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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Rückblende: Mein Berlinale-Tagebuch in der Zeit vom 12.bis 17. Februar 2019

Berlinale-Kamera für die Filmemacherin Agnès Varda

Einer der außergewöhnlichen Momente dieser Berlinale war die Preisverleihung der Berlinale-Kamera an Agnès Varda. Die bald 91 jährige – ihr Alter ist ihr, wie sie sagt,“wurscht“ – wurde von Noch-Festival-Leiter Dieter Kosslick im Berlinale Palast empfangen. Von hoch oben sah ich den Empfang, die kleine Person, die durch die keck gefärbte Frisur hervorsticht. Aber oben angekommen, ging die kleine Gestalt, verdeckt vom Kordon der Freundes-Eskorte und dem Sicherheitspersonal, schlicht unter. Ich verlor sie aus den Augen. Dann aber ergatterte ich ganz vorne im Kinosaal einen Platz und Agnès Varda schritt am Arm von Kosslick fast hautnah an mir vorbei zur Bühne. Was für eine energiegeladene Künstlerin, die sich über diese Ehrung sichtlich freute. Ihre unbändige Leidenschaft war auch in ihrer kurzen Dankesrede zu erkennen, fein ist ihr Humor.

von Renate Feyerbacher

Berlin: Roter Teppich für die französische Filmemacherin Agnés Varda, Foto: Renate Feyerbacher

Im Wettbewerb, aber außer Konkurrenz, wird ihr Selbstporträt „Varda par Agnès“ gezeigt. Auf der Bühne eines prächtigen Theaters sitzend, erzählt sie über ihr Leben und über ihre Arbeiten. Ihr Blick schweift dabei in die obersten Ränge des „Olymp“, eine unmittelbare Anspielung auf Michel Carnés berühmten Filmklassiker „Les Enfants du Paradis“ („Kinder des Olymp“) mit Arletty und Jean-Louis Barrault. Der Film kam 1945 heraus.

Inspiration, Erfindung, Teilen. Sie nennt diese drei Begriffe als ihr Motto für ihre Filmarbeit wie für ihr Leben. „Varda par Agnès“ ist ihr dritter Film in eigener Sache nach „Die Strände von Agnès“ (2008), da war sie 80 Jahre, und „Augenblicke. Gesichter einer Reise“ aus dem Jahr 2017, ein Film, den sie zusammen mit dem 55 Jahre jüngeren street artist JR gedreht hat. Der Dokumentarfilm wurde seinerzeit bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt und für den Oscar nominiert. In „Jacquot de Nantes“ (1992) erinnert sie zärtlich an ihren Mann, den Filmemacher Jacques Demy, der 1990 starb.

Für ihr Lebenswerk wurde sie schon 2017 mit dem Ehrenoscar ausgezeichnet und ein Jahr zuvor hatte ihr die Stadt Frankfurt den renommierten Max Beckmann-Preis verliehen.

Agnès Varda in Frankfurt 2016: Foto Petra  Kammann

Agnès Varda, in Brüssel geboren, kriegsbedingt im südfranzösischen Sète aufgewachsen, studierte Literatur, Psychologie, Kunstgeschichte und Philosophie an der Sorbonne und an der Ecole du Louvre in Paris. Anschließend machte sie eine Ausbildung zur Fotografin. Dann zog sie aus, um als Autodidaktin das Kino neu zu erfinden. Sie wurde Mitbegründerin der Nouvelle Vague, und als Installationskünstlerin macht sie heute noch Furore. Fern aller Konventionen redet sie über ihr Leben und ihre Arbeiten. Ausschnitte aus ihren Filmen werden eingeblendet, Weggefährten kommen zu Wort. Ihre Erzählungen, nicht chronologisch gegliedert, hat sie in zwei Zeitabschnitte gepackt: von 1954 bis 2000, da stand sie hauptsächlich als Regisseurin im Fokus, ab 2000 beschäftigt sie sich mit digitaler Technik. Mit Kamera und offenen Augen schlendert sie durch Paris, beobachtet, filmt und spricht mit einem Mann, der Weggeworfenes durchstöbert und mitnimmt. Oder sie begeistert sich für einen Acker mit riesigen Herzkartoffeln.

