter Städelmuseum nebst der Städelschule umschließt – eine Verknüpfung mit letzterer, an der Bunny Rogers im vergangenen Wintersemester als Gastprofessorin wirkte? Mit dem bedeutenden Museum, in welches die Künstlerin sich mit ihren Werken hineinträumt?
Bunny Rogers sieht in diesem Zaun einen Ouroboros, ein in einem Kreis sich selbst verzehrendes Wesen oder – folgt man Platon – „die vollkommenste Form“. Besonders eindrucksvoll erscheint der Zaun mit all seinen Applikationen vor der Spiegelung des Eisbergs in den Fensterscheiben. Hat er, so fragen wir uns, auch wenn er die Szenerie nur von den beiden Längsseiten umgibt, eine Kalmar und Eisberg einhegende, vielleicht beschützende Funktion?
Ouroboros Fence (Detail), 2019
Bereits bei unserem Weg die Treppe zum Saal hinauf passierten wir zur Linken wie zur Rechten zwei an heimische Kamine erinnernde Gebilde, das eine in glühendem Rot, in eher distanzierendem, kalten Blau das andere. In deren Mitte erblicken wir ein Mandala mit dem alt-mythischen Drei-Hasen-Motiv: jeder der drei im Kreis angeordneten Hasen hat seine Ohren mit jeweils einem Ohr seiner beiden Nachbarhasen gemeinsam, so daß sich ein Kreisschluß ergibt. Das Motiv ähnelt einer Triskele, der verschiedene Bedeutungen zugesprochen werden: Geburt, Leben und Tod; Körper, Geist und Seele; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Vor den Mandalas züngeln künstliche „Flammen der Hölle“ – der glutheißen Hölle in Rot wie auch der Eishölle aus Dantes neuntem Höllenkreis in seiner Divina commedia in Blau. Die Ziegelsteine jeweils links und rechts der beiden „Kamine“ zitieren die Säulen des alten Zollamtssaals.
(hinten) Three Hares Mandala (Red Hell/Blue Hell), 2019; (vorne) Flames of Hell fan (Red, Blue), 2019; (links und rechts) Zollamt Bricks, 2019
Bunny Rogers hat diesen Saal in einen mythisch wie mystisch aufgeladenen Raum verwandelt, in welchem sich Naturalismus und Fiktion, Wissen und Imagination begegnen und durchdringen. „Das Reale konstituiert sich in der permanenten Überschneidung mit dem Symbolischen und dem Imaginären“ lesen wir im Begleitheft des MMK. Wohl wahr. Und im Interwiew mit MMK-Direktorin Susanne Pfeffer fügt die Künstlerin – sie ist zugleich eine bemerkenswerte Lyrikerin – hinzu: „Es ergibt für mich sehr viel Sinn, dass die Ausstellung … sich vor allem um meine persönliche Spiritualität dreht, um meine Gefühle und Gedanken zum Leben und zum Tod, zum Leben nach dem Tod und zur Mythologie.“
An dieser Stelle eines der wunderbaren Gedichte der Künstlerin:
Desperation is a virtue
Its hard knowing you have to disappear
when all you wanna do is prove youre a person
I been lying to myself
I was blind to it
Dear God
Please Heal My Heart
Zugleich spielen Kindheitserinnerungen immer wieder eine Rolle, etwa die kindliche Vorstellung und Faszination einer schier unermeßlichen Unterwasserwelt. Ebenso der kindliche Umgang mit Creepy Crawlers, den schwabbeligen Gebilden aus dem Spielzeugkasten.
Da ist zum einen der Riesenkalmar, der in den Tiefen der weitgehend noch unerforschten, nachtschwarzen Ozeane lebt und noch nie in seinem natürlichen Lebensraum beobachtet werden konnte, sondern nur als an eine Küste gespülter Kadaver. So umgibt ein Geheimnis das sagenumwobene Tier, das mit seinen gewaltigen Tentakeln schon Fischerboote umschlungen und mit in die Tiefe gerissen haben soll. Einige Wasserpfützen bedecken den Boden der Halle – als hätte der Kalmar soeben das Meer verlassen. Bunny Rogers gibt der mit einer fluoreszierenden Oberfläche überzogenen Nachbildung des Respekt einflößenden Geschöpfes den Namen des Kinderspielzeugs.
