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FeuilletonFrankfurt

Das Magazin für Kunst, Kultur & LebensArt

PETRA KAMMANN, HERAUSGEBERIN · www.feuilletonfrankfurt.de · GEGRÜNDET 2007 VON ERHARD METZ

Erste Retrospektive der mexikanischen Fotografin Graciela Iturbides in Deutschland im Fotografie Forum Frankfurt

Zwischen Tradition und westlicher Moderne – Magische Momente des Alltags

Fotokennern ist sie schon seit Langem ein Begriff, in den großen Museen ist sie ebenfalls präsent. Die berühmte mexikanische, 1942 geborene Fotografin Graciela Iturbide ist eine Ikone der lateinamerikanischen Fotografie. Aber erst jetzt hat sie in Deutschland ihre erste Retrospektive im Frankfurter Fotografie Forum. Dort sind bis zum 30. Juni 115 ihrer Werke aus der Zeit von 1969 bis 2008 zu entdecken. Sie sind aus der spanischen Mapfre-Stifung entliehen, die kürzlich rund 300 Iturbide-Werke erworben hat.

Von Petra Kammann

Mujer ángel, desierto de Sonora. México, 1979 Angel Woman, Sonoran Desert, Mexico, 1979 © Graciela Iturbide / Colecciones Fundación MAPFRE, 2019 

Die „Engelfrau“ in der mexikanischen Wüste in ihrem traditionellen Kleid und einem Ghettobluster in der rechten Hand ist nur eines der magisch wirkenden Schwarzweiß-Fotos der Fotografin Graciela Iturbide, die den Alltag für uns auf unnachahmliche Weise festhält. Die Frau, deren Gesicht wir nur erahnen können, zieht uns förmlich in die zeitlos wirkende Weite der Landschaft hinein. Der Kassettenrekorder ist es, den sie in der rechten Hand festhält, der uns den zeitlichen Kontext vermittelt, nämlich, dass die vorwärtsstrebende und auf den ersten Blick archaisch wirkende Frau im Hier und Jetzt lebt, aber eben noch in traditionellen Kleidern steckt und ein angebundenes, nicht sichtbares Tier an ihrer linken Hand nach sich zieht. Solch kulturelle Spannungen zwischen Tradition und westlicher Moderne macht die Fotografin in vielen ihrer Bilder sichtbar, vor allem auch in ihrem größer angelegten Projekt ab Ende der 1970er Jahren mit den indigenen Seri-Indianern in der Sonora-Wüste.

Tradition und ihre Brüchigkeit, Glaube, Kultur und Tod gehören für Graciela Iturbide zu den zentralen Themen. Sie selbst ist auch persönlich geprägt durch eine entsprechende Erfahrung. Jung verheiratet und als Mutter dreier kleiner Kinder, hat sie 1970 ihre Tochter im Alter von sechs Jahren verloren, was zweifellos bei ihr eine Lebenskrise auslöste, aus der sie sich nur mit Hilfe der Fotografie befreien konnte. Dennoch bleibt der Tod als existenzielle Erfahrung in all ihren Bildern stets präsent. Der schmale Grat zwischen Tod und Leben als Motiv schimmert jedenfalls in den verschiedensten Varianten ihrer Schwarzweiß-Fotos durch, gleich ob in ihrer Straßenfotografie und bei ihren Streifzügen über die Märkte von Mexiko-City, in ihrer Landschaften- und Objekte-Serie, in den Fotos mit den bedrohlichen Vogelschwärmen oder denen, welche die zurückgebliebenen Außenseiter der Gesellschaft abbilden, etwa in ihrer Reihe über die indigenen Völker Lateinamerikas, über die Streetgamer in Los Angeles, in ihren Selbstporträts oder in den Szenen im Badezimmer von Frida Kahlo.

 

Blick in die Ausstellung im Fotografie Forum, Foto: Petra Kammann

Nach dem Tod ihrer Tochter hatte die streng katholisch erzogene Graciela zunächst ein Filmstudium aufgenommen. Inspiriert von ihrem Lehrer Manuel Álvaro Bravo aber, dem Pionier der künstlerischen Fotografie in Mexiko aus dem Umkreis von Tina Modotti, Frida Kahlo und Diego Riviera, entdeckte sie aber schon bald die Kamera als Aussagemöglichkeiten für sich selbst. Angeregt durch Gespräche mit ihm, beschäftigte sie sich intensiv mit dem Leben der Bauern sowie mit der stigmatisierten Kultur der indigenen Völker in ihrem Heimatland. Ihre schwarzweißen Bilder mit ihrer eindrücklichen Bildsprache machen die Mexikanerin Graciela Iturbide schnell berühmt, weil sie die menschliche Existenz in allen Schattierungen zeigt. Dazu zählen auch ihre frühen Projekte über die Frauen von Juchitán und die Seri-Indianer.