Preisverleihung mit Berlinale-Chef Dieter Kosslick, Foto: Renate Feyerbacher

Sie war eine Pionierin des feministischen Films. Empathie kennzeichnen ihre Frauenbiografien. Es wird sie gefreut haben, dass immerhin von den 16 Filmen, die im Wettbewerb um Auszeichnungen konkurrierten, sieben Filme von Frauen gezeigt wurden („außer Konkurrenz“ wurde nicht mitgezählt).

selbst bestimmt – Perspektiven von Filmemacherinnen“ war eine Retrospektive gewidmet, an deren Zustandekommen Karola Gramann, Gabi Babic und Heide Schlüpmann von der Kinothek Asta Nielsen in Frankfurt beteiligt waren.

Ein bemerkenswerter Debütfilm mit Frankfurter Bezug

Der Debütfilm „Born in Evin“ der Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Maryam Zaree, die zwar in Frankfurt aufwuchs, wurde jedoch 1983 im berüchtigten Teheraner Gefängnis Evin geboren, denn ihre Mutter wurde wegen ihrer Protesthaltung verhaftet. Sie hatte schon als Schülerin in Teheran zunächst gegen das Schah-Regime protestiert, später dann gegen das Regime von Ayatollah Khomeini, der zunächst begeistert empfangen wurde. Nun war sie auch noch schwanger. Als Maryam zwei Jahre alt war, gelang ihrer Mutter die Flucht. Für den Film, der in Perspektive Deutsches Kino lief, erhielt Maryam Zaree den Kompass-Perspektive-Preis .

Maryam Zaree mit ihrer Mutter Nargess Eskandari-Grünberg, Foto aus: Born in Evin, DEU/AUT 2019, Regie: Maryam Zaree, Sektion: Perspektive Deutsches Kino © Tondowski Films

Heute ist ihre Mutter Dr. Nargess Eskandari-Grünberg Politikerin. Von 2008 bis 2016 war sie in Frankfurt Dezernentin für Integration, derzeit ist sie ehrenamtliche Stadträtin. In ihrer eigenen Praxis im Westend arbeitet sie heute als psychologische Therapeutin. Über diese bedrückende Zeit wurde in der Familie kaum gesprochen und Maryam Zaree entschließt sich nach langem Zögern, „sich dem jahrzehntelangen Schweigen“ mit solchen und ähnlichen Fragen entgegenzustellen wie:„Wie hat sich die Traumatisierung durch Verfolgung und Gewalt in die Körper und Seelen der Überlebenden und die ihrer Kinder eingeschrieben? Wie kommen die Opfer persönlich damit zurecht, dass die Täter bis heute ungestraft an der Macht sind? Und was bedeutet es politisch, wenn eine Beteiligte versucht, sich im engsten Familienkreis durch das Dickicht des Verdrängten hindurchzuarbeiten?“ (Heft Berlinale – Perspektive Deutsches Kino – Lola at Berlinale). So entstand eine eindringliche Spurensuche.

Berlinale Plakat, Foto: Renate Feyerbacher

Wettbewerbsfilme und ihre Auszeichnungen

Wer weiß, ob nicht der chinesische Film  „One second“ von Yi Miao Zhong unter den Preisträgern gewesen wäre. Seine Vorführung fiel aus. Während des Festivals wurde er zurückgezogen – ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Berlinale. Waren es technische Gründe, wie mitgeteilt, oder doch die Zensur, die in China seit 2017 verschärft worden ist? Die Geschichte spielt in der Zeit der Kulturrevolution. Schon fünfmal war der international mehrfach ausgezeichnete Filmemacher bei der Berlinale und erhielt für „Rotes Kornfeld“ (1988) den Goldenen Bären. Er gilt eher als linientreu.