Creepy Crawlers (Giant Squid), 2019, Detailansichten
Zum anderen ist da der wiederum mit Kindheitserinnerungen der Künstlerin verbundene Eisberg, Reminiszenz an eine Ausstellung in den 1990er Jahren, die der Tragödie der – mit einem Eisberg kollidierenden – „Titanic“ gewidmet war. Man durfte damals die Hände an den eisigen Klotz legen, solange man dies aushalten konnte. Gleiches sinnt Bunny Rogers nun den Besucherinnen und Besuchern ihrer Installation an. In ihrem persönlichen Eisberg sieht sie bedeutungsvoll einen „Mount Olympia“. Und: ja, er ist wirklich sehr kalt!
Man könnte sich auch ein sinnfälliges Gegensatzpaar vorstellen: zur den Menschen verschlossenen Tiefsee den zu schwindelnden Höhen aufragenden, sich der Besteigung durch Menschen widersetzenden eisig-vergletscherten Berg.
Mount Olympia, 2019 (Detailansichten)
„Pectus excavatum“ lautet der Titel der Ausstellung. Der Lateinkundige mag sich wundern: pectus – die Brust; excavare – ausgraben. Der Mediziner weiß: Pectus excavatum heißt die sogenannte Trichterbrust, eine Einsenkung des vorderen Brustkorbs, die meist im ersten Lebensjahr auftritt. Bunny Rogers leidet an einer leichten Form dieser körperlichen Erscheinung. Sie widmete ihr bislang große Teile ihres künstlerischen Schaffens. Gibt sie uns mit diesem Titel den Schlüssel auch zu dieser Ausstellung in die Hand?
Zweifellos autobiografisch ist Bunny Rogers Kunst – eine andere scheint sie sich kaum vorstellen zu können. Ihre künstlerische Wahrheit ist eine sehr persönliche, vielleicht auch eine eskapistische. Doch die von Authentizität geprägte Kraft dieser Kunst vermittelt sich auf geradezu suggestive Weise dem sich ihr öffnenden Betrachter. Und noch einmal zitieren wir die Künstlerin im Interview mit Susanne Pfeffer: „Hier ist der Raum. Sieh ihn dir an. Spüre ihn. Erlebe ihn.“
Den Zollamtssaal verlassend begeben wir uns in den zur Braubachstraße hin gelegenen, farbig verfremdeten Vorraum, der Kreis schließt sich und wir blicken auf die Menschen „draußen“ im betriebsamen Geschehen, die wiederum uns nicht sehen können. Verspielt schwebt ein blauer Schmetterling vorüber, die mit einem bunten Rautenmuster geschmückte Schlange will ihm sicherlich nichts Böses antun. An den Wänden lehnen – wie auch am Zaun im großen Saal – allerlei Schrubber und ähnliche Reinigungsgeräte – alles soll sauber sein. Oder klingt da nach all dem blutroten und eiskalt-blauen Höllenfeuer der beiden „Kamine“ Dantes Purgatorium an? Poetisch-feminin das übergroße Kosmetikfläschchen, an dem an feiner Schnur ein silbernes schmuckstückhaftes Fabelwesen hängt.
In der Direktion von Susanne Pfeffer – die Museumsleiterin wurde unlängst zur Honorarprofessorin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach berufen – erfährt das ehemals MMK 3 genannte heutige ZOLLAMTMMK eine erstaunliche wie erfreuliche Entwicklung: nach dem grandiosen Auftritt von Marianna Simnett nun die – wiederum von ihr höchstpersönlich kuratierte – faszinierende Großinstallation der bereits weltweit erfolgreichen, sympathischen Künstlerin Bunny Rogers. Wir halten diese Ausstellung mit für das Interessanteste und Beste, was es derzeit in der Frankfurter Ausstellungslandschaft (noch bis zum 28. April 2019) zu sehen gibt.
Bunny Rogers in der Eröffnungsveranstaltung im MMK am 25. Januar 2019
Bunny Rogers, 1990 im texanischen Houston geboren, studierte an der Parsons School of Design in New York und an der Königlichen Kunstakademie in Stockholm, jeweils mit akademischem Abschluss. Sie stellte bereits im Whitney Museum of American Art in New York, im Musée d’Art Moderne und in der Fondation Louis Vuitton in Paris, in Deutschland im Hamburger Bahnhof in Berlin aus. Im Rahmen der „Frankfurter Positionen 2019“ lehrte sie im vergangenen Wintersemester 2018/2019 als Gastprofessorin an der Städelschule Freie Bildende Kunst. Ihrer Arbeit „Pectus excavatum“, ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland, liegt ein Werkauftrag ebenfalls für die „Frankfurter Positionen“ zugrunde.
Bunny Rogers, „Pectus excavatum“, ZOLLAMTMMK, bis 28. April 2019
Abgebildete Werke © Bunny Rogers; Fotos: Erhard Metz