Immer verbindet sie eine tiefe Beziehung zu den von ihr fotografierten Menschen, deren Umgebung und kulturelle Eigenheiten. So reiste Graciela Iturbide etwa zwischen 1979 und 1988 immer wieder in die mythische Stadt Juchitán –  Heimat der antiken Hochkultur der Zapoteken und heute bekannt für die Dominanz der Frauen im südmexikanischen Staat Oaxaca. Dort lebte die Fotografin zeitweise sogar selbst in einer matriarchalen Gemeinschaft, um zunächst einmal ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Juchitán de las Mujeres (Juchitán of Women), zu den Frauen, aufzubauen. Nur so konnte sie deren tief verwurzelte Unabhängigkeit und würdevolle Stärke erspüren, um sie dann angemessen porträtieren zu können, was ihr deshalb gelang, weil die Frauen die Fotografin nicht als Fremdkörper empfanden und sich auch von ihr fotografieren ließen.

Von der Freundschaft zwischen den Kulturen erzählen ihre wunderbar komponierten Schwarzweiß-Fotos in vielfachen Variationen wie auch von der Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens überhaupt. Und das mit bisweilen ungewöhnlichen visuellen Metaphern. Da schwebt zum Beispiel ein Vogel wie ein Todesbote über einem entblätterten Baum, an dessen fragilen Ast nur noch eine einsame Jacke hängt. Dazu gehören aber ebenso auch die dramatisch-theatralischen Szenen bei den religiösen fast karnevalsartigen Feiern und Totenritualen in den Straßen Mexikos oder Szenen wie die Streetgangs in Los Angeles in den 198oer Jahren mit ihrem übersteigerten Körperkult oder aber die Transvestitenfrauen, die sich auf dem Markt verkaufen. Voller Vertrauen schauen sie direkt in die Kamera. Daneben sind es immer wieder auch die poetisch anmutenden kargen Landschaften oder die Botanischen Gärten von Oaxaca, in denen die gezähmte Natur äußerst verletzlich wirkt, und nicht zuletzt die immer wiederkehrenden Vogelschwärme, welche die Fotografin faszinieren, sei es in Mexico oder auch in anderen Ländern, die sie später ebenfalls bereiste wie zum Beispiel Indien.


Khajuraho, India, 1998 © Graciela Iturbide / Colecciones Fundación MAPFRE, 2019

Eine weitere Besonderheit in der Ausstellung sind die Aufnahmen, die in dem ansonsten unzugänglichen Haus der Frida Kahlo entstanden sind. 2006 bekam Graciela Iturbide als Erste die Erlaubnis, eines der Badezimmer im Haus von Frida Kahlo zu fotografieren. Über Objekte und Utensilien wie das stramme Korsett, unter dem Frida Kahlo Qualen nach ihrem Unfall litt, nähert sie sich der Malerin, die in Mexiko wie ein Heiligtum verehrt wird, und sie sucht den Dialog. In dem seit 1954 im Jahre von Kahlos Tod  geschlossenen Raum, legt sie sich bewusst in die beengte Wanne und fotografiert dabei ihre eigenen Füße, um ein Gefühl der Enge zu erfahren. So kommt sie der abwesenden Malerin über die Identifikation mit den Gegenständen und über den Schmerz künstlerisch nahe. Außerdem holt sie in einem weiteren Bild auch ein Stück Zeitgeschichte mit in die Szenerie. In dem verlassenen Raum hängt über alten Blechdosen noch ein Teil eines Plakats von Stalin an der Wand. Ob Iturbide es kritisch oder dokumentarisch sieht, das sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist auch dieser Diktator Teil eines wenig angepassten Lebens der Frida Kahlo…

Ojos para volar, Coyoacán, 1991 Eyes to fly with? Coyoacán, 1991 © Graciela Iturbide / Colecciones Fundación MAPFRE, 2019