Drei Tage vor Beginn der Berlinale wurde mit derselben Begründung „Better Days“, produziert von Hongkong und China, zurückgezogen. Das US-amerikanische Magazin Variety vermutet, dass der Liebesfilm nicht in das chinesische Konzept passt.

Der zweite chinesische Wettbewerbsbeitrag „So long my son“(Di Jiu Tian Chang) vom ebenfalls renommierten Kollegen Wang Xiaoshuai, ist ein Meisterwerk und hätte den Goldenen Bären auch verdient. Immerhin wurden die Schauspielerin Yong Mei und der Schauspieler  Wang Jingchun mit dem Silbernen Bären als Beste Darsteller ausgezeichnet.

Film-Still aus dem Film: zian chang | “ So long, My son” Berlinale, CHN 2019,  Regie: Wang Xiaoshuai, Ai Liya, Xu Cheng, Li Jingjing, Yong Mei, Wang Jingchun, Qi Xi, Sektion: Wettbewerb © Li Tienan / Dongchun Film

Sie verkörpern das Elternpaar, dessen Sohn beim Spielen im Rückhaltebecken eines Staudamms ertrinkt. Sie adoptieren einen Jungen, dem sie den Namen des verstorbenen Sohnes geben. Aber er verweigert sich den fremden Eltern und verschwindet. Aber sie geben die Hoffnung nicht auf, ihn wiederzufinden. Erneut wird Liyun schwanger, wird aber zur Abtreibung gezwungen, schließlich habe sie ja schon ein Kind. Ausgerechnet die Beauftragte für Familienplanung, deren Sohn damals seinen Freund ins Wasser stieß, zwingt sie zur Abtreibung. Das sind Szenen, die unter die Haut gehen.

Ich sah den Film, bevor die Absage von „One second“ kam. Im Mittelpunkt steht hier die Ein-Kind-Politik Chinas, die seit Ende der 70er Jahre durchgesetzt wurde und heute skurrile Folgen hat. Es gibt einen gewaltigen Männerüberschuss. 34 Millionen mehr Männer als Frauen sollen angeblich in China leben. An Familiengründung ist daher nicht zu denken. Immer wieder war ich erstaunt über Szenen, die China in kein gutes Licht stellen. Der drei Stunden dauernde Film, der zum Teil in der Metallwerkstatt von Vater Yaojun und später nach dem Weggang der Eltern in der Metallfabrik spielt, schildert das tägliche Leben im Laufe von drei Jahrzehnten – ein großartiger historisch-gesellschaftlicher Bilderbogen.

„Wir warten darauf, alt zu werden.“ Dieser bittere Satz verdeutlicht die Lebenswahrheit von Yaojun und Liyun. Der Regisseur Wang Xiaoshuai ist ein Pionier unabhängigen Filmschaffens. 1994 wurde er erstmals ins Forum der Berlinale eingeladen. Bereits zweimal war er im Wettbewerb dabei. Für seinen Film „Beijing Bicycle“  (Shi qi sui de dan che) von 2001 gab ihm die Jury den „Großen Preis“ und für sein Drehbuch „In Love We Trust“(Zuo You) den Silbernen Bären. Auch in Cannes war er erfolgreich. Das französische Kulturministerium verlieh ihm den Ordre des Arts et des Lettres.

Film-Still aus: „Synonymes“  Berlinale“, Land: FRA/ISR/DEU 2019, Regie: Nadav Lapid,Quentin Dolmaire, Tom Mercier, Louise Chevillotte,Sektion: Wettbewerb,© Guy Ferrandis / SBS Films

Die Jury unter der Leitung der französischen Schauspielerin Juliette Binoche vergab den Goldenen Bären an die israelisch-französische Produktion „Synonymes“ von Nadav Lapid. Auch die  FIPRESCI JURY (Féderation International de la Presse cinématographique) entschied sich dafür. Sicher ein besonderer Film mit erfrischend-grotesken Szenen. Er zeichnet die Geschichte des Regisseurs nach, der vor 20 Jahren Israel verließ und in Frankreich Heimat suchte. Er wollte seine israelische Identität aufgeben. „Heimat ist dort, wo die Rechnungen ankommen“, sagte einst Heiner Müller. Lapids Rechnungen kommen seit einiger Zeit wieder nach Tel Aviv.

Der junge Israeli Yoav klopft in Paris an die Tür einer Wohnung, die leer steht. Während er ein Bad nimmt, werden seine Sachen gestohlen. Ein junges französisches Paar aus der Nachbarwohnung kommt ihm zu Hilfe. Sie werden Freunde, aber die Freundschaft bekommt im Laufe der Zeit Kratzer. Er zieht in eine karge Wohnung, isst Tag für Tag Nudeln mit Tomatensoße und Chips und verdingt sich als Nacktmodel. So schnell wie möglich will er seine israelische Staatsbürgerschaft loswerden und auch kein Hebräisch mehr sprechen. Das französische Wörterbuch begleitet ihn ständig. Wenn er unterwegs ist, murmelt er Vokabeln und Redewendungen vor sich hin. Die notwendigen Besuche in der israelischen Botschaft nerven ihn. Franzose zu werden und so die Erlösung zu finden, ist sein Wunsch. Aber das ist nicht so einfach. Der Einbürgerungstest ist frustrierend.

Es bleibt so Vieles rätselhaft in dem Film, vor allem: warum verließ Yoav Israel, und was bewog ihn im Endeffekt, wieder nach Israel zurückzukehren? Vermutlich könnte der Antisemitismus, der auch in Frankreich beunruhigende Formen angenommen hat, eine Ursache sein, aber Yoav kommt insgesamt mit der Mentalität der Menschen nicht zurecht. Vermutlich findet er keinen Ort, an dem er sich nicht als Außenseiter empfindet.

Tom Mercier spielt die Rolle brillant und einige Szenen, vor allem die bei der Einbürgerungsstelle, tragen starke satirische Züge. Was will Regisseur Nadav Lapid uns sagen? Dass es schwierig ist, in einem anderen Land Wurzeln zu schlagen? Die Migrationssatire jedenfalls ist in der augenblicklichen Lage nicht gerade hilfreich und ein wenig zweischneidig, da ohnehin soviel Migranten verzweifelt sind. Obwohl der Ansatz des Filmes interessant war, hatte er in manchem schlicht groteske Züge.

Der Bär – das Symbol von Berlin, Foto: Renate Feyerbacher 

Ein weiterer französischer Film wurde ausgezeichnet: „Grace à Dieu“ von François Ozon empfing den Silbernen Bären. Großer Preis der Jury. Ein hochaktueller Film, der sich mit dem Missbrauch durch katholische Priester auseinandersetzt. Soeben wurde der Lyoner Kardinal Philippe Barberin wegen ‚Nichtanzeige‘ sexueller Straftaten eines Priesters zu sechs Monaten Bewährungsstrafe verurteilt. Über seinen Rücktritt muss der Papst entscheiden.

Geklagt hatten zehn Männer, die als Pfadfinder von Pater Bernard Preynat missbraucht worden waren. Insgesamt sollen es etwa 70 betroffene Jungen gewesen sein. Viele schlossen sich in der Selbsthilfeorganisation „La Parole Libérée“(„Das befreite Wort“) an. François Ozon porträtiert die Opfer, die noch als Erwachsene unter den Verletzungen leiden und fragt nach der Mitschuld der Kirche.

Bekannt ist der Regisseur, der schon viermal bei der Berlinale dabei war und 2012 in der Jury saß, wegen seiner Komödie „8 femmes“. Dafür gab es den Silbernen Bären für das Schauspielerinnen-Ensemble. Mit Charlotte Rampling, der in diesem Jahr der Goldene Ehren-Bär für das Lebenswerk überreicht wurde, produzierte er vier Filme, darunter „Swimmingpool“.