In von Iturbides Selbstporträts, die zwischen 1979 und 2006 und vor allem nach der Trennung von einem Freund entstanden sind, stellte sich die Fotografin die Frage: Wer bin ich? Indem sie ihr Gesicht fast surreal „dekoriert“, entdeckt sie dabei auch die verschiedenen Facetten ihrer eigenen Persönlichkeit und trägt so ihre Obsessionen sichtbar nach außen. Da hält sie sich mal einen toten und einen lebendigen Vogel vor die Augen, mal stilisiert sie sich vor einem Totenkopf, in dessen Augenhöhlen Krankenbetten und in der Nasenhöhle ein Sarg den Hintergrund bilden. In der mexikanischen Bilderwelt wird der Tod auch generell immer in das Leben einbezogen. Weswegen bei Beerdigungen auf dem Friedhof mit farbigen Skeletten getanzt und gefeiert wird. Nicht zuletzt deshalb ist der Tod ebenfalls in der Fotografie präsent, weil er stets neues Leben hervorruft. „Photography is a pretext to discover“, lautet Graciela Iturbides Credo, indem sie die Fotografie als poetische Erschließung der Welt, ganz nach dem Vorbild des französischen Fotografen Brassaï, erlebt. Sie bannt mit ihren Fotos auf jeden Fall lebendige Szenen auf ihre Filmstreifen.

Celia Lunsford, die Künstlerische Leiterin des Fotografie Forums Frankfurt und Kuratorin der aktuellen Ausstellung, Foto: Petra Kammann

Die beiden Verantwortlichen des Fotografie Forum Frankfurt, Celia Lunsford, Künstlerische Leiterin und Kuratorin der Ausstellung, wie auch die Geschäftsführerin Sabine Seitz, sind überglücklich. Im 35. Jahr des Fotografie Forums, das vor genau 5 Jahren seine Räumlichkeiten in der ersten Etage der Braubachstraße bezogen hat, diese besondere Schau präsentieren zu können. Dabei wurden von 1984 bis 2019 über 250 etliche bedeutende Ausstellungen veranstaltet. Auftakt war damals die erste Ausstellung der in Frankfurt lebenden FAZ-Fotografin Barbara Klemm. Auch sie eine Künstlerin der Schwarzweiß-Fotografie. Ihr sollten viele internationale bedeutsame Fotografen folgen. Das Fotografie Forum hätte also allen Grund dies zu feiern.

Abgesehen davon bietet die FFF-Akademie ein umfangreiches Programm zur Information und Weiterbildung durch Fotografen und Fotokünstler an und fördert durch seine Workshops, Symposien und Vorträge das Medium “Fotografie“ über die besonderen Ausstellungen hinaus als universelle visuelle Ausdrucksweise. In der FFF-Reihe “Photography Players. International specialists featuring upcoming talents“ werden – durch die Kuratorin – junge vielversprechende Fotografen und Fotokünstler vorgestellt. FFF Junior ist ein Kulturvermittlungs-Programm von verschiedenen Formaten, zwischen kostenlosen Führungen für Schulklassen bis hin zu deren Lehrern, sowie Tages-Workshops oder mehrtägigen Ferienkursen. Ein strammes Programm, das vor allem auch von viel persönlichem Engagement der Verantwortlichen und mit einem kleinem Etat lebt. Daher wünschen wir dem Museum jede erdenkliche Förderung und herzliche Gratulation zu der Jubiläumsausstellung

Graciela Iturbide – Biographisches

Graciela Iturbide, Tochter einer traditionellen katholischen Familie, studierte zunächst Film an der Nationalen Universität Mexico City. Inspiriert von ihrem Lehrer Manuel Álvaro Bravo entdeckte sie die Fotokamera für sich. Zugleich war die Fotografie für sie ein Weg, den Tod ihrer sechsjährigen Tochter zu verarbeiten. Iturbides Arbeiten wurden in aller Welt gezeigt und vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem W. Eugene Smith Fund Grant (1987), dem International Grand Prize of the Museum of Photography in Hokkaido, Japan (1990) und dem renommierten Hasselblad-Award (2008). Graciela Iturbide lebt und arbeitet im Künstlerviertel Coyoacán in Mexico-City.„Graciela Iturbide“ bis 30. Juni im Fotografie Forum Frankfurt, geöffnet Dienstag und Donnerstag bis Sonntag, 11-18 Uhr, Mittwoch, 11-20 Uhr.

Außerdem ist zur Ausstellung ist eine Begleitpublikation erhältlich: GRACIELA ITURBIDE. Mit Texten von Marta Dahó, Juan Villoro und Carlos Martín García. 2018, Fundación MAPFRE, Madrid; Englisch, 292 S., ISBN-10: 8417047700. 

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