„Systemsprenger“ hat die junge Regisseurin Nora  Fingscheidt ihren außergewöhnlichen Film betitelt, für den sie den Silbernen Bären Alfred-Bauer-Preis entgegennahm, was auch die Leserjury der Berliner Morgenpost begeisterte. Sie ist auch nicht neu auf der Berlinale. Für  ihren Studien-Abschlussfilm „Ohne diese Welt“ wurde sie 2017 mit dem Max-Ophüls-Preis geehrt.

Es geht um ein schwer erziehbares Kind, grandios von Helena Zengel dargestellt, die heute 11 Jahre ist. „Systemsprenger“ werden Kinder und Jugendliche genannt, die sich nicht in das soziale Miteinander eingliedern lassen, und die alle Regeln durchbrechen. Oft werden sie von einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe zur andern weitergereicht. Oft werden sie obdachlos oder sogar straffällig. Die in Braunschweig geborene Filmemacherin hat eine solche Jugendliche erlebt und jahrelang recherchiert, um das Drehbuch zu schreiben.

Bewusst hat sie die Rolle der Benni mit einem Mädchen besetzt, obwohl vor allem Jungen zu den Systemsprengern gezählt werden. Natürlich ist das Verhalten solcher Kinder und Jugendlichen nicht angeboren. Es sind meist die familiären, sozialen Umstände, die zu ihrem Fehlverhalten führen. Benni sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit und danach, wieder bei der Mutter, die sich aber vor ihr fürchtet, leben zu können. Die Bemühungen der Erzieher*innen und Psychologen*innen, diesen Kindern und Jugendlichen Perspektiven zu schaffen, ihnen Vertrauen zu vermitteln, werden gewürdigt. Nie weiß der Zuschauer, woran er bei Benni ist. Perfekt spielt Nora Fingscheidt  mit dem Wechselbad der Gefühle, in das sie die Zuschauer taucht. Ein Beitrag mit viel menschlicher Wärme – eine echte Entdeckung!

Kollegen, mit denen ich sprach, wünschten, dass eine der Hauptpreise in die Hände von Angela Schanelec für„Ich war zuhause, aber“ gelangten. Die deutsche Professorin für Narrativen Film in Hamburg wurde denn auch mit dem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet.

In ihrem Film geht es um Astrid und um ihren 13jährigen Sohn, der nach einer Woche des Verschwindens wortlos wieder auftaucht, um ein Fahrrad, und um die Sinnkrise einer Frau, deren Mann, einen vor zwei Jahren verstorbenen Theaterregisseur. Ob das Verschwinden des Jungen mit dem Tod des Vaters der mit dem Verhalten der Mutter zusammenhängt, wird nicht geklärt. Astrid selbst, die im Berliner Kulturbetrieb arbeitet, hat den Verlust des Ehemannes noch nicht verarbeitet und rastet gegenüber ihren Kindern aus. Zeitweise zerfällt das Familiengefüge und bildet sich wieder neu. Eingerahmt ist das Geschehen von den Proben einer Schulklasse zu Shakespeares „Hamlet“.

Mir war das Gespräch über Kunst zu lang und zu kopflastig, die Gespräche beim Kauf eines kaputten Fahrrads zeigen sich unendlich hin, ebenso die Schulszenen mit Hamlet. Und was der Esel am Ende sollte, habe ich gar nicht verstanden. Der Film ließ mich kalt und ziemlich ratlos zurück.

Film-Still aus: „La paranza dei bambini“, | Piranhas, ITA 2018, Regie: Claudio Giovannesi, Francesco Di Napoli, Luca Nacarlo, Viviana Aprea, Sektion: Wettbewerb © Palomar 2018

Roberto Savianos erster Roman „Der Clan der Kinder“, der 2018 in Deutsch erschien, war die Grundlage für das Drehbuch des Films „La paranza dei bambini“ (Piranhas), das mit dem Silbernen Bären gefeiert wurde. Saviano, der unter Polizeischutz steht, wurde berühmt durch sein Buch Gomorrha, das eine Fernsehserie nach sich zog.

Zehn Jungen rasen ständig mit ihren Motorrollen durch die engen Gassen ihres neapolitanischen Viertels. Jugendliche Draufgänger, dessen Anführer, der fünfzehnjährige Nicola, mitbekommt, wie seine Mutter den mafiösen Geldeintreibern zu Diensten sein muss. Das könnten sie, die Jugendlichen, doch auch. Ihm gelingt es, seine Truppe von Gleichaltrigen schwer zu bewaffnen, um die alten Bosse zu entmachten. Sie wollen Reichtum und Macht und gehen über Leichen. Vorzüglich ist das Spiel der  jungen Laiendarsteller, die Regisseur Claudio Giovannesi agieren läßt. Und beängstigend der Blick auf die Jugendgangs.

Über dreißig Filme hat die große polnische Filmemacherin Agnieszka Holland  bisher gedreht. Im Wettbewerb der Berlinale ist sie mit „Mr Jones“ vertreten. Darin erzählt sie die wahre Geschichte des walisischen Journalisten Gareth Jones. Sein Verhältnis zu Hitler, den er sogar interviewt hatte, und zu Goebbels wurde als freundschaftlich verbunden bewertet.

1933 war Gareth mit dem Zug in die Ukraine gefahren, um den Massenmord an der ukrainischen Bevölkerung durch Stalin zu beweisen, der das Land ausbeuten und das Volk verhungern ließ. Nach Deutschland zurückgekehrt, spricht Gareth auf einer Pressekonferenz über die Hungersnot.

In Timothy Snyders Buch „Bloodlands:Europa zwischen Hitler und Stalin“ (C.H.Beck, 2011) wird Gareth folgendermaßen zitiert: „Ich sah eine Hungersnot gewaltigen Ausmaßes. Viele Menschen waren aufgequollen vor Hunger. Überall hörte ich Sätze wie ‚Wir warten auf den Tod‘. Ich schlief neben verhungernden Kindern auf dem Lehmboden. [..] Manche waren so schwach vor Hunger, dass sie nicht ohne Hilfe Anderer stehen konnten.“

Gareths Gegenspieler war der englische Journalist, Pulitzer-Preisträger und Stalin-Freund, Walter Duranty, der Gareths Berichte für Fakes hielt und gegen ihn anschrieb. Sehr komplex und teilweise undurchsichtig ist das weitere historische Geschehen. Feststeht, dass Gareth Jones zwei Jahre später, noch keine dreißig Jahre alt, in China ermordet wurde.

Sicher ein wichtiges Thema, das Agnieszka Holland da bearbeitet und es auch schafft, sich in dieser angespannten politischen Situation zwischen der Ukraine und Russland dafür zu interessieren. Allerdings ist der Film gelegentlich zähflüssig.

„Der Boden unter den Füßen“ der Österreicherin Marie Kreutzer zeigt die Charakterstudie von Lola, einer Workaholikerin, die niemandem von der Existenz ihrer älteren Schwester erzählt, die unter Schizophrenie leidet. Nach einem Suizidversuch der Schwester will Lola für sie da sein. Zerrissen zwischen Leistungsdruck und Geschwisterliebe, geprägt von Chaos, Aufstieg und Absturz, bewegen sich Lola und Conny. Schauspielerisch eine beachtliche Leistung. Ein Beitrag zum Thema Geschwisterliebe, der einen zwingt, die eigene Position zu hinterfragen.

Das Regiedebüt„Marighella“ des Brasilianers Wagner Moura sah ich aus persönlichen Gründen. Ich wollte wissen, was geschah, nachdem 1964 die gewählte Regierung in Brasilien aus dem Amt gefegt und durch eine Militärdiktatur ersetzt wurde, die 21 Jahre anhielt.

In den siebziger Jahren rief mich Amnesty International an und bat mich darum, mich um den Journalisten Alaim Araújo, der soeben aus dem brasilianischen Foltergefängnis kam, zu kümmern. Später wurde er ein Freund der Familie. Er war kritischer Journalist und gehörte zu keiner Terrorgruppe. Übel hatte man ihn zugerichtet. Das Resultat: eine Skoliose.

Carlos Marighella (1911 bis 1969), von dem das Biopic handelt, war Mitglied der kommunistischen Partei und Bundesabgeordneter seines Heimatstaates Bahia. Während der Militärdiktatur wurde er zum Revolutionär und schrieb das Minihandbuch des Stadtguerilleros, das 1970 auch in Deutschland erschien.

Ich kann nicht beurteilen, inwieweit die historischen Fakten im Film stimmen. In der Pressekonferenz hatte Regisseur Wagner Moura über seine Intention gesprochen:„Natürlich ist das ein Film über die, die damals Widerstand geleistet haben. Aber es ist auch ein Film für die, die heute Widerstand leisten: die LGBT-Community, die Schwarzen aus den Favelas, die indigene Bevölkerung. All diese Gruppen, die garantiert noch sehr viel mehr Probleme mit dieser Regierung bekommen werden.“ Auch, wenn der Film in den 60er Jahren spielt, so sieht der Regisseur Parallelen zur jetzigen Regierungssituation. Jair Bolsonaro, der jetzige Präsident, gilt als rechter Hardliner. Frauen, Schwarze und Homosexuelle werden von ihm verhöhnt. In einem Fernsehinterview sagte er 1999: „Ich bin für die Folter. Und das Volk ist auch dafür.“

Viele  brasilianisch-portugiesisch sprechende Zuschauer, die in den Berliner Friedrichstadt-Palast gekommen waren, zollten dem Film einen entsprechend großen Beifall. Einwände gegen den Film, der außer Konkurrenz lief, sind seine unnötige Länge vor allem in den letzten Folterszenen.

Hessische Wissenschafts- und Kulturministerin Angela Dorn mit Moderator Knut Elstermann

Zum Schluss noch ein Blick auf den Berlinale-Empfang des Landes Hessen mit der neuen Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn. Sie wolle, so sagte sie, gemeinsam mit der Branche die Herausforderungen der nächsten Jahre angehen. Und die gibt es. Denn 2018 war ein schlechtes Kinojahr. Noch nicht einmal 100 Millionen Menschen hatten im vergangenen Jahr ein Kino besucht.

Rudolf Worschech, leitender Redakteur des Magazins epd film sieht verschiedene Gründe dafür: eine Umfrage habe ergeben, dass die Besucher ein schöneres Kino-Ambiente erleben wollten. Außerdem hält er die ‚Filmflut‘ – allein 600 Filme starteten im letzten Jahr – für problematisch.

Auf dem Empfang übergab Rudolf Worschech den epd Film-Leserpreis für „In den Gängen“ von Thomas Stuber..

Thomas Stuber am 12.2. 2019, Foto: Renate Feyerbacher

Clemens Meyers gleichnamiger Roman, der vom Alltag und der Arbeit in einem Getränkegroßmarkt erzählt, war die Vorlage für diesen großartig besetzten Film mit Sandra Hüller, dieses Jahr in der Hauptjury der Berlinale, und Franz Rogowski, der auch in Christian Petzolds Transit nach Anna Seghers gleichnamigem Roman agiert. Dieser Film erreichte in der Leserumfrage den 2. Platz und Rogowski gefiel als Bester Schauspieler.

Fazit: die diesjährige Berlinale hatte den einen oder anderen Höhepunkt, aber nicht den Glanz früherer Jahre. Es waren Beiträge im Wettbewerb wie zum Beispiel „Der goldene Handschuh“ von Fatih Akin. Da habe ich mich gefragt: Was hat sich das Auswahlkomittee dabei nur gedacht?  Auch die Organisation fand ich diesmal nicht so gelungen, da sich einige Termine wichtiger und interessanter Filme überschnitten.

Lag es daran, dass es das letzte Jahr von Dieter Kosslick war, der die Berlinale 18 Jahre lang leitete und nun seinen Abschied nahm?

 

 

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